Der Ehrgeiz siegt. Grünen-Fraktionschef Winfried Kretschmann höhnt: "Das Ressort wird zur Besenkammer für eine Ministerin, die Oettinger eigentlich nicht mehr will." Wird es nicht. Gönner will Spuren hinterlassen, sorgt alsbald für Aufsehen mit ihrem erfolgreichen Alleingang zu einem Erneuerbare-Wärme-Gesetz. Ab 2008 muss jedes neu gebaute Wohngebäude in Baden-Württemberg mindestens 20 Prozent seines Wärmebedarfs aus erneuerbaren Energien decken, ab 2010 Altbauten zehn Prozent. Hausbesitzer schäumen, als überehrgeizig wird sie in den eigenen Reihen diffamiert. Jetzt gibt es Applaus von Grünen und Umweltverbänden. "Ich glaube, dass man sich in manchen Fragen von gewohntem parteipolitischem Denken verabschieden sollte", meint sie damals stolz. Es sei ihr einfach darum gegangenen, das Problem im "guten Miteinander von Ökonomie und Ökologie zu lösen".
Die Tochter eines Fußball-Schiedsrichters, die schon mal Veranstaltungen frühzeitig verlässt, um ein Spitzenspiel nicht zu verpassen, macht Männern mittlerweile Angst, vor allem solchen, die sich in der tief gespaltenen Partei zum Oettinger-Lager zählen. Viele reden hinter vorgehaltener Hand schlecht über sie. Gern wird auch bei ihr mit zweierlei Maß gemessen: Politiker in Führungspositionen gelten als energisch, engagiert, durchsetzungsfähig, Politikerinnen als rigoros, überehrgeizig, karrieregeil. "Zicke", zischt ihr im Landtag ein CDU-Abgeordneter hinterher, nachdem sie in den eigenen Reihen den von ihr betriebenen Beschluss der Landesregierung verteidigen muss, ab sofort für Flugreisen eine Klimaabgabe zu zahlen. "Dabei ist sie gar keine Blondine!", ergänzt ein zweiter. Die Mehrzahl der anwesenden Männer hält dies für eine gelungene Pointe.
Ein Stammplatz in Merkels Girl's Camp ist ihr sicher
Gönner, die schon mit 16 der Jungen Union aktiv war, kann das alles egal sein. In Angela Merkel legendärem "Girls' Camp" hat sie längst einen Stammplatz. Berliner Auguren sagen ihr die Rückkehr voraus und eine bundespolitische Karriere. Dann allerdings kommt alles ganz anders. Oettinger muss auf allerhöchsten Wunsch der Kanzlerin nach Brüssel. Sein Nachfolger Mappus setzt auf Gönner. Die Zukunft scheint rosig. Sie wird zur "ungekrönten Nummer zwei der Landespolitik" (Focus), ist zupackend, selbstbewusst und schon bald der kühnen Idee verfallen, Stuttgart 21 nicht nur zu verteidigen, sondern es den im Laufe des Jahres 2010 immer zahlreicher werdenden Skeptikern doch noch schmackhaft zu machen. Eine "zivilcouragierte Offensive" schwebt ihr vor, "die der Emotionalität der Gegner etwas entgegenzusetzen hat".
Die frühere Leichtathletin traut sich zu, zuerst den bürgerlichen Protest der Stuttgarter Halbhöhenlage und dann noch viele andere wieder einzufangen, wie sie selber sagt. Sie drückt Kritisches zur Seite, will nicht wahrhaben, wie die Bahn trickst, bleibt von Gegenargumenten notorisch unbeeindruckt, auch wenn die mit noch so vielen belastbaren Zahlen unterfüttert sind. Der heutige Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne), der mit ihr im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung saß, liefert später eine ungewöhnliche Erklärung: "Der scharfe Verstand müsste sie eigentlich zur Ablehnung von Stuttgart 21 bringen." Weil diese Haltung aber nicht vorgesehen sei im CDU-Meinungsspektrum, "reagiert sie dauernd über".
Schon im Sommer 2010 wächst ihr kein besonders freundlicher, aber bezeichnender Spitzname zu: "schwarze Mamba". Und das ist treffender, als manche Kritiker glauben, denn die längste aller afrikanischen Giftschlangen beißt nur in den seltensten Fälle der Selbstverteidigung. Alle anderen Probleme löst die Einzelgängerin mithilfe zischender Drohgebärden – bis sich der Feind in die Büsche schlägt.
Mappus hat sich zunächst wenig für Stuttgart 21 interessiert
Vom Vorplatz des Nordflügels, aus dem Stuttgarter Schlossgarten, von den Montagsdemos zieht sich aber niemand zurück. Ganz im Gegenteil: Es werden immer mehr, und sie werden immer lauter. Am 28. Juli erfinden Walter Sittler und Volker Lösch die Schwabenstreich genannte Lärmminute. Premiere ist am Tag einer Regierungserklärung von Mappus. Der Ministerpräsident spricht über die Krise und über neue Wachstumsmärkte, über Elektromobilität und den Ausstieg aus dem Atomkraftausstieg, die Gesundheitsbranche, den eigenen Aufstieg durch Bildung. Stuttgart 21 kommt gar nicht vor, die Neubaustrecke ein einziges Mal. Keine Leidenschaft, keine Auseinandersetzung mit Einzelheiten, keine Erläuterung seines bemerkenswerten Satzes, er sei gegen Kostensteigerungen um jeden Preis. Für das alles ist anderntags seine Umwelt- und Verkehrsministerin zuständig.
Wolfgang Drexler (SPD), damals Projektsprecher, erinnert sich, dass der Regierungschef sich wenig interessiert hat für die vielen Gespräche vor und hinter den Kulissen, dass stattdessen Gönner "immer bestens vorbereitet argumentiert" hat. Natürlich für das Projekt und dafür, die Kostensteigerungen zu akzeptieren, weil ja auch andere Vorhaben immer teurer würden als geplant. Sie ist längst auf dem Apologetentrip. Sie rechtfertigt falsche Fakten und rechnet Zugfrequenzen schön, sie stellt die Ohren auf Durchzug, als die Bahn Eckpfeiler ihrer bisherigen Argumentation umwirft, etwa zum Güterverkehr auf der Neubaustrecke oder zur Wendlinger Kurve.
In diesen Hochsommer-Wochen müssten auch jene gerade bekannt gewordenen Sätze gefallen sein, die ein Beamter in einer Notiz dem Stuttgarter Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf als Mappus-Zitate zuschreibt. "Bringen Sie den Bagger rein", soll der in einer Besprechung vor dem Abriss des Nordflügels gesagt haben. Und weiter: "Wenn Sie nicht wollen, hole ich eine Polizei aus einem anderen Land." Am 13. August beginnen die Vorarbeiten zum Abriss des Nordflügels, am 19. in den frühen Morgenstunden rollt das 60 Tonnen schwere Gerät tatsächlich heran. Gönner dürfte Genaueres wissen. Denn derselbe Beamte schreibt von Vorschlägen der Polizei und der beiden Ministerialdirektoren aus Verkehrs- und Innenministerium, die von den maßgeblichen Leuten "vom Tisch gewischt" worden seien.
Die Debatte um einen Baustopp beginnt – die Bahn torpediert
Ende August tut sich mit einem Mal eine Gelegenheit auf. "Die Proteste gegen S 21 waren zu diesem Zeitpunkt zu einer Bürgerbewegung gewachsen, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat", schreiben SPD und Grünen in ihrer Bewertung der Ergebnisse im ersten Schlossgarten-Ausschuss. Nach dem Baggerbiss auf 25. August hatte der Widerstand einen neuen Höhepunkt erfahren. Und – oh Wunder! – Mappus nimmt Kontakt mit Kretschmann auf. Am 30. August laden die beiden gemeinsam zu Gesprächen. Vor und hinter den Kulissen beginnt ein Tauziehen um einen Baustopp. Gönner wird später erzählen, dass sogar die Sitzordnung schon ausgetüftelt war.
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Insider
am 30.01.2015