In den letzten zwei Jahren seines Lebens hat man ihn manchmal zornig erlebt. Das war sehr ungewöhnlich für Wolfgang Borgmann. Zorn bricht aus, wenn das Gespräch nicht mehr weiterführt. Doch Gespräche zu einem Ziel führen, das konnte er wie kaum ein anderer. Wolfgang Borgmann, Journalist, 45 Jahre lang Redakteur der "Stuttgarter Zeitung", Begründer des Wissenschaftsressorts jener Zeitung und dreißig Jahre lang dessen Leiter, war ein Meister des Zuhörens, und seine schärfste Waffe war die Rückfrage. Wenn er, ob innerhalb der Redaktion oder im Gespräch mit einem der vielen Menschen, die er interviewt und in der Zeitung vorgestellt hat, bekannte, dass er etwas nicht verstehe, wenn er um Erläuterung bat, dann konnte dahinter ein tiefer Widerspruch lauern. Dann konnten, wenn der Gesprächspartner sich darauf einließ, weitere Fragen folgen, hartnäckige Fragen, aber stets gestellt mit respektvoller Höflichkeit und mit entwaffnender Freundlichkeit. Am Ende war das Ergebnis immer eine Klärung, was in der Redaktion hieß: ein besserer, verständlicherer Text.
Wolfgang Borgmann war nicht nur von Beruf Journalist, zu dessen vornehmsten Aufgaben es ja gehört, klärende Fragen zu stellen. Die Neugier auf Menschen, auf ihr Tun und ihre Motive war Teil seines Wesens. Nach dem Studium der Politik- und der Volkswirtschaft, nach Auslandsaufenthalten in England und den USA, selbstverständlich als Journalist, hat er in der "Stuttgarter Zeitung" seine berufliche Heimat gefunden, zunächst im Ressort Außenpolitik. Wir haben uns erst sehr viel später kennengelernt. Deshalb ist es nur eine Vermutung: Schon damals muss "bob", wie alle ihn wegen seines Kürzels in der Zeitung nannten, die Zeitungsredaktion als eine Versammlung kreativer Menschen verstanden haben, die ihrem Auftrag am besten dann gerecht wird, wenn man ihr die Freiheit lässt, die Verantwortung für ihr Produkt zu übernehmen. Jedenfalls war er dabei, als die Redaktion in den siebziger Jahren gegen veränderte Arbeitsbedingungen aufbegehrte und mehr Entscheidungsbefugnis einforderte.
Der nostalgische Blick zurück auf vergangene Zeiten war jedoch seine Sache nicht. bob blickte nach vorn, und er entwickelte eine Neugier für ein Feld, das fern von seinen Vorkenntnissen lag, gesellschaftlich aber immer wichtiger wurde: Naturwissenschaften, Technik und Medizin. Beim damaligen Chefredakteur Thomas Löffelholz fand er Unterstützung für eine Stärkung der Wissenschaftsberichterstattung. 1986, im Umfeld der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl, entstanden die Anfänge eines Wissenschaftsressorts.
Aus den Anfängen erwuchs ein Team, das bob bis Ende 2006 geführt hat - so geführt, wie es seine Art war. Der "Chef" wollte er nie sein, aber er war es vielleicht mehr als jemand, der seinen Status ständig vor sich her trägt. Er war brillant im Erkennen von technisch-naturwissenschaftlichen Themen, über die eine Regionalzeitung berichten sollte, und er war - für seine Kollegen - nervenaufreibend im Nachfragen, was sie mit diesem oder jenem Satz den Lesern der Zeitung sagen wollten. Am Ende, wenn der veränderte Text erschienen war und die Nerven sich beruhigt hatten, gab es nie Zweifel, dass die Nachbesserung der Mühe wert gewesen war.
Wolfgang Borgmanns Konzept war es, dass das Wissenschaftsressort mit seinen Berichten in der ganzen Zeitung präsent sein sollte, wo immer ein aktueller Anlass es nahelegte, egal ob in der Politik, im Sport oder im Feuilleton. Und dass es die Menschen zu Wort kommen lassen sollte, die Wissenschaft vorantreiben. Enge Kontakte zu regionalen Wissenschaftseinrichtungen und den Menschen dort waren ihm wichtig.
Auch andere Regionalzeitungen haben in den Achtziger- und Neunzigerjahren in Wissenschaftsressorts investiert. Die "Stuttgarter Zeitung" stand mit ihrer Truppe nicht schlecht da. Insofern stimmt es in doppeltem Sinne, wenn die Zeitung jetzt schreibt: "Wolfgang Borgmann ist Teil der Geschichte der Stuttgarter Zeitung". Die Betonung liegt auf Geschichte. Sein Nachfolger Alexander Mäder hat nach seinem Ausscheiden 2006 noch bis 2015 das Wissenschaftsressort weitergeführt.
Seitdem gibt es zwar immer noch eine tägliche Wissenschaftsseite, und die Kollegen in der Redaktion haben die Maßstäbe nicht vergessen, denen sie bisher gefolgt sind. Doch ein eigenständiges Wissenschaftsressort gibt es nicht mehr. Das ist im Zuge der Sparmaßnahmen geschleift worden. Für Wolfgang Borgmann war das der Punkt, an dem das höfliche, scharfsinnige, nachfragende, bohrende Gespräch nicht half. An dem er nur zuschauen konnte. Er sah, dass etwas abgebaut wurde, was er aufgebaut hatte und von dem er zutiefst überzeugt war. Ein Lebenswerk war abgeschafft.
Gesagt hat er das nie, und er hätte es nie gesagt, trotz allem Zorn. Wolfgang Borgmann lag es fern, sich in den Mittelpunkt zu stellen. So ging er auch mit seiner Nierenkrankheit um, die ihn seit Ende der siebziger Jahre einschränkte. Er redete kaum je darüber. Viel lieber sprach er über seine Faszination am lebenslangen Lernen in dem Beruf, der sein Beruf war, dem Journalismus. Am 21. März 2017 ist er mit 75 Jahren gestorben.
Rainer Klüting gehörte lange Jahre dem Wissenschaftsressort von Wolfgang Borgmann an. Im März 2016 hat er die "Stuttgarter Zeitung" verlassen, um der Verschmelzung mit den "Stuttgarter Nachrichten" zu entgehen.
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