KONTEXT:Wochenzeitung
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Brief an die Kontext-Leser

Brief an die Kontext-Leser
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Wer die Diskussion liebt, freut sich über Anregungen und Widerspruch. Hebels Briefe an AfD-Wähler waren eine Einladung zum Streit, die viele Kontext-Kommentatoren bereitwillig angenommen haben. Den Autor freut's und hier antwortet er.

Liebe Kontext-Leserin, lieber Kontext-Leser,

anders als bei meinem Brief an die "sehr geehrten AfD-Wähler" wähle ich heute mit Vergnügen die persönlichere Anrede. Denn wie bei "Kontext" nicht anders zu erwarten, begegnen Sie meinem Brief an die AfD-Wähler mit überwiegend sachlicher Kritik, jedenfalls die meisten von Ihnen – von Zustimmung, die mich natürlich besonders freut, ganz zu schweigen.

Auf einige der kritischen Anmerkungen möchte ich, angeregt von der Redaktion, kurz antworten.

Ernst-Friedrich Harmsen hat in seinem Kommentar gefragt: "Wollen AfD-Wähler sich denn ... informieren? Oder lieber ihren Stimmungen hinterherlaufen, mal ,die Sau rauslassen'?" Auch andere Kommentatoren weisen darauf hin, dass es weder den AfD-Wählern noch der Partei selbst ums Regieren gehe.

Was nun die Wähler betrifft: Ja, ich glaube auch, dass viele nur "die Sau rauslassen" wollen, ich habe das in meinem Buch auch angesprochen. Aber diese Wähler versuche ich zu überzeugen, dass sie sich die Folgen klarmachen sollten. Eine dieser Folgen ist schon jetzt eingetreten: Die deutsche Politik diskutiert fast nur noch über Flüchtlinge, Ausländer insgesamt, den Islam und die Kriminalität, als hätte es vor der "Flüchtlingswelle" keine Verbrecher gegeben. Über die Politik der diversen Bundesregierungen, die die Gesellschaft seit Jahren spaltet, wird dagegen viel zu wenig gesprochen.

Flüchtlingshetze lenkt von notwendiger Kritik ab

Ich kann Ihnen darum, lieber Rolf Steiner, auch nicht ganz zustimmen, wenn Sie schreiben: "Dass verhetzte Bürger trotz bester wirtschaftlicher Lage Deutschlands schizophrenerweise die Demokratie beschädigen, beleidigen und in größter Dummheit ablehnen, genau dies muss wieder und wieder an den Pranger gestellt werden."

Ja, die Hetze und die ewige Beleidigung der Demokratie muss an den Pranger gestellt werden, das finde ich auch. Allerdings meine ich, dass die Rede von der "besten wirtschaftlichen Lage Deutschlands" nur dann zutrifft, wenn man die Verteilungsfrage, die Zumutungen an ewige Leistungsbereitschaft und Flexibilität, die wiederholten Einschnitte in die Sozialsysteme und das ungerechte Steuersystem außer Acht lässt. Dies alles macht vielen Menschen Angst, und zwar zu Recht. Und diese Menschen – da meine ich keineswegs die Berufshetzer in den Parteifunktionen! – würde ich nicht verloren geben.

So hat die AfD, um zur Partei selbst zu kommen, schon jetzt ihren wichtigsten Erfolg errungen: Die Folgen neoliberaler Politik – von Hartz IV über die unappetitliche Anhäufung von Reichtum in einigen wenigen Händen und dem Austeritätsdiktat in der EU bis hin zu TTIP und Ceta – geraten "unverdient" in den Hintergrund. Ja, sie werden statt CDU/CSU, SPD und Grünen nun den Flüchtlingen angelastet. Hätte irgendwer den "genialen" Plan gehabt, von der fatalen Politik der vergangenen Jahre ablenken zu wollen - er hätte die AfD erfinden müssen.

Deshalb kann ich auch Ihnen, lieber Horst Ruch, nicht folgen, wenn Sie schreiben: "Diese Eliten gurgelten doch gemütlich im eigenen Saft und sind jetzt erst aufgeweckt worden. Da ist trotz manchen abstrusen Außendarstellungen der AFD ... ein Licht bei der Mitte von der Mitte der Parteienlandschaft aufgegangen. Das war gut, denn wie Sie es selbst beschreiben, müssen diese statt mit Schlagworten nun mit Argumenten ihren Grips anstrengen." Nein, diese "Eliten" hecheln zum großen Teil der Fixierung auf das Zuwanderungsthema hinterher, und eine eklatante Zunahme an "Grips" beim Argumentieren habe ich unter den etablierten Parteien auch nicht festgestellt.

Sie fragen, Herr Ruch, ob die AfD-Stimmen bei der CDU und den anderen etablierten Parteien besser aufgehoben wären. Nein, bei der CDU schon gar nicht! Ich weiß aber aus vielen Gesprächen, dass manche AfD-Wähler eher aus dem linken Spektrum stammen, von dem sie sich aber nicht zu Unrecht enttäuscht sehen, gerade in sozialen Fragen. Nur: Mein Brief hat ja gerade den Zweck zu zeigen, dass es mit der AfD in dieser Hinsicht nur noch wesentlich schlimmer würde (siehe die Forderung nach vollständiger Abschaffung der Erbschaftssteuer)!

Das politische Spektrum hat sich nach rechts verschoben

Es mag schon sein, dass – wie Fritz in seinem Kommentar schrieb – die AfD irgendwann zur Mehrheitsbeschafferin der Union werden könnte. Aber manchmal denke ich, das ist schon gar nicht mehr nötig – so sehr, wie sich das politische Spektrum in diesem Land bereits nach rechts verschoben hat.

Ein Wort in diesem Zusammenhang noch an Michael Kornmayer, der schreibt: "Nur die Offenlegung und der Umgang mit der Wahrheit bringt eine Veränderung. Eine unbequeme Wahrheit ist z.B., dass das BKA offiziell 281.000 untergetauchte, abgelehnte Asyl-Antragsteller für das Jahr 2015 gemeldet hat. Die Frage, wo und von was diese Menschen leben, wurde mir, auf Anfragen, bisher nur ausweichend oder gar nicht beantwortet. Wer die herbeigerufenen nun spürbaren Konflikte ignoriert, kleinredet oder gar vertuscht und alle, welche darüber offen sprechen, mit der Nazi-Keule niederprügelt, der darf sich nicht wundern, dass Wähler ihre Stimme vor der politischen-Korrektheits-Zensur und dem hypermoralischen Schubladendenken bei der AfD vermeintlich in Sicherheit bringen."

Wissen Sie was, Herr Kornmayer? Sie sollten, wenn Sie erlauben, mein Buch mal lesen. Dort werden die Probleme mit der Zuwanderung an mehreren Stellen ausdrücklich benannt. Ich versuche sie allerdings in den Zusammenhang mit der Gesamtlage und den Möglichkeiten in unserem Land ins Verhältnis zu setzen. Dann kommt zum Beispiel heraus, dass das Geld für die Integration ohne Probleme vorhanden wäre, griffe man auch nur einen minimalen Prozentsatz des am oberen Rand massiv gewachsenen Reichtums an. Und das BKA, das Sie erwähnen, hat in seiner ersten umfassenden Studie zum Thema wörtlich festgestellt: "Ausländer sind nicht krimineller als Deutsche".

Wer sich Horrorszenarien widersetzt, vertuscht nicht

Wer sich, sehr geehrter Herr Kornmayer, Übertreibungen und Horrorszenarien widersetzt, muss sich (nicht nur von Ihnen) ständig den Vorwurf anhören, dass er die Probleme "ignoriert, kleinredet oder gar vertuscht". Um ehrlich zu sein: Ich kann es nicht mehr hören. Aber ich werde mich denen, die die Realität ignorieren und die Probleme größer reden als sie sind, auch weiter widersetzen.

Besonders bedanken möchte ich mich bei Holger Steinführer und Peter S.. Es geht um Europa und den Euro. Sie, lieber Herr Steinführer, kommentieren meinen Satz, durch ein Ende des Euro würden sich "deutsche Waren so deutlich verteuern, dass die EU-Partner praktisch keine deutschen Autos mehr kaufen könnten". Und Sie antworten: "Wir haben unseren Wohlstand, also viele deutsche Autos zu exportieren, nur deswegen erreichen können, weil wir eben diese gleichgestellte Finanzpolitik über eine gemeinsame Währung haben, ABER dadurch eben ,schwächere' Staaten verarmt. Kurz gesagt: Unser Wohlstand baut auf die Verarmung anderer EU-Länder. Und jetzt frage ich mal so: Ist das fair? Ist das würdig?"

In die gleiche Richtung argumentieren Sie, lieber Peter S.: "Zwingt Deutschland nicht seine Nachbarn, sich durch unseren verboten hohen (Maastricht) Außenhandelsüberschuss immer weiter zu verschulden?" Und Sie fügen hinzu: "Einfach mal Flassbeck lesen."

Ja, Sie haben meines Erachtens beide Recht. Ich hatte in meinem Text die Folgen des Euro-Ausstiegs auf die kurzfristigen Konsequenzen verkürzt: Stiegen wir jetzt aus dem Euro aus, ohne unsere Exportüberschüsse reduziert zu haben, dann würden andere Länder abwerten und könnten unsere Autos nicht mehr kaufen. Aber im Grundsatz liegen Flassbeck und andere auch aus meiner Sicht richtig: Diese Exportüberschüsse sind ein Übel, mit oder ohne Euro, und nur eine Steigerung der deutschen Binnennachfrage durch höhere Löhne (im neoliberalen Deutsch: eine "Verschlechterung unserer Wettbewerbsfähigkeit") würde an diesem Problem etwas ändern.

"Pessimisten schließe ich mich nicht an"

Gerade deshalb aber glaube ich, dass es auch mit Euro besser ginge – wenn Deutschland sich vom Dogma einer falsch verstandenen "Wettbewerbsfähigkeit" verabschieden und zum Ausgleich der europäischen Handelsungleichgewichte beitragen würde.

Zum Abschluss noch einmal ein Wort zu der Frage, was die Alternative zur Provokation der etablierten Parteien durch die nationalistische und rassistische Propaganda der AfD sein könnte: Ich bin sicher, dass sich in diesem Land nur dann etwas ändert, wenn sehr viele Menschen den (ehemals) fortschrittlicheren Parteien massiv Druck machen, wie das bei TTIP und Ceta bereits geschieht. Nur ein Bündnis der Unzufriedenen und von der Politik Benachteiligten (ob alteingesessen oder zugewandert) wird meines Erachtens einen Teil der Parteien zwingen können, gemeinsam mit den fortschrittlichen Kräften der Gesellschaft einen anderen Weg zu gehen.

Das mag arg optimistisch klingen, aber Pessimisten wie era schließe ich mich nicht an. era schreibt: "Nüchtern betrachtet ist der Artikel insgesamt ,ein Brief an den Nikolaus' (Zitat Rainer Mausfeld). Die aktuell regierenden Politiker werden einen Teufel tun und den Euro so reformieren, wie Herr Hebel das richtig angedeutet hat. Die Zerstörung der schwächeren Wirtschaften und der Sozialsysteme ist nicht eine Fehlfunktion oder Unfall. Es ist das Programm, das Schäuble, Dijsselbloem (?) & Co konsequent durchziehen. Ich glaube, dass die Zeit für Nikolausbriefe vorbei ist. Mit den gegenwärtigen Führungsschichten wird es keine Reformation des Euro und der EU geben."

Nein, mit den "gegenwärtigen Führungsschichten" nicht. Wir werden uns schon anstrengen müssen, um deren Macht zu brechen. Bis Nikolaus wird das nicht gelingen. Aber sollten wir deshalb resignieren?

Freundliche Grüße
Ihr Stephan Hebel


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6 Kommentare verfügbar

  • era
    am 14.11.2016
    Antworten
    >>"...Mit den gegenwärtigen Führungsschichten wird es keine Reformation des Euro und der EU geben."

    Nein, mit den "gegenwärtigen Führungsschichten" nicht. Wir werden uns schon anstrengen müssen, um deren Macht zu brechen. Bis Nikolaus wird das nicht gelingen. Aber sollten wir deshalb resignieren?…
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