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Hagen, der Lokführer

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25 Jahre lang war Hagen von Ortloff die Eisenbahn im Fernsehen. Jetzt tritt er ab, der ewige Romantiker. Anlass genug, um daran zu erinnern, dass er im Südwestrundfunk (SWR) der mutigste Kritiker von Stuttgart 21 war.

Es ist die alte Geschichte vom Traum des kleinen Jungen, der später, wenn er groß ist, Lokführer werden will. Danach kommt die Märklin-Eisenbahn, später, wenn sie weggepackt ist, wenigstens das ehrfürchtige Berühren des "Krokodils" im Regal, jener legendären Schweizer Güterzuglok. Ganz Hartleibige bleiben im Verein für Modelleisenbahner und setzen sich eine Schaffner-Mütze auf. Hagen von Ortloff ist so einer. Und noch viel mehr. Der 67-Jährige ist, auf den ersten Blick, die Eisenbahn von gestern.

Was hat der Mensch mit dem kecken Zöpfle, dem schelmischen Lachen und dem grauen Stoppelbart nicht alles auf die Mattscheibe gebracht. Zuerst, 1991, die Sauschwänzlebahn in Blumberg im Wutachtal, die heute stark gefährdet ist, weil die Mopsfledermäuse in den Schwarzwälder Tunnel nisten. Danach den roten Schienenbus, dieses Klappergestell auf Rädern, und nicht zu vergessen die Öchsle-Bahn in Ochsenhausen, die bis heute im Vorspann der "Eisenbahn-Romantik" aus dem Wald zuckelt, zur Melodie von "Sentimental Journey".

Am Ende, also Juli 2016, hat sie das sage und schreibe 880 Mal getan, nicht mitgerechnet die unzähligen Wiederholungen in allen Dritten Programmen, auf Arte, Phoenix und 3sat. Eine Folge werde mindestens zehn Mal ausgestrahlt, berichtet von Ortloff, von einer Million Zuschauer angeschaut, und wer nicht genug kriegen kann, kann sie sich sogar dreimal hintereinander reinziehen: im SWR um 8.20, 14.15 und 14.45 Uhr.

Das freut den Sender, weil es billiger und besser kaum geht. Und eigentlich müsste es die Programmentwickler auch nachdenklich stimmen, wenn sie sich erinnern, wie die Filme entstanden sind. Da war keine Marktforschung, kein Durchformatierer, der sie auf Quotenträchtigkeit abklopfte. Da war einfach ein Redakteur, dessen Herz an der Eisenbahn hing und hier rief, als eine Lücke im Programm auftauchte. Und siehe da, seine "Pausenfüller" wurden mehr geguckt als das, was vorher und nachher lief.

Der ewige Eisenbahner nimmt sie alle mit

Hagen, der Lokführer, nimmt sie eben alle mit, mit ein bisschen Fernweh, wenn's sein muss, auch bis nach Burma und Myanmar, mit ein bisschen Sehnsucht, mit der Erinnerung an alte Zeiten, als der Zug noch gezischt und Wolken ausgestoßen hat. So eindrucksvoll, dass der SWR zu seinem Abschied sogar Kurt Tucholsky bemüht: "Ich höre nachts die Lokomotiven pfeifen, sehnsüchtig schreit die Ferne, und ich drehe mich im Bett herum und denke: Reisen ..."

Darüber könnte man jetzt lange nachdenken und zu der Erkenntnis gelangen, dass die eiserne Romantik wie gemalt ist für die Stuttgarter Anstalt, die es gerne mit Nahraum und Nostalgie hält. Und das Verreisen im Kopf schützt vor Unbill aller Art. Aber Obacht: Romantik kann auch subversiv sein, Grenzen überwinden und Türen aufmachen für andere, künftig-kritische Gedanken. Von Ortloff hat sie in seiner Biografie angelegt.

Geboren ist er 1949 im sächsischen Zwickau, aufgewachsen bei der Großmutter in Dresden. Vater und Mutter sind in den frühen Fünfzigern in den Westen ausgereist, mit kleinem Gepäck und unter Zurücklassung ihrer Ziegelei und dem steten Druck der kommunistischen Partei, die sie der Sabotage im eigenen Betrieb verdächtigte. Der Vater starb 1957, der Sohn folgte der Mutter 1960 nach Weinsberg bei Heilbronn, begann in Stuttgart ein Studium als Wirtschaftsingenieur und danach der Soziologie und Politik. Es war die Zeit der ausgehenden 68er-Revolte, des Protests gegen den Vietnamkrieg, des Willy-Wählens.

Dieser Geist habe ihn "infiziert", sagt von Ortloff, und während er darüber nachdenkt, kommt er zum Schluss, dass der Adelstitel "eigentlich blöd" ist. Irgendein sächsischer Kurfürst habe ihn einem seiner Vorfahren um 1850 herum verliehen, erzählt Ortloff, für dessen juristischen Beistand. Also nichts ist mit Ländereien, Schloss und Tschinderassabum. Andererseits, und das muss im Fernsehgeschäft bedacht sein, habe es der Marke genutzt und ihn des Problems enthoben, seinem Kollegen Helmut Müller nachzueifern. Der musste noch ein "G" dazwischenschieben, damit alle wussten, aha, das ist der Formel-1-Experte.

Vom Gartenzwerg und Wetterfrosch zum S-21-Gegner

Mit dem Kollegen HGM hat er in der Sportredaktion zusammengearbeitet, in der "Abendschau" von Wieland Backes den Gartenzwerg Kunold und den Wetterfrosch gegeben, und wenn noch irgendwo die Rolle des Kobolds zu vergeben gewesen wäre, hätte er die wahrscheinlich auch noch übernommen. Der ist nämlich nicht zu unterschätzen, als listiger Geist des Hauses, der schützt und ärgert zugleich. Aus Gartenzwerg und Wetterfrosch wurde der mutigste S-21-Gegner in den Reihen des SWR. Das gilt es festzuhalten, genauso wie die engagierte Arbeit von Harald Kirchner im aktuellen Programm und den späten Stefan Siller.

Schon in den Neunzigerjahren, als noch niemand das Thema auf dem Schirm hatte, war es in der "Eisenbahn-Romantik". Ortloff fragte, ob es der "Weisheit letzter Schluss" sei, legte 2010 mit dem "Milliardengrab" nach, steckte dafür mächtig Prügel ein und stand auf der Bühne der Montagsdemonstranten. Vier Mal. "Opa, warum hast du damals nichts dagegen gemacht" – nein, das wolle er sich nicht vorwerfen lassen, hat er damals, am 22. Februar 2010, in die Menge gerufen. Öffentlich dagegen sein, vor Tausenden von Zuhörern, in einer Zeit, in der nicht nur die öffentlich-rechtliche Spitze dafür war – das nennt man Zivilcourage.

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"Sagen Sie nicht, Sie hätten nichts gewusst"

Ortloff nennt das seine "Pflicht als Staatsbürger". Zu protestieren gegen die versenkten Milliarden, gegen die "gigantische Fehlinvestition", gegen den "blanken Schwachsinn", einen Bahnhof tiefer zu legen, nur um ein neues Baugebiet zu erschließen. Alles, was die S-21-Gegner einst prophezeit hätten, sei heute Realität, sagt er und hofft darauf, dass irgendjemand noch die "Bremse reinhaut". In erster Linie denkt er an die Kanzlerin, die so viel Größe zeigen müsse, einen Fehler einzugestehen, und nach der Energiewende die Bahnhofswende ausrufen müsse. "Liebe Politiker, sagen Sie nicht, Sie hätten nichts gewusst" – auch so ein Satz, den er im Februar 2010 sprach.

Es spricht aber auch der Eisenbahn-Romantiker. Zugfahren bedeutet für ihn Sehen. Rausschauen können aus dem Fenster, die Landschaft vorbei-, die Gedanken mit ziehen lassen. Wie soll das in den dunklen Röhren gehen? Unter der Stadt, unter der Alb? Einer wie er will nicht "als Maulwurf ankommen und abfahren". Er will den "guten alten Kopfbahnhof" behalten, nicht aus nostalgischen Gründen, sondern weil er ihn für eine technische Meisterleistung hält.

Nun mag Ortloff kein Experte für Gleisneigungen, Krümmungsgrade und Schienenkreuzungen sein, aber er hat in den vergangenen 25 Jahren gewiss mehr Bahnhöfe und Züge gesehen als Grube & Co. zusammen. Und er hat Menschen erlebt, die in Zügen gefahren sind, voller Glück, das Licht nicht nur am Ende des Tunnels sehen zu können. Für sie, sagt er, habe er seine Filme gemacht, weil er sie stets als Freunde betrachtet habe.

Das Gespräch fand im Eisenbahn-Treffpunkt Schweickhardt in Waiblingen statt. Dort sitzt von Ortloff in der Gartenbahn, die Schaffner-Mütze auf dem Kopf, und ist Hagen, der Eisenbahn-Romantiker. Danach kommen alte Kumpels zu ihm, packen ihre Loks und Wagen aus, setzen sie auf M-Gleise auf dem Wohnzimmertisch und stimmen womöglich die "Sentimental Journey" an.

Info:

Vom 22. bis zum 24. Juli feiert der SWR das 25-Jahr-Jubiläum seiner "Eisenbahn-Romantik". Die Fans sind zum Sauschwänzle-Fest in Blumberg geladen, wo alles angefangen hat. Selbstverständlich mit Kultfigur Ortloff als Moderator, den es künftig in der Sendung nicht mehr geben wird. In Goggo Gensch hat sie aber einen Redaktionsleiter, der Bewährtes nicht aufs Spiel setzt.


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12 Kommentare verfügbar

  • Jochen
    am 21.03.2017
    Antworten
    Mit diesem erstklassig geschriebenen Artikel gelingt es dem Autor in beeindruckender Weise, einem besonderen Menschen für sein Lebenswerk zu ehren. Als Fan und Zuschauer dieser großartigen Sendereihe fühle ich mich sehr von dem Beitrag angesprochen und bedanke mich für die vielen Informationen.…
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