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Rolf Nesch

Im Norden zum großen Künstler geworden

Rolf Nesch: Im Norden zum großen Künstler geworden
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Rolf Nesch, 1893 in Oberesslingen geboren, wurde später zu einem der prägenden Künstler Norwegens. Dem dreifachen Documenta-Teilnehmer stellt das Kunstmuseum Stuttgart zwei jüngere Künstler:innen gegenüber, die sich ebenfalls nicht auf ihre Herkunft festlegen lassen.

Auf dem dramatischen Höhepunkt seines Lebens warf sich Rolf Nesch 1943 in Oslo vor eine Straßenbahn. Er war Kriegsgegner. Zehn Jahre zuvor, gleich 1933, war er nach Norwegen emigriert. Doch nun hatten die Nazis das Land okkupiert. Im Alter von 50 Jahren drohte er erneut zum Kriegsdienst eingezogen zu werden. Er hatte im Ersten Weltkrieg gedient – das wollte er nicht noch einmal mitmachen. Der Künstler überlebte, doch die linke Körperhälfte blieb zeitlebens beeinträchtigt. Drei Jahre später wurde er norwegischer Staatsbürger.

Seine ersten Prägungen erfuhr Nesch in seinem Geburtsort Oberesslingen, dann ab dem siebten Lebensjahr in Heidenheim, als Teenager in einer Dekorationsmaler-Ausbildung und an der Stuttgarter Kunstgewerbeschule. Doch erst im Kunststudium in Dresden begann sich sein künstlerisches Talent zu entfalten. Er wurde Meisterschüler von Oskar Kokoschka, besuchte 1924 Ernst Ludwig Kirchner in Davos und zog 1929 nach Hamburg. Dass er nach Norwegen emigrierte, lag auch daran, dass er Edvard Munch verehrte. Doch der zeigte sich wenig interessiert an dem neu zugewanderten Deutschen.

"Prägungen und Entfaltungen" nennt das Kunstmuseum Stuttgart eine Ausstellung, die Nesch zwei jüngere, heutige Künstler:innen gegenüberstellt. Was sie verbindet, ist eine Flucht- und Migrationsbiografie. Und dass sie sich wie Nesch, der sich als Kosmopolit verstand und heute zu den bedeutenden Künstlern Norwegens zählt, nicht auf ihre geografische Herkunft festlegen lassen. 

Fünfzig Jahre nach seinem Tod widmet auch die Villa Merkel in Esslingen Nesch eine kleine Ausstellung. Sebastian Schmitt, der die Städtische Galerie seit zwei Jahren leitet, hält Nesch für einen der bedeutendsten Künstler der Vor- und Nachkriegszeit, vergleichbar etwa mit Willi Baumeister. Die Villa Merkel besitzt immerhin die drittgrößte Sammlung seiner Werke, nach dem Nationalmuseum Oslo und dem Kunstmuseum Stuttgart. Schmitt war hocherfreut, als das Kunstmuseum nach Leihgaben anfragte, und beschloss, Nesch in zwei Räumen der Villa ebenfalls eine kleine Ausstellung zu widmen. Bereits 1975 und 1993, zum 100. Geburtstag, hatte es hier große Einzelausstellungen gegeben.

Lange blieb der Heilige Sebastian im Depot

In Stuttgart war Nesch schon sehr viel länger nicht mehr zu sehen. Das Museum besitzt eines seiner Hauptwerke, einen drei Meter breiten Heiligen Sebastian, erworben 1959 nach einer Ausstellung in der Staatsgalerie, kurz bevor Nesch zum zweiten Mal an der Documenta teilnahm. Als drei Jahre später die Biennale von Venedig anfragte, sagte die damalige Galerie der Stadt Stuttgart ab, denn das Werk war fest an einer Wand des erst im Vorjahr wiedereröffneten Kunstgebäudes verbaut. So war Neschs Sebastian dann erst 1964 auf der Documenta 3 ausgestellt – und seitdem nicht mehr.

Um das frisch renovierte Werk zu beschreiben, ist es notwendig, etwas weiter auszuholen. Nesch hatte eine Vorliebe für Druckgrafik, vor allem für Radierungen. Dabei wird eine Kupferplatte mit einer Asphaltschicht abgedeckt, in die der Künstler oder die Künstlerin seitenverkehrt die Zeichnung einritzt, die dann in einem Säurebad in die Platte geätzt wird. Nesch fing bald an, das Verfahren zu erweitern. Er ließ die Platten im Säurebad liegen, bis sie durchgeätzt waren. Oder er lötete Drähte und Fliegengitter auf, die sich dann mit der Farbe in das Papier einprägten. Auch darauf spielt der Titel der Ausstellung an.

Am besten lässt sich das an dem Prägedruck "Venner" ("Freunde") in der Villa Merkel erkennen. Ein Reh mit zurückgewandtem Kopf erinnert an die steinzeitliche Höhlenmalerei. Daneben hängt auch die Druckplatte mit aufgelöteten Drähten, die ein Privatsammler der Galerie zur Verfügung gestellt hat. Nesch stellte seine Druckplatten bald auch als eigenständige Kunstwerke aus. Von da aus war es nur noch ein kleiner Schritt zu Arbeiten wie dem Heiligen Sebastian, bei dem Blechstreifen aus Zinn, die ähnlich wie die Bleiruten eines Kirchenfensters farbige Glas- und Keramikflächen einfassen, senkrecht auf die Kupferplatte gelötet sind.

"Til Pablo Picasso" ("Für Pablo Picasso") steht auf einer Tafel, die eine Figur am rechten Bildrand emporhält. 1938 hatte Nesch in Oslo Picassos "Guernica" gesehen, das großformatige Antikriegsbild, das an die Luftangriffe der deutschen Legion "Condor" auf das baskische Städtchen erinnert. 1942, als Nesch an dem Sebastian arbeitete, verbreitete sich das Gerücht, Picasso sei nach Auschwitz deportiert worden. Zwei Figuren mit fischartigen Köpfen schießen Pfeile auf den Märtyrer ab, während eine vierte Figur ganz links hoch über ihrem Kopf Violine spielt.

Beide Ausstellungen folgen der Biografie des Künstlers. Die kleine Auswahl der Villa Merkel beginnt mit einem Landschaftsaquarell von Neschs Geburtsort Oberesslingen und endet mit einer sechsteiligen Ansicht seines Anwesens Ragnhildrud in Ål, ungefähr 200 Kilometer nordwestlich von Oslo, wo Nesch die letzten dreißig Jahre seines Lebens verbracht hat. Die Auswahl im Kunstmuseum ist breiter angelegt, mit seinen großen Druckzyklen und einigen Hauptwerken wie dem Heiligen Sebastian im Zentrum.

Die U-Bahn hören, die Stille spüren

Schon frühe Arbeiten zeigen Nesch als aufmerksamen Beobachter, der das Gesehene effektvoll zuspitzt. So etwa zwei Radierungen aus dem Hüttenwerk Wasseralfingen oder eine ganze Wand mit Musiker:innen. Eine Jazzband pausiert, nur der Pianist lässt die Hände auf die Tasten niedersausen. In einer effektvollen Diagonalkomposition halten alle Violinist:innen den Oberkörper im Schwung der Musik nach links geneigt.

Nesch arbeitet immer gegenständlich, aber er gibt seine Gegenstände nicht realistisch wieder, sondern betont das Charakteristische. In Hamburg sind es die Brücken: an der Alster, am Hafen, die Landungsbrücken. Die drei in beide Richtungen gewölbten Fachwerkträger der Elbbrücken sind in gelber Farbe hervorgehoben, an der Lombardsbrücke zwischen Außen- und Binnenalster heben sich drei Möwen in die Luft.

Wer Hamburg kennt, meint über die gestaffelten Bögen der Hochbahn am Rödingsmarkt die aus dem Untergrund auftauchenden U-Bahn-Züge hinwegdonnern zu hören. In der Serie "Schnee", die Neschs erste Eindrücke in Norwegen wiedergibt, scheint sich dagegen Stille über der endlosen Landschaft auszubreiten. 1936 unternahm der Künstler eine Reise zu den Lofoten, auf Einladung eines Sammlers, des Hamburger Kaufmanns Heinrich Carl Hudtwalcker. In einem Brief beschreibt Nesch, wie das kleine Fischerboot in die Wellentäler hinabtaucht, bis Notizblock und Kamera völlig durchnässt sind. Das Erlebnis hat er in einer zwanzigteiligen Serie festgehalten, später auch noch auf dem elf Meter breiten Wandbild "Sildefisket" (Heringsfang) am Indekshuset (Haus der Industrie und des Exports) in Oslo. Im Exil lebte er wie andere Emigranten zwischen allen Stühlen. Die Reichskammer der bildenden Künste forderte seinen Mitgliedsausweis zurück. 234 seiner Werke wurden 1937 aus deutschen Museen beschlagnahmt. Die Norweger blieben dennoch misstrauisch. Einen Auftrag für das Rathaus von Oslo erhielt er nicht, was er mit dem gelben Druck "Spießbürger" quittierte. Erst 1946 wurde er eingebürgert und prägte von da an die Nachkriegsgeneration norwegischer Künstler.

Hände ragen aus der Wand

Was Ahmed Umar mit Nesch verbindet, ist das Exil in Norwegen. 1988 im Sudan geboren, wuchs er später in Mekka auf. Homosexuellen droht in Saudi-Arabien die Todesstrafe. Der Künstler floh im Alter von 20 Jahren nach Norwegen und wurde zum LGBTQ-Aktivisten. Umar ist eine eindrucksvolle Erscheinung. Die ornamentale Stirnlocke, die ihm vom kahlen Schädel herabfällt, ist ein Tattoo. Ebenso eindrücklich ist seine Kunst. 33 Gipshände ragen in einem länglichen Raum des Kunstmuseums aus der Wand und präsentieren den Betrachter:innen außergewöhnliche Objekte aus mundgeblasenem Glas, Wurzelholz, gelegentlich auch Hörner oder einen Tierschädel. Er glaube nicht, dass es einen Gott gibt, sagt Umar, aber er glaube ans Beten. Die Zahl 33 verweist auf Gebetsketten mit 33 Perlen. 

Nadira Husain ist nirgendwohin geflohen. 1980 in Paris geboren, lebt sie zum Teil dort, aber auch in Berlin, wo sie bis vor Kurzem an der Weißensee-Hochschule die *foundationClass unterrichtete, ein Programm für Menschen mit Fluchterfahrung, das den Kürzungen des Berliner Senats zum Opfer gefallen ist. Die drei Meter hohen Stoffskulpturen ihrer Serie "Global Bâtarde Education" stehen auf Keramikhänden und Tierfüßen. Die erotischen Motive, mit Keramik- oder Spiegelscheibchen, aber auch Markennamen und Logos durchsetzt, erinnern an die indische Miniaturmalerei. Auf einem mehr als zehn Meter breiten Aluminium-Raumteiler springen munter kleine Elefanten durch den Raum.

Was verbindet die Kunst von Nadira Husain und Ahmed Umar mit der von Rolf Nesch? Im Grunde wenig. Sie leben in einer anderen Zeit, sind durch ihre Herkunft und ihre Familien ganz anders geprägt. Allenfalls kann man sagen, dass sie wie Nesch die Materialien und Techniken ihrer Kunst eigenständig entwickelt haben. Und dass eben der Umstand, dass sie sich nicht einer Nation oder einer vorgegebenen Gruppenidentität zuordnen lassen, am Ausgangspunkt ihrer jeweils ganz eigenständigen, faszinierenden Kunst steht.


Die Ausstellung "Prägungen und Entfaltungen – Rolf Nesch, Nadira Husain und Ahmed Umar" im Kunstmuseum Stuttgart läuft bis 12. April, die Ausstellung "Weg mit der Leinwand" in der Villa Merkel in Esslingen bis 1. Februar. Öffnungszeiten hier und hier

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