KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Film und Buch über John Cranko

Wer hat's erfunden?

Film und Buch über John Cranko: Wer hat's erfunden?
|

Datum:

Als am 20. September in der Stuttgarter Oper der Film "Cranko" von Joachim Lang Premiere feierte, lagen ihm die Ballettfans zu Füßen. Einer allerdings ist sauer: Thomas Aders. Er hat vor vier Jahren einen Roman über Cranko veröffentlicht und findet: Der Film ist seinem Buch erstaunlich ähnlich.

Wenn ein Film einem Buch gleicht, nennt sich das landläufig Verfilmung eines Buches. Wenn ein:e Filmemacher:in sich an einem geschriebenen Werk nur orientiert, heißt es in Abspännen gerne "nach Motiven von ...". Und dann ist das mit dem Autoren oder der Autorin auch besprochen und verhandelt. Wenn allerdings ein Film einem Buch gleicht, das er mit keinem Wort erwähnt – was ist das dann?

Derzeit läuft in den Kinos der Film "Cranko" von Joachim Lang. Im Auftrag der Produktionsfirma Zeitsprung Pictures und des SWR hat Lang das Leben von John Cranko verfilmt. Der Choreograf, der von 1960 bis zu seinem Tod 1973 das Stuttgarter Ballett zu Weltruhm geführt hat und der bis heute von der Ballettszene tief verehrt wird, war ein wilder Charakter, ein beseelter Künstler, depressiv, alkoholkrank, lebenslustig und charmant. So weit, so einig die Ballettexpert:innen und Ballettbegeisterten. Bis heute werden Cranko-Choreografien am Stuttgarter Großen Haus aufgeführt, andere Compagnien müssen viel Geld bezahlen, wenn sie das machen wollen. Dieses Geld fließt dann an die John-Cranko-Stiftung des einstigen Crankofreundes Reid Anderson (Kontext berichtete).

Kurz und gut: Wenn es um Cranko geht, vor allem in Stuttgart, sind viele Menschen hin und weg und stets fallen irgendwann die Worte "Genie" und "Ballettwunder". Der Filmemacher Joachim Lang hat sich nun dieses Mannes angenommen und den Film "Cranko" gedreht, auch für das Drehbuch zeichnet er verantwortlich. In zwei Stunden und acht Minuten wird Crankos Leben in Stuttgart abgehandelt, klassische Spielszenen wechseln sich mit Ballettszenen ab, entweder sind Ausschnitte aus Aufführungen zu sehen oder die Compagnie des Stuttgarter Balletts tanzt vor dem Opernhaus, auf einer Wiese, auf einer Parkbank.

Einer Kritikerin fallen die Ähnlichkeiten auf

Zur Premiere des Films im Stuttgarter Opernhaus präsentierten sich Filmemacher, Produzent:innen, Darsteller:innen auf einem roten Teppich. Die "Stuttgarter Zeitung" titelte "Für eine Nacht liegt Cannes am Eckensee", fabulierte vom "schönsten Opernhaus der Welt" und "traumhafter Kulisse". Das Publikum habe geweint, minutenlang Standing Ovations gegeben und eine Ex-Tänzerin wird zitiert, der Film habe einen Oscar verdient. Im Oktober lief er recht erfolgreich in den Kinos an, die zahlreichen Rezensionen sind überwiegend positiv, nur wenige wie die FAZ befinden, "es gibt wohl wenig Klischees über Kunst, die in diesem Film nicht vorkommen." Auf dem Branchenportal "Tanznetz.de" zieht die Kritikerin Annette Bopp – ihren Ausführungen nach zweifellos ein Cranko-Fan – ein durchmischtes Fazit und schreibt über Szenen und Dialoge, "die überdies an nicht wenigen Stellen an den Roman 'SeelenTanz' von Thomas Aders erinnern".

Aders arbeitet wie Lang beim SWR Fernsehen, allerdings freiberuflich, in der Redaktion "Ausland". Der 62-jährige Historiker und Journalist war lange ARD-Auslandskorrespondent in Südamerika und im Nahen Osten. An John Cranko, so erzählt er, sei er eher zufällig geraten. Als Geschichtsstudent in Berlin sei er in "Der Widerspenstigen Zähmung" von Cranko gelandet und das habe ihn "total umgeworfen". Eine Geschichte so schön ohne Worte zu erzählen – das war für ihn neu und er begann, sich mit Cranko zu beschäftigen. Der war damals schon tot (er starb 1973 auf dem Rückflug des Stuttgarter Balletts von New York), also begann der neugierige Aders Literatur übers Ballett zu lesen, besuchte Zeitzeugen, während seines Volontariats beim SDR produzierte er 1991 ein Feature über John Cranko. Aders ist überzeugt, dass er mit nahezu allen gesprochen hat, die mit Cranko in Stuttgart zu tun hatten. In einem Gespräch mit der einstigen Cranko-Primaballerina und späteren Stuttgarter Ballettdirektorin Marcia Haydée habe diese ihm gesagt, er sei der Richtige, um einen Roman über Cranko und Stuttgart zu schreiben. 2004 habe er sich entschieden, genau dies zu tun – seitdem sammelte er noch mehr Material und sprach mit weiteren Zeitzeugen. Während der Corona-Pandemie schließlich nahm er unbezahlt frei und schrieb das Buch zu Ende. "SeelenTanz. John Cranko und das Wunder des Balletts" heißt es und ist für Aders so etwas wie "sein Lebenswerk". Auch deswegen ist er von Langs Film geschockt.

Buchautor Aders fühlt sich beraubt

"Als ich den Film gesehen habe, bin ich beinahe rückwärts umgefallen", erzählt Aders. Schon die Struktur des Films würde seinem Buch ähneln, besonders im ersten Viertel. "Da erzählt der Film nahezu exakt dasselbe wie ich in meinem Buch. Teilweise sind sogar Sätze aus meinen ausgedachten Dialogen drin."

Tatsächlich erlebt, wer das Buch gelesen hat, im ersten Teil der Films wenig Überraschendes. Beides startet mit einer Szene von Cranko als Kind im väterlichen Haus in Südafrika (die, so Aders, er sich ausgedacht habe – so wie zwei weitere Kindheitsszenen, die ebenfalls im Film vorkommen). Cranko reist nach Stuttgart, besucht als erstes den Ballettförderer Fritz Höver, dann den Generalintendanten Walter Erich Schäfer, der ihn für ein Gastspiel engagiert hat. Schäfer geht mit Cranko in den Ballettsaal, wo der Hauschoreograf Nicholas Beriozoff mit den Proben für Crankos Inszenierung begonnen hat. Cranko sagt im Buch: "Ich habe gehört, du probst bereits seit einer Woche? Na, dann ist ja für mich gar nichts mehr zu tun!" Im Film heißt es: "Ich habe gehört, Sie proben schon seit einer Woche. Dann habe ich ja nichts mehr zu tun." Cranko serviert die Primaballerina Xenia Palley ab. So ist es im Buch zu lesen und im Film zu sehen und es fallen noch manch weitere Ähnlichkeiten auf.

Sollte es die Krux der Biografie sein? Ein Leben verläuft nun mal nach einer bestimmten Chronologie, da ist es doch klar, dass sich zwei Geschichten über denselben Mann ähneln. Doch Aders sieht das anders. Zum Beispiel hat er eine Szene geschrieben, in der Cranko einsam und verzweifelt ist, nicht weiß, was er machen will und dann zufällig eine junge Tänzerin beobachtet, die sich vorbereitet. Ein Erweckungserlebnis! Plötzlich wird Cranko klar, dass er nur noch Choreograf sein will und sagt in Stuttgart zu, Ballettdirektor zu werden. Ähnlich läuft's im Film, nur dass dort Cranko in Stuttgart die Beobachtung macht und nicht wie bei Aders in London. Aders: "Dass es diese Szene gab, hat Cranko selbst mal in einem Interview erzählt. Dass sie ausschlaggebend für seine Entscheidung für Stuttgart war, habe ich mir ausgedacht, das ist meine schriftstellerische Freiheit!" Das stünde übrigens auch im Vorwort zum Buch. Aders glaubt jedenfalls nicht, dass diese und viele andere Szenen, teilweise auch Dialogfetzen zufällig im Film gelandet sind.

Und Aders ist enttäuscht. "Da wird auf dem roten Teppich gefeiert, aber mein Buch wird nicht einmal irgendwo erwähnt – das schmerzt." Er habe ein Exemplar, nachdem er es 2020 als Book on Demand selbst herausgebracht hat, übrigens dem Kollegen Lang selbst in die Hand gedrückt. "Da hätte er sich doch irgendwann mal melden können, weil das Buch für ihn wichtiger geworden war als gedacht, und er hätte sagen können: Ich nenne dich." Aber nein, nie habe er von Lang etwas gehört. Im Übrigen habe er über die Jahrzehnte ziemlich viel Geld für die Recherche aufgewendet, die – so sein Eindruck – nun von jemand anderem kostenlos genutzt worden ist.

Lang weiß alles von Reid Anderson

Joachim Lang weist derartiges weit von sich. Auf die Kontext-Anfrage, wie es zu den Ähnlichkeiten von Film und Buch kommen konnte, erklärt Lang, auch er habe zurückgegriffen auf "herausragende Biografien (John Percival, Ahley Killar u.a.), umfangreiche Selbstzeugnisse (…) sowie Aussagen von Menschen, die Cranko nahe waren oder ihn kannten". Auf dieser "erstklassigen Quellenbasis" beruhe der Film. "Dass Fakten, Informationen, biografische Begebenheiten und Anekdoten gemeinfrei sind, brauche ich sicherlich nicht zu betonen", schreibt der Filmemacher. Besonders betont er aber, "dass mir die Rechteinhaber Crankos Dieter Gräfe (im April diesen Jahres verstorben, Anmerkung der Red.) und Reid Anderson ihre Materialien und Informationen zugänglich machten und mir offen in vielen Gesprächen über Jahre hinweg umfangreiche Auskunft über ihn gaben." Und so "schien es mir nicht sinnvoll und nicht notwendig, mich auf die Ausführungen von Herrn Aders zu beziehen".

Aders Podcast und Roman über Cranko sind für Lang ein Teil vieler Veröffentlichungen nach dem Tod des Choreografen, und viele davon führten Geschichten und Anekdoten über Cranko auf, "die sich – weil sie aus vergleichbaren Quellen stammen – in vielem ähneln". Lang betont mehrmals in seinem Statement, wie gut seine Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Ex-Ballettintendanten Reid Anderson gewesen sei und schreibt: "Laut Reid Anderson stützt sich auch die Arbeit von Thomas Aders auf Gespräche mit ihm." Anderson sei Berater für Drehbuch und Film gewesen. "Von ihm und Dieter Gräfe habe ich alles bis ins Detail über Cranko erfahren; auch wörtliche Zitate, von denen sie mir berichteten, gingen ins Drehbuch ein." Lang: "Dazu liegt mir auch eine Versicherung an Eides statt von Reid Anderson vor, die das bestätigt."

Buchautor Aders hat sich mittlerweile mit seiner Anwältin zusammengesetzt und stellt derzeit einen Vergleich zusammen: Buchszenen – Filmszenen. Seine Aufstellung ist bereits 13 Seiten lang.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


14 Kommentare verfügbar

  • Bernhard
    am 02.12.2024
    Antworten
    Ganz anders als im Buch „Seelentanz“ bin ich vom Film etwas enttäuscht über die teilweise schwülstige Inszenierung,
    auch wenn Sam Riley als Cranko das durch seine sehr gute Darstellung Wett machen kann.
    Bei dem Film zeigt sich wieder: Egal wie aufwändig produziert wird, ohne eine wirklich gute…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!