KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Willy Reichert

Grüß Gottle, Herr Messer

Willy Reichert: Grüß Gottle, Herr Messer
|

Datum:

Mit "Häberle und Pfleiderer" hat der Komiker Willy Reichert zusammen mit Oscar Heiler das Schwaben-Stereotyp geprägt. Dabei versuchte er das Schwäbische lange zu meiden. Ein Rückblick zu seinem 50. Todestag.

"Sic transit gloria mundi", lautet ein berühmtes Zitat unbekannter Herkunft: "So vergeht der Ruhm der Welt". Als Willy Reichert vor fünfzig Jahren starb, gab es – bis auf allenfalls ein paar neu Zugewanderte – wohl niemanden in Stuttgart, der oder die den Mundart-Schauspieler nicht kannte. Und wenn Norddeutsche den schwäbischen Dialekt nett und lustig fanden, lag dies wahrscheinlich daran, dass sie ihn durch Reichert kennengelernt hatten. Manche meinten, um Schwäbisch zu sprechen, reiche es aus, an die Worte die Endung "-le" anzuhängen. Auch da hatte Reichert seine Hand im Spiel. Um diese Vorstellung zu ironisieren, versetzte er Worte in die schwäbische Verkleinerungsform, die sich eigentlich nicht verkleinern lassen: Sodele. Jetzetle. Grüß Gottle.

Heute wissen Jüngere kaum noch, wer Willy Reichert war. Menschen im Rentenalter erinnern sich an die Serie "Häberle und Pfleiderer" mit seinem langjährigen Kompagnon Oscar Heiler, einst omnipräsent auf Schallplatte, im Rundfunk und Fernsehen. "Ja, jaa. So, soo" – so sind sie, die Schwaben. Richtiger wäre es zu sagen, dass Reichert und Heiler die Einheimischen karikierten. Noch besser, dass Reichert das Schwaben-Stereotyp wie kein anderer geprägt hat.

Dabei hatte er einmal ganz anders angefangen: "Er wollte alles, außer Schwäbisch", lautet der Untertitel der einzigen, 2010 erschienenen Biografie über Reichert von Horst Jaedicke: das letzte Buch des langjährigen SDR-Fernsehdirektors. "Kann eine Stadt ein schlechtes Gewissen haben?", fragt Ex-OB Manfred Rommel (CDU) im Vorwort und antwortet selbst: "Sie kann nicht, sie muss." Weil nur eine versteckte Staffel an der Karlshöhe nach Reichert benannt sei: "Nicht mal einen Weg und schon gar keine Straße hatte man für den schwäbischsten aller Schwaben übrig."

Buchhändler, Chemiker und Mädchen für alles

Zu Beginn seiner Laufbahn versuchte der schwäbischste aller Schwaben das Schwäbische allerdings so gut es ging zu vermeiden. Dialekt: Das war Volksschauspiel, Tingeltangel. Im Postdörfle, der Stuttgarter Eisenbahner- und Postler-Siedlung aufgewachsen, hatte Reichert ein klares Bewusstsein von Standesunterschieden. "Wer nix isch und wer nix ka', schafft bei Poscht und Eise'bah'", hieß es in Stuttgart. Reichert wollte aus der volkstümlichen Ecke heraus. Er wollte ein "richtiger" Schauspieler werden.

Er war sechs Jahre alt, als im Januar 1902 das Stuttgarter Hoftheater am Schlossplatz abbrannte, sechzehn, als die Neubauten vom Architekten Max Littmann im Schlossgarten fertiggestellt waren, wo er dann, auf den billigen Stehplätzen, regelmäßig zu Gast war. Eine Lehrzeit beim Buchhändler Konrad Wittwer endete mit einem Rauswurf, da er selbst die Bücher verschlang, statt sich um die Kundschaft zu bemühen. Er sattelte um auf Lebensmittelchemiker in der Zuckerindustrie, verbrachte jedoch seine Abende in einem Laientheater in Untertürkheim, Nebenrollen und Mädchen für alles spielend.

Bevor Reicherts professionelle Theaterkarriere 1921 am Alten Schauspielhaus begann, war er gezwungen, sich als Conférencier im Hotel Marquardt zu verdingen, dem ersten Hotel der Stadt: Gedichte aufsagen, Liedchen trällern – nichts Ehrenrühriges, auch Staatsschauspieler:innen besserten so ihre Gage auf. Aber Reichert wollte da weg. Er nahm Unterricht bei Staatsschauspieler Max Bing, erste Engagements führten ihn nach Landsberg an der Warthe (heute Gorzów Wielkopolski), Zwickau, Heilbronn und kurz ans Münchner Volkstheater.

Mit dem schwäbischen Dialekt war überall wenig anzufangen. Aber Reichert konnte genug Hochdeutsch, um nicht als Schwabe identifiziert zu werden. Bayrisch und Berlinerisch gingen ihm ebenfalls leicht über die Lippen. In seiner ersten Hauptrolle 1927 bei Claudius Kraushaar, dem großen Direktor des Alten Schauspielhauses, spielte er einen Theaterdirektor in vollendetem Sächsisch. Kraushaar, jüdischer Herkunft aus Wien, umgab das Flair der großen Bühnen. Er reiste regelmäßig zu Premieren, brachte Theaterregisseur Max Reinhardt und das Wiener Burgtheater nach Stuttgart, holte internationale Schauspiel-Stars wie Asta Nielsen, Tilla Durieux, Heinrich George oder Marlene Dietrich. Das kam an.

In der Krise sang er auf Schwäbisch

Der Höhepunkt von Reicherts seriöser Theaterlaufbahn war gekommen, als Kraushaar 1929, ein halbes Jahr nach der Berliner Premiere, die "Dreigroschenoper" aufführte. Bertolt Brecht und Kurt Weill, Autor und Komponist, besuchten die Proben in Stuttgart. Reichert spielte die Hauptrolle, den "Mackie Messer". In 120 Aufführungen. Von nun an wurde er in der Königstraße mit "Grüß Gott, Herr Reichert" angesprochen. Oder auch: "Grüß Gott, Herr Messer."

Die Wende kam durch die Weltwirtschaftskrise. Kraushaar musste sein Ensemble entlassen. Doch Reichert war nun bekannt genug, um nicht lange auf Angebote warten zu müssen. In der Krise war Unterhaltung gefragt. Er trat im Radio auf – nunmehr auf Schwäbisch – und besang Schallplatten. Besonders beliebt: "Auf der schwäb'schen Eisebahne" und "I bin Soldat, vallera!", wobei Reichert, ohne explizit viel zu sagen, seine distanzierte Haltung zur Zwangsverpflichtung im Ersten Weltkrieg durchblicken ließ.

Der Lieblings-"Häberle und Pfleiderer" von Kontext-Autor Dietrich Heißenbüttel.

Bald war Reichert künstlerischer Leiter des Pavillon Excelsior ("EX"), dem zweiten Varietétheater der Stadt, aufgebaut von Emil Neidhart. 1931 übernahm er Kraushaars Leute. "Häberle und Pfleiderer" entstand aus der Übersetzung eines ungarischen Sketchs namens "Friedenskonferenz", der die Bemühungen des Völkerbunds karikierte, Angriffskriege als völkerrechtswidrig zu ächten. Am Ende des zwölfminütigen Stücks gehen sich die Minister gegenseitig an die Gurgel. Anfangs gab Charly Wimmer den Häberle, ein Kollege, der mit Reichert vom Schauspielhaus gekommen war. Doch nach zwei Wochen kaufte der sich ein neues Motorrad, das bei der Jungfernfahrt an einem Baum landete. Sein Beifahrer war tot, er selbst schwer verletzt.

So kam Oscar Heiler ins Spiel. Reichert hatte seinen größten Fan, ursprünglich Buchhändler, ans Alte Schauspielhaus geholt. Dann musste ihm wegen eines Tumors im Knie ein Bein amputiert werden. Doch Heiler gab nicht auf. Er war der Einzige am EX, der die Häberle-Rolle auswendig konnte. Heiler war Kommunist. Er stand, wie Jaedicke schreibt, "so weit links, dass man ihn kaum mehr sehen konnte". Das störte Reichert nicht, es blieb seine Privatangelegenheit.

Arisierungs-Profiteur, aber kein Nazi-Anhänger

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde Julius Grauaug, der künstlerische Leiter des Friedrichsbaus – dem Varieté Nummer eins – aus seiner Position gedrängt. Reichert folgte auf ihn und wurde so Direktor des ersten Unterhaltungstempels der Stadt: mit Akrobat:innen, Schwertschlucker:innen, dem Clown Grock und was so ein Varieté eben zu bieten hat. Freilich trat er weiter im Rundfunk auf, spielte Theaterrollen und produzierte Schallplatten. Als populärer Botschafter der Schwaben ging er mit Oscar Heiler regelmäßig auf Tournee.

Er war also ein Arisierungs-Profiteur. Aber kein Anhänger der Nazis. Einmal betrat er mit erhobenem rechtem Arm den Saal. Als das Publikum schon aufstehen wollte, um den Hitlergruß zu erwidern, winkte er ab: "So hoch habe ich meine Küche mit Ölfarbe gestrichen", erklärte er. Brüllendes Gelächter. Als Joseph Goebbels seinen Roman "Michael – ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern" von ihm auf Schallplatte eingesprochen haben wollte, schützte Reichert Terminschwierigkeiten vor. Die Aufnahme kam nicht zustande.

1937 konnte sich Reichert allerdings nicht der Forderung erwehren, den Stuttgarter Faschingsprinzen zu spielen. Dabei war ihm solch kollektiver Frohsinn ein Graus. Reichert blieb skeptisch. Als Stuttgart, einschließlich des Friedrichsbaus, in Trümmer ging, hatte er sich längst auf einen Landsitz in der Nähe des Chiemsees zurückgezogen. Er war nun reich genug, hier mit seiner zweiten Frau und dem geliebten ersten Sohn – der dann allerdings einer Diphtherie zum Opfer fiel – bis zum Kriegsende zu überwintern.

Eine fast vergessene Institution

Im Kabarett "Die Mausefalle" in der Tübinger Straße fing er 1949 wieder an. Sein erster Auftritt war ein Riesenerfolg. Die Stuttgarter:innen hatten ihn – anders als heute – noch nicht vergessen. Als das Südwest-Fernsehen 1954 seinen Betrieb aufnahm, war Reichert an der ersten Sendung beteiligt. Er war Stuttgarter durch und durch, sprach Honoratiorenschwäbisch und schlotzte abends im Ratskeller sein Viertele. Er war eine Institution.

Sein etwas behäbigeres Auftreten im Alter prägt das Bild, das die Nachwelt von ihm hat. Doch auch auf Brecht kam er noch einmal zurück. Theodor Heuss ließ es sich nicht nehmen, dabei zu sein, als Reichert 1962 in München Brechts "Flüchtlingsgespräche" aufführte.

Nach seinem Tod am 8. Dezember 1973 wurde es sehr schnell still um Willy Reichert. Doch gänzlich wirkungslos blieb er dennoch nicht: Der Kabarettist Uli Keuler hat beim Rhetorik-Professor Walter Jens in Tübingen über "Häberle und Pfleiderer" promoviert. "Mit 'Häberle und Pfleiderer'", so Keuler, "bot sich die Gelegenheit zu zeigen, dass das, was da aus der schwäbischen Volksseele zu strömen schien, aus einem weitverzweigten künstlichen Röhrensystem kam. Und dass gerade das vermeintlich Urwüchsige und Zeitlose auf sehr moderne Bedürfnisse des Publikums reagiert."

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


1 Kommentar verfügbar

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!