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Stuttgarter Staatstheater

Hoppla, Agrest ante portas

Stuttgarter Staatstheater: Hoppla, Agrest ante portas
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Überraschende Wende im Fall Agrest: Der geschasste Stardirigent steht vor der Rückkehr ans Stuttgarter Staatstheater. Das Kunstministerium ist die negativen Schlagzeilen leid. Und günstiger ist es so auch.

Bisweilen ist es gut, wenn jemand noch nicht lange im Amt ist und weiß, wovon er spricht. In diesem Fall ist der badische Landtagsabgeordnete Christian Jung (44) so einer. Seit einem Jahr sitzt er für die FDP im Verwaltungsrat der Württembergischen Staatstheater und wundert sich, dass er von Konflikten hinter den Kulissen meist nur aus der Presse erfährt. Und nicht von der zuständigen Ministerin, Theresia Bauer von den Grünen, die qua Amt dem Gremium vorsitzt.

Die "furchtbare Geschichte" um den Karlsruher Intendanten Peter Spuhler hätte ein Lehrstück für sie sein können, sagt der beurlaubte Oberstudienrat Jung, Fachrichtung Politik und Germanistik. Der Chef des Badischen Staatstheaters war nach langem Gezerre im Juli 2021 entlassen worden, nachdem sein "autokratisches Regiment" (FAZ) nicht mehr zu verschweigen war. Diese Form der Herrschaft ist auch in Stuttgart nicht unbekannt, aktuell verbunden mit dem Namen Mikhail Agrest. Jung ist der bisher erste und einzige Verwaltungsrat, der öffentlich nach den Vorgängen um den russischen Musikdirektor fragt.

Der Verwaltungsrat: eine Runde von Ahnungslosen

Offiziell haben sie alle keine Ahnung, keine Informationen von der Ministerin. Im Protokoll vom 25. Oktober 2021 steht nichts über die außerordentliche Kündigung des Stardirigenten zehn Tage zuvor. Erste Nachrichten über den cholerischen Schattenintendanten Reid Anderson, der Agrest vom Pult weg haben wollte, bringt das "Ballet-Journal" einen Monat später. Darauf folgt Kontext mit einer Reihe von Artikeln, die nachzeichnen, wie die Dinge gelaufen sind, wie sie im Rahmen der "konsolidierten Kommunikation" von Marc-Oliver Hendriks, dem geschäftsführenden Intendanten, verbreitet werden (oder auch nicht), und wie sie schließlich in eine erste Verhandlungsrunde vor dem Bühnenschiedsgericht in Frankfurt münden.

Ausgabe 562, 05.01.2022

Der Schattenintendant

Von Josef-Otto Freudenreich und Rupert Koppold

Der Fall des geschassten Musikdirektors Mikhail Agrest wirft dunkle Schatten auf das Stuttgarter Ballett. Mittendrin thront ein Mann, der offensichtlich heuern und feuern kann, wie er will – obwohl er kein Amt hat: Reid Anderson. Aber er hat John Cranko.

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FAZ, SWR, "Süddeutsche" und eine schüchterne Lokalpresse steigen mit ein, das Staatstheater bleibt seiner harten Linie treu: kein Fußbreit zurück von der Kündigung. Ballett-Intendant Tamas Detrich, den Hendriks ins Feuer schickt, schiebt noch nach, er müsse seine TänzerInnen vor Agrests Tempo schützen. Was immer das heißen soll.

Das Ministerium für Wissenschaft und Kunst (MWK), das die Staatstheater kontrollieren soll, handelt wie im Fall Karlsruhe. Erstmal gar nicht. Wortreich wird erläutert, dass Kündigungen Sache der Intendanz seien, hier mische man sich nicht ein. Dass ein Theater dadurch in eine "Reputationsschieflage" geraten kann, wie der FDP-Politiker Jung befürchtet, und im Zuge dessen auch die Oberaufseherin Bauer, scheint vernachlässigbar zu sein.

Demokratie: nur gespielt

Eine Schieflage ist ja offenbar auch keine badisch-schwäbische Spezialität: Eine Befragung von 2.000 Theaterleuten hat ergeben, dass es an zwei Dritteln der deutschen Bühnen brodelt, sich Widerstand entwickelt gegen die "Omnipotenz der Intendanten". Das hat der Professor für Theatermanagement, Thomas Schmidt, 2019 zusammengetragen und auf die ganze Widersprüchlichkeit hingewiesen. Auf der Bühne würden Gerechtigkeit, Teilhabe und Demokratie verhandelt – "und hinter den Kulissen wird genau das nicht gelebt", bilanziert Schmidt. In seinem Buch "Macht und Struktur im Theater" ist nachzulesen, warum diese Omnipotenz auf dem Fehlen demokratischer Strukturen gründet.

Konkret zu erkennen ist es am bescheidenen Wirkungsgrad des Stuttgarter Personalrats. Nach der Rechtslage, § 103 Landespersonalvertretungsgesetz, hat er, im grün geführten Baden-Württemberg, bei den KünstlerInnen kein Mitspracherecht. Das seien "feudale Zustände" heißt es in dem Gremium, wo man sich schon glücklich schätzt, wenn im Verwaltungsrat ein Platz zum Zuhören ist. Anträge auf Mitsprache seien von der Geschäftsführung "knallhart abgelehnt" worden. Wer öffentlich sagt, wie jüngst im SWR geschehen, im Haus herrsche ein "Klima der Angst", lebt gefährlich.

Ausgabe 574, 30.03.2022

Au Backe, Staatstheater

Von Josef-Otto Freudenreich

Die Kündigung von Stardirigent Mikhail Agrest ist unwirksam, urteilt das Bühnenschiedsgericht in Frankfurt. Für das Stuttgarter Staatstheater ist das ein Schlag ins Gesicht, aber kein Grund zur Einsicht. Szenen aus dem Gerichtssaal.

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Nach der zweiten Verhandlung vor dem Bühnenschiedsgericht wird es für die Bauer-Behörde kommunikativ noch enger. Das Frankfurter Urteil ist vernichtend. Die Kündigung ohne wichtigen Grund, ohne Schutz des Arbeitnehmers, unwirksam, Agrest bleibe Musikdirektor. Was jetzt tun? Über fünf Instanzen aussitzen? Das wäre ein mediales Desaster. Eine sechsstellige Abfindung bezahlen? Zu viel. Der Karlsruher Spuhler war schon extrem teuer, von Ansprüchen von über einer Million war die Rede. Das Stuttgarter Staatstheater spricht im Fall Agrest von einer "ungewöhnlich" hohen Summe, Intendant Detrich von seiner "wirtschaftlichen Verantwortung". Von einem in Stein gemeißelten Rausschmiss kein Wort mehr.

Auch das Ministerium zeigt sich plötzlich ausgesprochen kostenbewusst. Auf Anfrage von Kontext verweist Sprecherin Denise Burgert ("Wir kümmern uns") auf die Landeshaushaltsordnung, die auferlege, zu prüfen, ob ein Vergleich "wirtschaftlich und zweckmäßig" sei. Letzteres vermochte sie bei dem Frankfurter Urteil, das sich an den Ansprüchen Agrests orientierte, nicht erkennen. Aus ihrer Sicht werde die Sach- und Rechtslage durch den finanziellen Rahmen "nicht angemessen abgebildet". Deshalb hätten die Staatstheater den Vergleich abgelehnt. Sie hätte auch sagen können: ablehnen müssen.

Hendriks & Co. müssen die Zähne zusammen beißen

Und was nun? Auffällig ist, dass das Ministerium seine Zurückhaltung aufgegeben und bemerkt hat, dass die Steuergemeinde für all das aufkommen muss, was sich an Kosten für Abfindungen, Anwälte und Prozess ansammelt. Jetzt verweist es auf seine Pflichten als Rechtsaufsicht und macht keinen Hehl daraus, dass die (nicht abgesprochene) Kündigung arbeitsrechtlich ein Fiasko war. Ein Rausschmiss ohne Abmahnung, ein stures Nein zu allen Vermittlungsangeboten des Gerichts, ein hilfloser Anwalt, der bei Rückrufen auf tote Telefone bei der Intendanz stößt – das ist sauer aufgestoßen und hat Distanz aufgebaut. In den oberen Mininsteriums-Etagen ist nun von einer "unerfreulichen Gesamtlage" die Rede.

Im politischen Geschäft ist das ungünstig. Also muss die Kuh vom Eis. Und dafür deutet sich eine Lösung an, die ganz einfach ist: Agrest wird weiter beschäftigt. Zumindest bis zum Ende seines Vertrags, der im August 2023 ausläuft. Bis dahin arbeitet der 47-jährige Stardirigent für sein Geld, die Herren Anderson, Detrich und Hendriks beißen die Zähne zusammen, versenken ihre Säbel im Eckensee, mit der Chance, ihr monarchistisches Machtgefüge mit einer neuen, beweglicheren Struktur auszustatten, was allerdings voraussetzen würde, dass sie ihre nächste Attacke vom Ende her denken müssten.

Mikhail Agrest sagt, er wäre bereit, wieder mitzuspielen. Einsatzmöglichkeiten gibt es mehrere im größten Spartentheater Europas, da müsste sich etwas finden lassen. So steht nur noch der Verwaltungsrat aus, der sich am kommenden Montag im Stuttgarter Rathaus des Themas annimmt. Den Vorsitz hat in diesem Jahr Oberbürgermeister Frank Nopper, der sich das Versöhnen von verfeindeten Bürgerinnen und Bürgern auf die Fahnen geschrieben hat. Chapeau, wenn er das schafft.


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1 Kommentar verfügbar

  • A. Reinhardt
    am 09.04.2022
    Antworten
    Na womöglich darf er endlich Opern dirigieren - das war das, was er von Anfang an bezweckte mit seinen Aktionen. Herzlichen Glückwunsch, Kontext!
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