Freilich vertraten die Rundfunkanstalten einen tendenziell elitären, nicht immer zeitgemäßen Kulturbegriff. Bis Alfred Andersch 1955 die Redaktion Radio Essay ins Leben rief, waren junge Autoren und solche, die ins Exil gegangen waren, in den SDR-Literatursendungen kaum vertreten. Eine der raren Ausnahmen war eine Sendung von Martin Walser, der 1952 den "literarischen Avantgardisten" Arno Schmidt vorstellte. Hörspiele, zu denen sich die Familien abends vor dem Radiogerät versammelten, hatten nur selten das Niveau von Günter Eichs "Die andere und ich", für das der Autor 1952 den Hörspielpreis der Kriegsblinden bekam. Mit Andersch, der seit 1948 das Frankfurter Abendstudio und 1952 zusätzlich das Nachtprogramm des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) geleitet hatte, änderte sich das Programm. Nun waren auch die Autoren der Gruppe 47, Theodor W. Adorno, der einflussreiche Guru des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, und die französischen Autoren des Nouveau Roman regelmäßig im Radio zu hören.
Jazz war erwünscht. Auch hier spielte der SWR eine Pionierrolle, der als ersten Redakteur überhaupt 1945 den "Jazzpapst" Joachim Ernst Berendt einstellte. Berendt, dessen Jazzbuch Hunderttausenden die amerikanische Musikrichtung erklärte, hatte bereits im Krieg in einem Soldatensender Jazz aufgelegt. Das von ihm 1966 ins Leben gerufene Baden-Badener Free Jazz Meeting, das unter anderem 1969 die Musiker des Art Ensemble of Chicago bekannt machte, wurde zu besten Zeiten sogar im Fernsehen übertragen. Aber auch beim Südfunk Stuttgart spielte der Jazz eine Rolle. 1955 rief Dieter Zimmerle die Konzertreihe Treffpunkt Jazz ins Leben, 1969 gründete er mit Wolfgang Dauner die Radio Jazz Group. Als der SDR die Treffpunkt-Jazz-Konzerte Ende der 1970er-Jahre einstellte, stürzte dies den Jazz in Stuttgart in eine lang anhaltende Krise: Für internationale Größen, die bis dahin wie selbstverständlich in der Liederhalle aufgetreten waren, fehlten nun Geld und ein Forum.
Eines hatte der Rundfunk verpasst: Rock 'n' Roll war in den 1950er-Jahren überhaupt nicht zu hören, selbst zu Zeiten der Beatlemania fand die Jugendkultur nur äußerst zögerlich Eingang in die Programme. Ersatz bot der Privatsender Radio Luxemburg, der über Mittelwelle zu empfangen war und dem öffentlichen Rundfunk scharenweise junge Hörer abspenstig machte. Ganz allmählich begann in den 1960er-Jahren ein Umdenken, ausgehend von den ursprünglich als "Gastarbeiterradio" gedachten dritten Programmen. "Club 16" (SDR), "Musik-Report" (BR), "Pop Shop" (SWF) hießen die Sendungen, die zuerst nur stundenweise gesendet wurden, bevor daraus die sogenannten Servicewellen wurden, die Popmusik und kurze anspruchslose Wortbeiträge mit Nachrichten und aktuellen Verkehrsmeldungen kombinierten.
Diskussion mit Rudi Dutschke kostete den Redakteur den Job
Die Servicewellen generierten Werbeeinnahmen und sparten den Sendern viel Aufwand: Ein einziger Redakteur bediente Mikrofon und Geräte, die Schallplattenindustrie lieferte gratis die Tonträger, wohl wissend, welchen Absatzmarkt sie sich damit erschloss. Mit einem etwas anspruchsvolleren Programm suchte SWF 3 gegenzusteuern. Der SDR antwortete mit "POINT", einer Sendung am Nachmittag, welche Anliegen der Jugendlichen ernst nehmen wollte. Dies barg zahlreiche Konflikte: Eine Diskussion mit Rudi Dutschke und ein Auftritt der schwulen Kabarettgruppe Brühwarm kostete Redakteur Hendrik Bussiek 1976 den Job, der später als Berater an der Demokratisierung des Rundfunks in Südafrika und Montenegro mitwirkte. Im Verlauf der nächsten zehn Jahre wurde die Sendung zunehmend entpolitisiert.
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Peter Titz
am 08.07.2014