KONTEXT:Wochenzeitung
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Quote killt Radiokultur

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Der Rundfunk war das Aushängeschild der jungen Bundesrepublik. In seinen Programmen sollte sich zeigen, dass das Land der Dichter und Denker nach dem braunen Terror wieder in den Kreis der Kulturnationen zurückgekehrt war. Dann kam das Fernsehen. Und die Einschaltquote. Wird der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinem Kulturauftrag noch gerecht?

Die Violinistin Anne-Sophie Mutter ist dabei, die Rektoren aller fünf Musikhochschulen Baden-Württembergs und der CDU-Bundestagsabgeordnete Stefan Kaufmann; ebenso der kulturpolitische Sprecher der Grünen im Landtag, Manfred Kern, Opernintendant Jossi Wieler und Hansjörg Bäzner, der Chefarzt des Klinikums Stuttgart: Sie alle stellen sich als Paten (<link http: www.orchesterpaten.de>www.orchesterpaten.de) symbolisch hinter jeweils einen Musiker des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg, das von Abwicklung bedroht ist. Ab 2016 soll das Freiburger Orchester mit dem Stuttgarter zu einem einzigen verschmolzen werden. Ein "verheerendes kulturpolitisches Signal", findet Bundestagspräsident Norbert Lammert.

"Wir wollen zeigen", sagt Cornelius Hauptmann, Vorstandvorsitzender des Tonkünstlerverbands Baden-Württemberg und einer der Initiatoren, "dass viele – zum Teil sehr prominente – Persönlichkeiten aus dem ganzen Land, aus so unterschiedlichen Bereichen wie Medien, Kultur, Wissenschaft, Medizin, Bildung, Politik und Wirtschaft hinter dem Orchester stehen. Wir machen uns Sorgen um den kulturellen Reichtum unseres Landes. Über 2000 Kinder und Jugendliche, die schon in den letzten Jahren von Orchestermitgliedern betreut, pädagogisch an die Hand genommen und für die Musik begeistert werden konnten, würden durch eine Orchesterauflösung im Stich gelassen."

Als sich unmittelbar nach dem Krieg die Rundfunkorchester gründeten, war dies noch kein Akt der Kulturförderung, sondern schlicht sendetechnische Notwendigkeit. Tonband gab es noch nicht. Aufnahmen, wenn überhaupt, existierten allenfalls in schlechter Qualität und nicht länger als drei, vier Minuten. Konzerte wurden live übertragen. Live aus dem Stuttgarter Opernhaus kündigte Beethovens Neunte am 8. Juli 1945 die Ablösung der französischen durch die amerikanischen Besatzer an. Im Dezember gründete sich dann ein Orchester mit vorerst 25 Musikern. 1946 kam ein Chor dazu – heute SWR Vokalensemble, 1947 das Radio-Orchester, das vorwiegend damals sehr beliebte Operetten-Melodien spielte, und 1951 Erwin Lehns Tanzorchester, aus dem später die SWR Big Band hervorging.

Aber die Orchester spielten nicht nur für den Sendebetrieb – in Stuttgart seit 1951 im Großen Sendesaal der Villa Berg. Die Rundfunkanstalten betätigten sich auch als Konzertveranstalter. So rief der Süddeutsche Rundfunk (SDR) 1952 die Schwetzinger Festspiele ins Leben: Schwetzingen deshalb, um die nordbadische Region gegenüber Stuttgart nicht zu benachteiligen. Die Sendegebiete von SDR und Südwestfunk (SWF) verliefen, den Besatzungszonen entsprechend, quer zu den Landesgrenzen von Baden und Württemberg. In der französischen Zone musste sich der Rundfunk ganz neu erfinden. Baden-Baden wurde das Zentrum, weil die Franzosen den wenig zerstörten Kurort als Verwaltungssitz gewählt hatten.

Von Anfang an betätigte sich der Rundfunk auch als Auftraggeber für Werke der neuesten Musik. "Ohne die Rundfunkanstalten", so der Redakteur des Hessischen Rundfunks, Leo Karl Gerhartz, später, "hätte es eine Neue Musik zwischen 1950 und 1970 so, wie sie stattgefunden hat, nicht gegeben." Als Konzertveranstalter machte der Bayrische Rundfunk (BR) 1945 mit der Reihe Musica Viva den Anfang. In Stuttgart fanden die Tage zeitgenössischer Musik erstmals im Juli 1950 statt. Ganz besonders tat sich der SWF hervor. Heinrich Strobel, von Anfang an Leiter der Musikabteilung, war die Neue Musik ein spezielles Anliegen. Er berief mit Hans Rosbaud einen Dirigenten, der sich auf diesem Gebiet besondere Verdienste erworben hatte, und führte Werke verfemter Komponisten wie Gustav Mahler oder Arnold Schönberg wieder auf. 1950 übernahm der SWF die Programmgestaltung der Donaueschinger Musiktage, des 1921 gegründeten, ältesten und wichtigsten Festivals für zeitgenössische Musik. Viele Werke junger Komponisten wie Hans Werner Henze, Bernd-Alois Zimmermann, Pierre Boulez oder Karlheinz Stockhausen waren in Baden-Baden oder Donaueschingen zum ersten Mal zu hören. 

Keine seichte Unterhaltung, sondern ein Kulturinstrument

"Ein Sender ist ein Kulturinstrument", meinte der Stuttgarter Intendant Fritz Eberhard 1951, und sein Programmdirektor Peter Kehm stellte fest: "Der Rundfunk als Kulturinstitut und nicht als Instrument unverbindlicher Unterhaltung oder gar seichter Unterhaltung, in dieser Forderung hat in allen Beratungen der Programmausschüsse des Rundfunkrates eine erfreuliche Übereinstimmung geherrscht." Die 1951 ins Leben gerufene "Woche der leichten Musik" war keineswegs als Forum zur weiteren Verbreitung von Schlagern und Operettenmelodien gedacht. Es ging eher darum, wie Eberhard betonte, "wie man das Niveau der leichten Musik heben kann." "Dauerberieselung" war nicht beabsichtigt, nur begrenzt wollte der Rundfunk den Wünschen der Schallplattenindustrie und der Hörer nachgeben. Mit dem Stempel "L. M." – für Lieschen Müller – oder der Anmerkung "Nur für Wunschkonzert" wurden "noch vertretbare Schnulzen" gekennzeichnet. Aufnahmen wurden nicht ins Schallarchiv übernommen, "wenn der Dilettantismus allzu große Triumphe feiert".

Freilich vertraten die Rundfunkanstalten einen tendenziell elitären, nicht immer zeitgemäßen Kulturbegriff. Bis Alfred Andersch 1955 die Redaktion Radio Essay ins Leben rief, waren junge Autoren und solche, die ins Exil gegangen waren, in den SDR-Literatursendungen kaum vertreten. Eine der raren Ausnahmen war eine Sendung von Martin Walser, der 1952 den "literarischen Avantgardisten" Arno Schmidt vorstellte. Hörspiele, zu denen sich die Familien abends vor dem Radiogerät versammelten, hatten nur selten das Niveau von Günter Eichs "Die andere und ich", für das der Autor 1952 den Hörspielpreis der Kriegsblinden bekam. Mit Andersch, der seit 1948 das Frankfurter Abendstudio und 1952 zusätzlich das Nachtprogramm des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) geleitet hatte, änderte sich das Programm. Nun waren auch die Autoren der Gruppe 47, Theodor W. Adorno, der einflussreiche Guru des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, und die französischen Autoren des Nouveau Roman regelmäßig im Radio zu hören.

Jazz war erwünscht. Auch hier spielte der SWR eine Pionierrolle, der als ersten Redakteur überhaupt 1945 den "Jazzpapst" Joachim Ernst Berendt einstellte. Berendt, dessen Jazzbuch Hunderttausenden die amerikanische Musikrichtung erklärte, hatte bereits im Krieg in einem Soldatensender Jazz aufgelegt. Das von ihm 1966 ins Leben gerufene Baden-Badener Free Jazz Meeting, das unter anderem 1969 die Musiker des Art Ensemble of Chicago bekannt machte, wurde zu besten Zeiten sogar im Fernsehen übertragen. Aber auch beim Südfunk Stuttgart spielte der Jazz eine Rolle. 1955 rief Dieter Zimmerle die Konzertreihe Treffpunkt Jazz ins Leben, 1969 gründete er mit Wolfgang Dauner die Radio Jazz Group. Als der SDR die Treffpunkt-Jazz-Konzerte Ende der 1970er-Jahre einstellte, stürzte dies den Jazz in Stuttgart in eine lang anhaltende Krise: Für internationale Größen, die bis dahin wie selbstverständlich in der Liederhalle aufgetreten waren, fehlten nun Geld und ein Forum.

Eines hatte der Rundfunk verpasst: Rock 'n' Roll war in den 1950er-Jahren überhaupt nicht zu hören, selbst zu Zeiten der Beatlemania fand die Jugendkultur nur äußerst zögerlich Eingang in die Programme. Ersatz bot der Privatsender Radio Luxemburg, der über Mittelwelle zu empfangen war und dem öffentlichen Rundfunk scharenweise junge Hörer abspenstig machte. Ganz allmählich begann in den 1960er-Jahren ein Umdenken, ausgehend von den ursprünglich als "Gastarbeiterradio" gedachten dritten Programmen. "Club 16" (SDR), "Musik-Report" (BR), "Pop Shop" (SWF) hießen die Sendungen, die zuerst nur stundenweise gesendet wurden, bevor daraus die sogenannten Servicewellen wurden, die Popmusik und kurze anspruchslose Wortbeiträge mit Nachrichten und aktuellen Verkehrsmeldungen kombinierten.

Diskussion mit Rudi Dutschke kostete den Redakteur den Job

Die Servicewellen generierten Werbeeinnahmen und sparten den Sendern viel Aufwand: Ein einziger Redakteur bediente Mikrofon und Geräte, die Schallplattenindustrie lieferte gratis die Tonträger, wohl wissend, welchen Absatzmarkt sie sich damit erschloss. Mit einem etwas anspruchsvolleren Programm suchte SWF 3 gegenzusteuern. Der SDR antwortete mit "POINT", einer Sendung am Nachmittag, welche Anliegen der Jugendlichen ernst nehmen wollte. Dies barg zahlreiche Konflikte: Eine Diskussion mit Rudi Dutschke und ein Auftritt der schwulen Kabarettgruppe Brühwarm kostete Redakteur Hendrik Bussiek 1976 den Job, der später als Berater an der Demokratisierung des Rundfunks in Südafrika und Montenegro mitwirkte. Im Verlauf der nächsten zehn Jahre wurde die Sendung zunehmend entpolitisiert.

Seit den 1960er-Jahren hatte das Fernsehen dem Rundfunk den Rang abgelaufen. Wenn auch sowohl der NWDR 1951 als auch 1963 das ZDF ihr allererstes Programm mit einem "Vorspiel auf dem Bildschirm" frei nach Goethes "Faust" einleiteten, spielte Kultur hier eine untergeordnete Rolle. Gerry Schums "Fernsehgalerie", zweimal ausgestrahlt 1967 und 1970 mit Künstlern wie Joseph Beuys oder Daniel Buren, wurde schnell wieder abgesetzt. Samuel Becketts in den 1980er-Jahren am SDR aufgenommene abstrakte Choreografie unter dem Titel "Quad", "Square" oder "Quadrat" bleibt ein Einzelfall. Dass zur besten Sendezeit ausführlich über die Documenta berichtet würde wie in Korea, wo in Gwangju 1995 die bisher größte Kunstausstellung der Welt stattfand, erscheint im deutschen Fernsehen ebenso undenkbar wie avantgardistische Literatur oder zeitgenössische Musik.

Der kultivierte Hörfunk geriet zusehends in Legitimationszwang. Durch Umfragen hatten die Rundfunkanstalten schon früh herauszufinden versucht, wie viele Zuhörer den einzelnen Sendungen lauschten. Mit der geballten Konkurrenz von Fernsehen, den Servicewellen und seit 1984 privatem Rundfunk und Fernsehen wurde die Einschaltquote immer mehr zum Totschlagargument gegen jegliches nicht massenwirksame Programm. Eher ungewollt, so will es scheinen, schleppt der Rundfunk seine ursprünglichen Errungenschaften, die nun in eigene Sender ausgelagerten Kulturprogramme, die Konzertveranstaltungen, Orchester und Chöre weiter mit sich herum. Dass dabei ein so weltweit renommierter Klangkörper wie das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg einem finanziellen Kalkül geopfert werden soll, spricht vom Kulturbewusstsein des heutigen Intendanten und Rundfunkrats.

Fünf Millionen müsse er bei den Orchestern jährlich einsparen, hatte Peter Boudgoust angegeben. Nun, wo sich auf Initiative der grünen Fraktionsvorsitzenden im Landtag, Edith Sitzmann, am 16. Juli eine "Träger- und Geberkonferenz" trifft, um über Alternativen zu beraten, sind daraus auf einmal elf Millionen geworden. So viel kostet eine einzige Staffel der Talkshows von Günter Jauch. Unterdessen hat die Stadt Freiburg beschlossen, dem Orchester die Miete für das Konzerthaus zu erlassen, und private Stifter übernehmen bisher jährlich 400 000 Euro. Die Rundfunkanstalten denken in anderen Zahlen: Durch die Umstellung auf die Haushaltsgebühr hat die ARD jährliche Mehreinnahmen in Höhe von einer Milliarde Euro. Beim SWR müssten davon rund 100 Millionen hängen bleiben: genug, um bereits nach einem Jahr den Fehlbetrag von fünf Millionen Euro für die nächsten 20 Jahre vorzuschießen.


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11 Kommentare verfügbar

  • Peter Titz
    am 08.07.2014
    Antworten
    Zu den 2000 Kindern, die vom Orchester musikpädagogisch geschult wurden: Was ja mittlerweile durchgesickert ist, ist das unsaubere Spiel der "Orchesterretter" in diesem Punkt: Da werden hemmungsfrei SWR-Education-Programme zusammengeworfen mit dem privaten Engagement einzelner Orchestermusiker, sei…
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