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Auf der Straße

Fieberwahn

Auf der Straße: Fieberwahn
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Solange ich mich in Stuttgarts halbwegs städtisch wirkenden Gegenden bewege, gibt es keine weiten Entfernungen. Steuere ich vom Westen der Stadt, etwa von der Ecke Rotebühl-/Schwabstraße, meinen Heimathafen Kernerplatz an der Grenze von Mitte und Ost an, gehe ich selbstverständlich zu Fuß. Kostet kaum Kraft und nicht viel Zeit. Wenn du bedenkst, dass Füße 26 Knochen, 33 Gelenke und mehr als 100 Sehnen, Muskeln und ähnliches Zeugs haben, ist eine solche Strecke ein Klacks, sofern du gesund bist. Beinarbeit hat zuweilen den Vorteil, dass unterwegs auch das Hirn oder dessen Reste in Gang kommen. Unterwegs sammle ich Eindrücke, in aller Regel mit der Kamera meines Taschentelefons. Zu Beginn meiner Geher-Laufbahn musste ich noch ständig zu Stift und Notizbuch greifen, wurde oft beäugt wie eine Politesse.

Die Frage, was gesammelte Eindrücke von unserer dunklen Geschichte heute noch nützen, stelle ich mir nicht mehr. Sicher ist: Am meisten aus unserer Geschichte gelernt haben die heutigen Nazis. Sie gehen viel gerissener vor, als viele denken. Überzeugte Nicht-Nazis intonieren unterdessen "Nie wieder!" und "Nie wieder ist jetzt!", und in Wahrheit ist es jetzt wieder, wie es nie wieder sein sollte.

Von West nach Ost. In der Rotebühlstraße 147 wohnte einst Clara Eißner (später Zetkin), in Nummer 145 Robert Bosch, und einen Stock über ihm Karl Kautsky. Der große sozialdemokratische Denker aus Österreich, zuvor Friedrich Engels Sekretär in London, lebte von 1890 bis 1897 in Stuttgart. Als Chefredakteur leitete er "Die neue Zeit", eine für die sozialdemokratische Bewegung wichtige Zeitschrift, die im Dietz-Verlag erschien. Das alles kannst du dir auch ohne Internet relativ schnell zusammensuchen, nachdem du auf der Straße die Tafel zur Erinnerung an Robert Bosch geknipst hast. 

Der Dietz-Verlag, einst in der Furtbachstraße, spielt eine große Rolle in der Geschichte der demokratischen Presse. Sein erfolgreichstes Organ war das sozialdemokratische Satiremagazin "Der wahre Jakob". 1912 hatte es eine Auflage von 380.000 Exemplaren. Im Ersten Weltkrieg waren es immerhin noch 160.000, nach 1918 erreichte das Blatt eine Auflage von 200.000 und war damit so stark wie der berühmte "Simplicissismus". "Der wahre Jakob" erschien viele Jahre in Stuttgart, und als Herumgeher mit Blick auf den Geist der Stadt frage ich mich: Wo ist in diesem komischen Kaff der verdammte Humor geblieben? Neulich kam ich vor den Theaterbühnen unterm Tagblattturm an einer dieser metallenen Aschenbecherröhren vorbei, und irgendein wahrer Jakob hat darauf die Sprayer-Message hinterlassen: "Satire". So ist das. Satire ziert hier einen Mülleimer. Darüber klebt ein Abziehbildchen mit der Botschaft "FCK PTN", vermutlich nicht das Logo eines Fußballklubs.

Fußball zwischen Slapstick und Rudelglotzen

In meinem Umfeld wird mir schon lange jede Fußballkompetenz abgesprochen. Regelmäßig marschiere ich mit einer Stehblock-Dauerkarte zu den Spielen der Stuttgarter Kickers auf die Waldau, wo die Luft gut ist und das Leben hart. Unser ruhmreicher Verein spielt zurzeit in der vierten Liga, weshalb ich von Champions-League-verblendeten Schnöseln nicht ernst genommen werde. Alles Leute, die keinen Funken Klassenbewusstsein besitzen. Womöglich ist die Kickers-Ebene Regionalliga nicht zwingend der wahre Jakob im großen Showbusiness. Aber mit Sinn für Humor und Spaß am Slapstick eine große Sache.

Zurzeit bereitet sich Stuttgart auf die größte medizinische Katastrophe seit der Corona-Pandemie vor. In "unserer Stadt", hat der OB neulich via Social Media Alarm gegeben, sei das "Pokalfieber" ausgebrochen. Diese Krankheit hat vor allem ihn selbst erfasst, weithin ist er berühmt als oberster Dorfrummel-Hooligan im Rathaus. Auslöser der Aufregung ist ein Fußballspiel, das am 24. Mai 2025 zwischen Arminia Bielefeld und dem VfB Stuttgart stattfindet. Austragungsort ist das Berliner Olympiastadion, es geht um das DFB-Pokalfinale. Arminia Bielefeld, dies zum besseren Verständnis, spielt in der aktuellen Saison in der dritten Liga und damit eine Klasse höher als die Kickers. Deshalb geht es bei diesem Weltereignis um die ganz große Challenge für das Image der Stadt. Bielefeld schlagen oder sterben.

Und weil jetzt im Kessel die Seuche grassiert, wird eine Woche oder länger der Rasen auf dem Schlossplatz gesperrt, um genügend Lazarettgelände für Therapiemaßnahmen herzurichten. Zur psychischen Behandlung der Patienten wird eine Arena für die Fernsehübertragung aufgebaut, in Fachkreisen Public Viewing genannt. Eine Bezeichnung, die in England für das öffentliche Aufbahren Verstorbener verwendet wird und in Deutschland das schöne Wort "Rudelglotzen" verdrängt hat. 

Um das Ganze bezahlen zu können, steuert die Stadtverwaltung dem Erstligisten VfB fürs öffentliche Fernsehgucken einen Benefiz-Betrag von 275.000 Euro bei. Dieser Akt der Mildtätigkeit geht in Ordnung, der Vorstadtverein ist schließlich nicht Real Madrid. Angesichts der erwarteten 35.000 Opfer auf dem Schlossplatz handelt es sich um eine geradezu verschwindend geringe humanitäre Hilfe von etwa 7,8 Euro pro Kopf. Verglichen mit den staatlichen Ausgaben für die Oper, ein Schwimmbad oder die Luftwaffe nicht der Rede wert.

Affenzirkus im Magic-Bus nach Berlin

Wer jetzt vermutet, der schwarze Rathaus-Ultra mit dem weiß-roten VfB-Schal lasse sich die Public-Viewing-Arena für einen seiner berühmten Privatauftritte im Dunstkreis von Profis einrichten, liegt falsch. Standesgemäß wird er mit einer Delegation Auserwählter zum finalen Tatort nach Berlin reisen, eine Stadt, deren Größenordnung ihm keinerlei Minderwertigkeitskomplexe beschert. Erst neulich hat er bei der Eröffnung des Internationalen Trickfilmfestivals in Stuttgart der Welt erklärt, Stuttgart sei "das Hollywood" der Animation. Auf die Frage nach seinem Lieblingsfilm nannte er "James Bond – 007 jagt Dr. No". Schließlich, keine Satire, erinnere der Titel an seinen Namen. Unser Mann wandelt also schwindelfrei auf dem Walk of Fame. Wegen seiner berühmten Entertainment-Auftritte in seiner früheren Amtsarena lautet sein Künstlername heute Backnang-Frank.

Zur Stuttgarter Endspiel-Gesandtschaft gehören auch Angehörige fast aller Stadtratsfraktionen. Als Verkehrsmittel zur Reise an die Spree hat sich der Supporter-Trupp aus der Politik dem Vernehmen nach auf einen standesgemäß motorisierten Kleinbus geeinigt, vermutlich von Mercedes. In diesem Vehikel wird in trauter Eintracht mit der demokratischen Nie-wieder-Volksfront auch ein AfD-Mann namens Mayer sitzen. Der ist unter anderem dafür bekannt, vehement den geplanten Hitzeschutz auf dem Marktplatz zu bekämpfen. In einer vom Pokalfieber erfassten Stadt mitten im Klimawandel ist es nicht gesundheitsschädlich, angesichts der sengenden Sonne hirnverbrannten Müll zu verbreiten, wenn du als billiger Jakob der Kommunalpolitik schon von Haus aus einen Schatten hast.

Und damit ich's nicht vergesse: Im Magic Bus nach Berlin wird auch ein Stadtrat der Tierschutzpartei Platz nehmen. Ihm obliegt die Aufgabe, den Affenzirkus parlamentarisch zu beobachten, vor allem, ob im Führerhaus angemessen rechts geblinkt wird. 

Unterstellen könnte man mir jetzt, aus mir spreche fußballerischer Neid. Quatsch. Auch unsereiner ist schon mal zum DFB-Pokalendspiel von Stuttgart nach Berlin gereist, zum größten Finale aller Zeiten. Nur lächerliche 38 Jahre her, und seinerzeit saß ich nicht in einer spießigen Touri-Schleuder, sondern in einem Flugzeug im Himmel über Berlin. Im Olympiastadion traten die großen Stuttgarter Kickers an, nicht etwa gegen einen Drittligisten, sondern gegen den glorreichen Hamburger SV. Zwar verloren wir wegen eines hinterfotzigen Bananenschusses von Manni Kaltz mit 1:3. Aber janz Bärlin feierte uns als die Helden der Herzen. Hollywood war ein Scheiß dagegen, und zwei Jahre später fiel die Mauer. 

Eins dürfte klar sein: Mit 26 Knochen, 33 Gelenken und mehr als 100 Sehnen, Muskeln und ähnlichem Zeugs in deinen Stiefeln kannst du ganz schön weit kommen. So wahr ich nicht der wahre Jakob bin.


Im Rahmen des Projekts Sukat Salam gastiert Joe Bauers Flaneursalon am Mittwoch, 21. Mai in der mobilen Laube auf dem Stuttgarter Marienplatz. Beginn 19 Uhr, Eintritt frei.

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