Dieses Schwert wurde im Fall Thomas Seitz gezogen: Der ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete und Staatsanwalt aus Freiburg/Breisgau hatte den früheren US-Präsidenten Barack Obama als "Quoten-[N-Wort]" und Geflüchtete als "Invasoren" bezeichnet. Da Seitz gegen das Mäßigungsgebot verstieß, sah das baden-württembergische Justizministerium das Vertrauen "nachhaltig gestört und unwiederbringlich verloren". Das Richterdienstgericht am Landgericht Karlsruhe entschied 2018, Seitz aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen. 2021 bestätigte der Dienstgerichtshof für Richter am Oberlandesgericht Stuttgart das Urteil.
Der Fall Thomas Seitz verdeutlicht: Nicht die bloße Parteimitgliedschaft, sondern das individuelle Verhalten entscheidet, ob ein Disziplinarverfahren eingeleitet wird. Schließlich gilt das Parteienprivileg in Deutschland. Das bedeutet, politische Parteien genießen eine besondere Stellung und sind besonders geschützt. Die Mitgliedschaft in einer legalen Partei darf keine negativen Konsequenzen haben. Auch nicht, wenn der Verfassungsschutz die Partei beobachtet. Erst, wenn die Partei verboten ist, reicht bereits die Mitgliedschaft aus, um Beamt:innen in einem Disziplinarverfahren den Beamtenstatus zu entziehen.
Die Pläne der AfD
Im Sommer 2020 ist das Buch "Warum Polizisten AfD wählen" im rechtsextremen Gerhard Hess Verlag erschienen. Gleich mehrere Autoren stammen aus Baden-Württemberg. Einer davon ist Martin Hess, der behauptet, die AfD sei "der politische Freund unserer Polizei". Fast 30 Jahre lang ist er in der Polizei tätig gewesen. Hess war Polizeihauptkommissar und – ab 2014 – Dozent an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg. 2016 wurde er im Wahlkreis Ludwigsburg in den Bundestag gewählt; dort ist er im Ausschuss für Inneres und Heimat vertreten. In dem Buch schreibt Hess über "Antifa" und "Linksextremisten", über "Clankriminalität" und "Migrantengewalt". Über die Gefahr militanter Neonazis und Rassist:innen? Schreibt er nicht. Mitte 2019 erschoss ein Neonazi den Regierungspräsidenten Walter Lübcke nahe Kassel. Ende 2019 versuchte ein Neonazi in Halle/Saale, ein Massaker in der Synagoge anzurichten. Zwei Tote. Anfang 2020 überfiel ein Rassist eine Shisha-Bar in Hanau. Neun Tote. Derweil schreibt Hess lieber über Clans.
Hess ist ein vehementer Verteidiger des Begriffs "Remigration". Einst hatte die rechtsextreme Identitäre Bewegung das Wort geprägt. "Remigration" erlangte Bekanntheit, als "Correctiv" im Januar 2024 ein Geheimtreffen der extremen Rechten in Potsdam offenlegte. Im Rahmen des Treffens referierte Martin Sellner, Gründer und Kopf der Identitären in Österreich, über sein Projekt einer millionenfachen "Remigration". Der Plan: Migrant:innen aus Deutschland verdrängen und vertreiben. Auch Migrant:innen mit deutscher Staatsbürgerschaft. Die Empörung war groß, Millionen Menschen gingen auf die Straße. Aber Hess nutzt das Wort, immer und immer wieder. So posaunte er im Juni 2025 in einer Bundestagsrede: "Remigration schafft Sicherheit, Remigration rettet Leben!" Mit dem Zitat "Remigration statt Migration, das ist der einzig richtige Weg" taucht Hess im AfD-Gutachten des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf. Das Bizarre: Auf seinem Bundestagsprofil steht, er habe nach einem Ausscheiden aus dem Bundestag ein Rückkehrrecht in den Polizeidienst.
"Nicht mehr im Polizeidienst tätig"
Neben Hess ist Jörg Finkler im Buch "Warum Polizisten AfD wählen" vertreten. Er schreibt, die Partei sei für Polizeibeamt:innen eine "vielleicht längst überfällige Alternative", und fügt hinzu: "Sicher nicht für alle, aber dann doch für viele. Sehr viele." Seit 2019 ist Finkler im Gemeinderat der Stadt Mannheim, seit 2021 leitet er die AfD-Fraktion. Mitte 2022 gab er bekannt, die Partei "vor einigen Monaten" verlassen zu haben. Ob berufliche Gründe in seiner Entscheidung eine Rolle spielten, ist unklar.
Seitdem ist er wohl nicht mehr in die AfD eingetreten; im Bürgerinformationssystem der Stadt Mannheim wird Finkler als "parteiunabhängig" bezeichnet. Aber: Die Fraktion, die Zuschüsse für das Antidiskriminierungsbüro und das Eine-Welt-Forum streichen will, leitet er bis heute. In seiner Rede zum Haushalt 2025/26 forderte er, mehr Polizeistellen zu schaffen. "Überall lungern Obdachlose, Junkies und andere zwielichtige Gestalten herum", soll er laut Redemanuskript über die Innenstadt geäußert haben. Aktiver Polizeibeamter ist Finkler nicht mehr. Auf dem Stimmzettel zur Kommunalwahl 2024 stand, er sei "Polizeibeamter a.D.", und das Polizeipräsidium Mannheim bestätigte Kontext gegenüber, er sei "nicht mehr im Polizeidienst tätig". Eine Anfrage der Redaktion ließ Finkler unbeantwortet.
Gewerkschaft mit klarer Haltung
Tobias Singelnstein ist Rechtswissenschaftler und Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Von 2017 bis 2022 lehrte er Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum. In den Reihen der AfD ist der renommierte Wissenschaftler regelrecht verhasst. Martin Hess behauptete einst, Singelnstein betreibe "Propaganda" und "Pseudowissenschaft". Der "linke Forscher" versuche, die Polizei "mit fragwürdigen Studien in Misskredit zu bringen". Mit Benjamin Derin veröffentlichte Singelnstein das Buch "Die Polizei. Helfer, Gegner, Staatsgewalt" (2022). Im Buch warnen die Autoren, das Einsickern rechtsextremer Haltungen in die Polizei sei bedrohlich. Wichtig sei eine Abgrenzung der Polizei zur extremen Rechten.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP), mit über 200.000 Mitgliedern die größte Polizeigewerkschaft in Deutschland, hat seit Jahren eine klare Haltung. Im Frühjahr 2021 veröffentlichte sie ein Positionspapier mit dem Titel "Demokratie schützen". Darin betont sie, die AfD sei "eine im Kern rassistische, nationalistische, menschenverachtende, demokratie‐ und gewerkschaftsfeindliche Partei". Ihr Ziel sei es, "die Demokratie abzuschaffen". Daher sei eine Mitgliedschaft in der AfD mit einer Mitgliedschaft in der GdP "nicht vereinbar". Auf Kontext-Anfrage bekräftigt Guntram Lottmann, Vorsitzender der GdP Baden-Württemberg, die Aussagen und Beschlüsse des Positionspapiers.
Genaueres Hinschauen nötig
Das Disziplinarrecht ist das Instrument, um rechtsextreme Umtriebe unter Beamt:innen einzudämmen. Aber reichen die Vorschriften aus? Im Gespräch mit Kontext erklärt Singelnstein: "Es ist keine Frage der rechtlichen Vorschriften. Die nötigen Vorschriften existieren. Es ist eine Frage der praktischen Umsetzung: Wie genau wird ermittelt? Welche Konsequenzen werden aus den Ermittlungen gezogen?" Lange Zeit seien rechtsextreme Einstellungen im Disziplinarrecht mit großer Zurückhaltung behandelt worden, ergänzt der Wissenschaftler.
Das könnte die Hochstufung durch den Verfassungsschutz ändern. Weil die AfD gegen die Hochstufung als "gesichert rechtsextrem" klagte, gab die Behörde eine "Stillhaltezusage". Sprich: Der Verfassungsschutz will das Gerichtsurteil abwarten und die Aussage, die Partei sei gesichert rechtsextremistisch, bis dahin nicht öffentlich wiederholen. Singelnstein vermutet: "Die Hochstufung würde keinen Automatismus bedeuten, aber den Maßstab verschieben. Eine Mitgliedschaft wäre ein stärkeres Indiz für verfassungsfeindliche Bestrebungen. Das würde bedeuten, dass genauer hingeschaut werden müsste."
Dank einer Vielzahl von Spenden konnte Kontext das Projekt "Recherche gegen Rechts" ins Leben rufen. Bis ins Frühjahr 2026 werden im Wochentakt Veröffentlichungen erfolgen, die rechtsextremen Strukturen in Baden-Württemberg nachgehen.
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Langsam nervt es. Im linken Kontext sollte mal stehen warum die Leute AfD wählen. Eben weil sie zu kurz kommen. Zur Not unterstützen die Wähler eine noch radikalere rechte Politik weil die linke Szene nicht das Problem anspricht. Wir haben eine massive Ungleichheit und zwar nicht zu den Top 10…
Kommentare anzeigenBernd L
vor 2 Stunden