KONTEXT:Wochenzeitung
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Stuttgart 21 und 15 Jahre Schwarzer Donnerstag

Experiment der Geduld

Stuttgart 21 und 15 Jahre Schwarzer Donnerstag: Experiment der Geduld
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Am 30. September jährte sich der brutale Polizeieinsatz gegen S-21-Gegner:innen im Stuttgarter Schlossgarten zum 15. Mal. Der Schriftsteller Heinrich Steinfest sinniert aus diesem Anlass über Traum und Wirklichkeit bei der Bahn – und über ein Projekt, in dem die Genetik aller Verspätungen steckt.

Wir dokumentieren die Rede des österreichischen Schriftstellers Heinrich Steinfest, die er am 29. September auf der 775. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 gehalten hat. Steinfest hat lange in Stuttgart gelebt und vor Ort gegen S 21 gekämpft.


Liebe Freundinnen und Freunde,

in einer berühmten Kurzgeschichte Friedrich Dürrenmatts, "Der Tunnel" (und ich erinnere mich, dass Klaus Gebhard diesen Text einst im Schlossgarten vorgetragen hat), in dieser Geschichte, in der ein Zug aus einem Tunnel nicht mehr herauskommt und schließlich immer schneller und unrettbar in den Abgrund hinunterrast, erklärt der Zugführer, er habe "immer ohne Hoffnung gelebt". Interessanterweise scheint aus dieser Hoffnungslosigkeit auch sein Pflichtgefühl zu resultieren, trotz allem im Zug zu bleiben und nicht wie der Lokführer und übrigens auch ein Schaffner sowie ein Mitarbeiter im Packraum, abgesprungen zu sein als dazu noch Zeit war.

In dieser Hoffnungslosigkeit steckt meiner Meinung nach auch eine gewisse Ironie. Eine Ironie, die ich immer häufiger erlebe, wenn ich mit der Bahn unterwegs bin und alle Hoffnung fahren lasse – und als führerscheinloser Mensch bin ich seit sechs Jahrzehnten mit der Bahn unterwegs, auch wenn ich mich nicht immer als deren Kunde empfinde, mitunter eher als "Experiment der Geduld" oder als "Figur in einer bissigen Satire". Eine Ironie etwa, wenn – ich sitze in einem ICE auf dem Weg von Salzburg nach Heidelberg – es bereits in Freilassing einfach nicht weitergeht und die üblichen, in ihrer Wiederholung ballettartig anmutenden Durchhalteparolen verlautbart werden – darunter nicht zuletzt die Versicherung, auch als Zugpersonal nicht mehr zu wissen über die Zukunft dieser Fahrt als die Passagiere –, um schließlich in der Durchsage zu münden (ich zitiere die geradezu süßliche Stimme aus den Lautsprechern, gleich dieser Raumschiffstimmen, die bei einem Selbstzerstörungsmechanismus auf Null hinunterzählen): "Liebe Fahrgäste, ich überlasse es Ihnen selbst, ob Sie weiter warten oder zurück nach Salzburg fahren wollen."

Das ist im Moment des Erlebens überhaupt nicht lustig, später aber schon.

Jemand hat einmal behauptet, Humor sei Tragik plus Zeit, was also bedeutet, dass es naturgemäß wenig Spaß macht, im Hier und Jetzt in einen Strudel aus Verspätungen zu geraten, etwa, wie ich es jüngst auf dem Weg nach Düsseldorf kurz vor dem Umsteigen in Frankfurt erlebte, als der Zugbegleiter verkündete, dass der Anschlusszug zwar nicht habe warten können, man dafür aber den ICE nach Amsterdam nehmen solle. Nur dass sich dann leider herausstellte, dass dieser soeben vom vermeintlich wissenden Zugbegleiter empfohlene Zug ausgefallen war. (Kürzlich titelte ein Magazin "Deutsche Bahn lässt offenbar Züge ausfallen, um Statistik zu verbessern" – Vielfahrer wissen das schon länger, Zugausfälle scheinen irgendetwas mit schwarzen Löchern zu tun zu haben, Naturerscheinungen des Universums, für die die Bahn nichts kann und die darum auch nichts in einer Statistik verloren haben.)

Ohne Verspätungen keine Geschichten

Es gab Zeiten, da fühlte man sich mit seinen "Schauergeschichten" bezüglich der Fahrten mit der DB ein wenig allein – "ach, du übertreibst doch!" –, zwischenzeitlich sind solche "Reiseerlebnisse" Teil unserer Alltagskultur. Es erscheint mir geradezu als Sport und eben auch als therapeutische Maßnahme, wenn Menschen sich mit ungeheuren Verspätungszeiten zu übertreffen versuchen. "300 Minuten!? Ach, das ist doch gar nichts! Wir mussten gestern in München übernachten." Es hat sich wirklich eine Art von Galgenhumor durchgesetzt. Geschichten, die man seinen Kindern und Kindeskindern erzählen kann und die vielleicht einmal als Aufschrift auf einem Leibchen zusammengefasst lauten könnten: "Ich habe die Deutsche Bahn der 2020er-Jahre überlebt."

Ich glaube, man kann gar nicht oft genug erwähnen, was für eine wunderbare Sache das Bahnfahren ist, es ist gleichsam der demokratische Kulminationspunkt allen Verkehrswesens (und es ist, man kann das durchaus so radikal sagen, der natürliche Feind des Autoverkehrs, weshalb man schon mal nachfragen darf, wieso ausgerechnet die Automobilindustrie sich mit solcher Begeisterung für das von Beginn an sich an den Maximen des Abstrusen orientierende Stuttgart-21-Projekt ausgesprochen hat – ein Schelm, der Böses denkt, heißt es doch).

Es wird so oft von Schnelligkeit gesprochen, aber das Problem ist ja nicht die Schnelligkeit, sondern die Pünktlichkeit. Was nützt einem der schnellste Zug, wenn er aus unerfindlichen, vielleicht auch erfindlichen Gründen nicht dort ankommt, wo er ankommen sollte, oder mit einer Verspätung, die seine potenzielle Geschwindigkeit konterkariert, weil dann ja auch alle Anschlüsse weg sind, wenn die nicht auch verspätet sind? Das ist eben genauso wie ein Zugrestaurant, in dem zwar theoretisch feinste Speisen angeboten werden – Leckereien auf den bunten Bildern einer Speisekarte –, aber in Wirklichkeit der ganze Trost auf dem Angebot von Kaltgetränken und den in der Tat großartig schmeckenden, mit "Lieblingsgast" beschrifteten Keksen beruht.

Traum und Wirklichkeit. Wie ja diese beiden auch die Grundpfeiler aller Investitionen sind.

Das mag für andere vielleicht nicht so wichtig gewesen sein angesichts all der technischen und finanziellen Unzulänglichkeiten von S21, aber was mich immer am meisten geärgert hat, war, wie sehr die Befürworter des Projekts für sich in Anspruch genommen haben, etwas Modernes, etwas in die Zukunft Gerichtetes zu bauen, während die Gegner, die Kritiker, als mutlos und rückwärtsgerichtet verunglimpft wurden. Ja, es waren ausgerechnet eine Menge Konservative, die uns Projektkritikern den Vorwurf machten, konservativ zu sein und an einem alten, verwahrlosten Bahnhof zu hängen (dessen Verwahrlosung aber genau von diesen Konservativen betrieben wurde, die so gar nichts vom Erhalt eines hervorragend funktionierenden Baudenkmals hielten). Die Modernität von Stuttgart 21 erscheint mir allein in seinem zwischenzeitlich als überholt geltenden Wagnis zu bestehen – und eben nicht in seiner raumschiffenterpriseartigen, ein wenig jungenhaften Architektur. Nein, und nochmals nein, Innovation darf sich nicht gegen Vernunft wenden, das ist wie ein Sessel, auf dem man nicht sitzen kann und der maximal fürs Museum taugt, nur dass man Stuttgart 21 leider nicht ins Museum stecken kann (oder gleich zurück in die Modellhaftigkeit, mit der es einst die Ausstellung im Bahnhofsturm beglückte und dort wahrlich gut untergebracht war in seinem playmobilartigen Größenwahn).

Freilich kann man nicht sagen, dass dieses Unding, das den Begriff des Modernen ins Absurde verdreht und dem einzig die Unvernunft quasi wie ein Ornament eine Art Aura verleiht –, sonst hat sie keine – nur Verlierer kennt. Denn das wird gerne übersehen, dass dort, wo gigantische Mehrkosten entstehen, nicht nur Geld ausgegeben, sondern auch Geld eingenommen wird. Ich will jetzt nicht so weit gehen, jenes amüsante alt-irische Sprichwort zu zitieren, nach dem es heißt, wenn man wissen will, was Gott über Geld denkt, solle man sich die anschauen, denen er es gibt. Das wäre zu böse und ungerecht und würde den Vorwurf des Neids und der religiösen Verschwörungstheorie hervorrufen, aber es darf vielleicht schon gesagt sein, dass manches Scheitern gerade im Baugewerbe den Vorteil besitzt, einen Gewinn zu erhöhen. Und dass manches Scheitern sich dank Langfristigkeit und Gewöhnung durchsetzt wie jemand, der so lange mit der Faust auf den Tisch schlägt, bis man meint, die Schläge ergeben ein Musikstück. (Wobei man übrigens aus dem provokanten altirischen Spruch auch einfach die Verantwortung herauslesen könnte, wie mit diesem Geld umzugehen sei. Eine Prüfung­.)

Kein Thema mehr

Was haben wir denn gelernt aus dem "Schwarzen Donnerstag"? Das wollte der ehemalige Richter Dieter Reicherter schon im vergangenen Jahr von Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) und Stuttgarter Polizeipräsidenten Markus Eisenbraun wissen. Konkret fragte er, wie die beiden den Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten vom 30. September 2010 aus heutiger Sicht bewerten, welche Vorkehrungen getroffen worden seien, um Ähnliches künftig auszuschließen, und welche Rolle die Erfahrungen in der Ausbildung junger Polizistinnen und Polizisten spielen. Die erst nach mehreren Wochen erfolgten Antworten lassen erahnen: Vermutlich nichts. Oder, wie es Strobl ausdrückte: "Seien Sie versichert, dass mir eine stetige Fortentwicklung unserer Landespolizei sehr am Herzen liegt und unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus der Praxis sowohl mit der Fortbildung des bestehenden Personals als auch mit der Ausbildung künftiger Polizistinnen und Polizisten hierfür Sorge getragen wird." Und Eisenbraun antwortete, dass seiner Wahrnehmung nach "diese Spaltung sowie Ihr angeführter Vertrauensverlust seit langem kein Thema mehr sind, weder in der breiten Mitte der Gesellschaft noch innerhalb der Stuttgarter Polizei." Na dann. Reicherter zitierte aus den Antworten in seiner Rede auf der 775. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 am 29. September, auf der neben ihm auch Heinrich Steinfest und der am "Schwarzen Donnerstag" schwer verletzte Daniel Kartmann sprachen.

An Geschichtsklitterung grenzt es teilweise auch, was aktuell die "Stuttgarter Zeitung" zum 15. Jahrestag des Einsatzes schreibt: Vom "Kampf im Park" ist da die Rede, von fliegenden Wurfgeschossenen und davon, dass stundenlang "zäh um jeden Meter gekämpft" worden sei. Wer an jenem Tag vor Ort war, weiß: Die Polizeieinheiten gingen mit Wasserwerfer, Pfefferspray und Knüppel gegen fast ausschließlich friedlich demonstrierende Bürger vor, es war "eine einseitige Aggression, die über Stunden so verstörend gleichförmig und mit einem konstant hohen Maß an Gewalt erfolgt, dass der oft bemühte Begriff der 'Eskalation' nicht recht passen mag", wie Kontext schon anlässlich des 10. Jahrestags vor fünf Jahren schrieb. (os)

Ein Kampf mit Noblesse­

Zu den Vorkommnissen des sogenannten Schwarzen Donnerstags wird heute noch sicher einiges gesagt werden, von mir aber – als der Romantiker, der ich als Erzähler unweigerlich bin – hier die Erinnerung an den Moment, als ich an diesem Tag den Schlossgarten aufsuchte und wie ich, als mittels Wasserwerfer die im wahrsten Sinne überflüssige Machtdemonstration begann – die aus dem Kopf eines verbissenen, korrupten Mannes stammte, dessen Religiosität mir stets ein Rätsel war und ist –, wie ich da also unter eine schützende Plane und damit in eine Gruppe älterer Damen geriet, die mich freundlich in ihren Kreis aufnahmen wie in eine Buchrunde. Und ich mir noch dachte, mein Gott, wo gibt's sowas auf der Welt, eine Demonstration, nicht nur, aber eben auch getragen von kultivierten älteren Menschen, die diesem im besten Sinne bürgerlichen Widerstand einen speziellen Zauber verliehen, wie ich es bisher nicht kannte. Eine Noblesse. Keine Dekadenz, eine Noblesse. Und ich mich auch an diesen Polizisten erinnere, der in etwa kopfschüttelnd meinte, wie absurd es sei, dass er hier gegen Leute vorgehen müsse, die ihm wie Mitglieder seiner Familie oder wie seine Nachbarn erscheinen würden.

In einer früheren, lange zurückliegenden Rede zu Stuttgart 21 zitierte ich einmal den leider jüngst verstorbenen Robert Redford, der in dem Film "Die drei Tage des Condor" meint: "Ihr glaubt wohl, bei einer Lüge nicht erwischt zu werden, sei dasselbe, wie die Wahrheit zu sagen." Das scheint nun eigentümlicherweise auch für Lügen zu gelten, die durchaus als solche entlarvt werden. Erstaunlich!

Ein bedeutendes Mittel menschlicher Verbindung ist unsere Sprache, nicht zuletzt unterstützt von jenen technischen Hilfsmitteln, die die Sprache von einem zum anderen tragen, unsere Sprachrohre. So erfahren wir freilich auch von der Verzweiflung derer, die uns eigentlich kraft ihrer Tätigkeit helfen sollen. Denn Zugbegleiterinnen und Zugbegleiter zählen dank des berühmten Spruches von James Whistler, die Welt sei "divided into two classes, invalids and nurses", ganz gewiss zu den "nurses", also den "Krankenschwestern".

Das Management der DB gehört nach meiner Meinung weder zu den einen noch den anderen, sondern bildet eine eigene Klasse. Und darin besteht vielleicht ihr Problem: den Kontakt verloren zu haben. Zu schweben, aber eben nicht auf Schienen.

Doch wenn das System versagt, verzweifeln mitunter auch die, die zu den "nurses" zählen. Denn so klingt das auf meiner jüngsten Fahrt von Gütersloh nach Köln, als der Zugbegleiter hörbar genervt erklärt, dass sich der Zug für alle spürbar ungemein langsam fortbewege, er aber leider nicht sagen könne, wieso denn. Sodann schließt er: "Auch das ist zwischenzeitlich Standard, dass die zuständige Fahrdienstleitung keine Informationen an das Zugteam überträgt."

Natürlich, wir besitzen fast alle unsere Taschendämonen, wo dann in prächtigem Rot der Satz "voraussichtlich nicht erreichbar" aufleuchtet. Und doch, ist es nicht so viel schöner, von den Stimmen gut unterrichteten Zugpersonals getröstet zu werden?

Während es ein geringer Trost ist, dass das Englisch des Zugpersonals dank andauernden Trainings so viel besser geworden ist: "We apologize for any inconvenience." Als wär's ein Gedicht, das man in zahlreichen Variationen vortragen kann. Ein Gedicht, das sich auch bestens eignen würde, das Problem namens Stuttgart 21, in dem die Genetik aller Verspätungen steckt, zu würdigen.

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