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Modernisierung des Tuttlinger Bahnhofs

"Das machen wir selbst"

Modernisierung des Tuttlinger Bahnhofs: "Das machen wir selbst"
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 Fotos: Julian Rettig 

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Weil die Bahn nichts tut, bringt die Stadt Tuttlingen ihren Bahnhof selbst auf Vordermann. Der Oberbürgermeister hofft, dass sich die Investition lohnt – auch wenn die Verbindung ins Stuttgarter Zentrum bald gekappt werden soll.

Am Freitagvormittag um zehn kann Michael Beck (CDU) einen Termin anbieten. Der Tuttlinger Oberbürgermeister möchte gern selbst erklären, was die Stadt mit ihrem Bahnhof vorhat. Nur gibt es um diese Zeit keine Zugverbindung aus Stuttgart: entweder mehr als eine Stunde früher oder eine Dreiviertelstunde später. Bleibt nur, mit dem Auto anzureisen. Nichts könnte besser das Dilemma illustrieren, in dem Tuttlingen steckt.

Tuttlingen möchte seinen Bahnhof wieder vorzeigbar machen. Wer hier ankommt, soll einen guten Eindruck von der Stadt bekommen. Der Bahnhof soll zu einer Mobilitätsdrehscheibe werden, zum Umsteigen nicht nur von einem Zug in den anderen, sondern auch in den Bus, aufs Fahrrad oder ins Auto. Ausweis der modernen Verkehrspolitik der Stadt. Bus, Fahrrad und Auto kriegt die Stadt hin, auf den Zugverkehr hat sie allerdings keinen Einfluss. Tuttlingen liegt am Schnittpunkt mehrerer Bahnlinien, unter anderem nach Konstanz, Zürich und in den Schwarzwald. Die wichtigste aber ist die Gäubahn aus Stuttgart, und die wird immer wieder unterbrochen und soll in wenigen Jahren für unabsehbare Zeit bereits in Stuttgart-Vaihingen enden.

OB Beck kommt zum Termin mit einem leichten Rennrad, das er die Treppen hochtragen muss, denn die Bahn lehnt eine Rampe von der Gleisunterführung auf die Erdgeschossebene kategorisch ab. Als die Stadt vor drei Jahren begann, Bahnhof und Bahnhofsumfeld zu sanieren, hat sie als allererstes die Unterführung, die früher ein dunkles, am hinteren Ende geschlossenes Loch war, an der stadtabgewandten Westseite geöffnet. Dazu musste auf Kosten der Stadt eine Brücke für ein Bahn-Kabel gebaut werden. Nun strömt Licht in die Unterführung und der Weg zum Donautalradweg ist frei.

Auf der Stadtseite sitzt dem Bahnhof gegenüber die Aesculap AG, gegründet 1867 als Produktionswerkstatt medizinischer Instrumente. Tuttlingen nennt sich Weltzentrum der Medizintechnik, 400 Unternehmen sind in diesem Bereich tätig. Aesculap, das  heute zu B. Braun aus Melsungen gehört, ist mit 3.500 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber der Stadt. Viele Beschäftigte kämen mit dem Fahrrad und hätten vor der Öffnung der Unterführung weite Umwege in Kauf nehmen müssen.

Eigentlich ein schöner Bahnhof

Äußerlich macht der Bahnhof einen etwas schäbigen Eindruck. Ein schlichter, kubischer Bau, jahrzehntelang nicht gestrichen: der blassrosa Südflügel zuletzt vermutlich vor dreißig Jahren, als die Bahn ihn an einen Versicherungsmakler verkaufte. Am Nordflügel und Empfangsgebäude ist es noch länger her. "Die Bahn hat den Bahnhof viele Jahre lang vergammeln lassen", sagt Beck. "Die Toiletten sahen furchtbar aus."

Dabei war der Bahnhof einmal der Stolz der Stadt. 1928 begonnen, als der Stuttgarter Hauptbahnhof von Paul Bonatz gerade fertiggestellt war, sollte der Bau einen älteren Bahnhof aus dem Jahr 1869 ersetzen. In Tuttlingen, am südlichen Ende des Königreichs Württemberg, hatte die Linie der Württembergischen Staatsbahnen geendet. Nach dem Ersten Weltkrieg wollte Württemberg die Strecke zur Fernverbindung ausbauen, um Reisenden aus Berlin eine Altnativroute in die Schweiz anbieten zu können.

Zu diesem Zweck wurde sogar die Donau verlegt, das Gelände aufgeschüttet. Der 1933 eröffnete, von Architekten der Reichsbahndirektion in Stuttgart entworfene Bau war für die damalige Zeit ausgesprochen modern. Die flachen Dächer und die hohen Fenster an beiden Seiten der Bahnhofshalle erinnern an den Stuttgarter Bonatzbau. Eine alte Holzbalkendecke und zwei renovierte runde Kioske am Ausgang zum Vorplatz lassen inzwischen etwas vom alten Glanz wieder aufleben.

In den beiden Flügeln haben sich dagegen Spuren der jüngeren Geschichte erhalten, die nicht konserviert werden sollen. In der oberen Etage des Südflügels betrieben der CDU-Bundestagsabgeordnete Volker Kauder und sein Parteifreund, der Landtagsabgeordnete Guido Wolf, gemeinsam ein Wahlkreisbüro. Darunter, im ersten Stock, zeugt noch ein pompöser Tresen von der Versicherungsagentur, der das Gebäude zu dieser Zeit gehörte. 2015 zogen in das Büro Kauder/Wolf unbegleitete jugendliche Flüchtlinge ein, fünf Jahre später wurde aus den Räumen des Versicherungsmaklers eine Corona-Teststation.

Das Erdgeschoss war an ein Chinarestaurant und eine Spielhölle vermietet, im Untergeschoss befand sich eine Diskothek. 2016 erwarb Aesculap den Gebäudeflügel, fand dafür allerdings doch keine Verwendung und verkaufte ihn 2022 an die Stadt, die bereits 2014 den Nordflügel erworben hatte und damit nun das gesamte Gebäude besaß. Damit begann vor drei Jahren die Revitalisierung. Die versifften Toiletten wurden geschlossen, die Gleisunterführung geöffnet, und die Planungen für einen neuen Bahnhofsvorplatz mit Busbahnhof starteten.

Ein neuer Platz für Bus, Rad, Parken

Mittlerweile ist der Busbahnhof schon weit gediehen. Ein Dach in Form eines geschwungenen W überdeckt die acht Bussteige, unten farbig getöntes Holz, oben abwechselnd begrünt und Photovoltaik, die wiederum die Lampen und die Fahrgastinformation mit Strom versorgt. Zugleich wird auf dem Dach Regenwasser gesammelt, das wiederum die Grüninseln zwischen den Bussteigen bewässert. 15 Millionen Euro hat die Stadt Tuttlingen sich das kosten lassen, zehn Prozent schießt das Land zu. Am 10.10. um 10 Uhr 10 Uhr soll die Eröffnung sein, sagt der Oberbürgermeister.

Nicht ganz so geradlinig geht es mit dem restlichen Bauvorhaben voran. Ursprünglich hatte die Stadt das Bahnhofsgebäude und ein südlich anschließendes Areal, auf dem sich im Moment noch der provisorische Busbahnhof befindet, mit einem Investor entwickeln wollen. Der ging pleite, woraufhin Tuttlingen beschloss, die Sache in die eigenen Hände zu nehmen und zumindest die öffentlich sichtbaren Teile denkmalgerecht zu sanieren. "Die Dinge, die wie selbst beeinflussen können, müssen wir selbst machen", findet Beck.

Derzeit läuft die Planung für die gesamte Gebäudehülle und die Bahnhofshalle. Für die Sanierung des Bahnhofsgebäudes veranschlagt die Stadt insgesamt 13 Millionen Euro und hofft dabei auf eine bis zu 50-prozentige Förderung aus diversen Töpfen, wie sie in einer Pressemitteilung erklärt.

Im Nordflügel übernachteten früher Lokführer, im Erdgeschoss befand sich die Gepäckabfertigung. Heute ist dort noch eine Arbeit zu sehen, die der französische Künstler Georges Rousse 2016 mit den geflüchteten Jugendlichen angefertigt hat. Sie tapezierten eine Raumecke mit Zeitungen, die Bilder geschwärzt, in verschiedenen Sprachen, auch in arabischer Schrift. Ein darüber gemalter roter und schwarzer Balken scheinen, aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet, davor im Raum zu schweben. Von der Installation fertigte Rousse Fotos an, die er für insgesamt 33.000 Euro verkaufen konnte. Den Erlös stiftete er einem Sozialprojekt.

An die Stelle der Gepäckabfertigung soll nun ein Fahrradparkhaus treten. Die sei im Inneren des Bahnhofs am besten aufgehoben, meint Beck. Gegenüber könnte wieder ein Restaurant einziehen, das vor allem dann gute Aussichten hätte, wenn realisiert wird, was Beck für den südlich anschließenden Bereich vorschwebt. Wo sich heute noch der provisorische Busbahnhof befindet, könnten ein Hotel, ein Einkaufszentrum und ein Parkhaus entstehen. Es geht also nicht nur um den Bahnhof, sondern um ein Stadtentwicklungsprojekt. Die nicht öffentlichen Innenräume in den Obergeschossen der beiden Bahnhofsflügel will die Stadt erst renovieren, wenn dafür Pächter gefunden sind.

Zum Glück hat Tuttlingen Geld

Bisher hat Tuttlingen ausreichend Gewerbesteuereinnahmen, um ein solches Vorhaben zu finanzieren. Solange er Pflichtaufgaben wie die Sanierung von zwei Gymnasien für 75 Millionen Euro finanzieren kann, könne er auch seinen Gemeinderat vom Projekt Stadtbahnhof überzeugen, bemerkt Beck. Es sei "von Vorteil, wenn wir alles selbst in der Hand haben". Pressesprecher Arno Specht, der ihn seit Beginn seiner 21-jährigen Amtszeit begleitet, ergänzt, oberstes Ziel sei es, Fehlnutzungen wie den Spielsalon zu vermeiden.

"Wir machen all das, wofür sich die Bahn nicht mehr zuständig fühlt", erklärt der Oberbürgermeister. Die Deutsche Bahn fühlt sich indes nicht mehr für viel zuständig. Seit der Privatisierung 1994 hat sie Bahnanlagen verkauft, Personal abgebaut, Wartungsintervalle verlängert und kann oft nur noch einen Notbetrieb anbieten. Jeder Bahnkunde weiß das. Längst ist klar, dass es so nicht weitergehen kann. Doch der Eigner der Bahn AG, der Bund, weigert sich, die notwendigen Summen zu investieren.

Die Bahn hat ihr Kapital verschleudert und ist dabei nicht reicher geworden. Nur noch ein Viertel aller Bahnhöfe in Deutschland gehören ihr, die Hälfte befindet sich in Privatbesitz, ein Fünftel in der Hand von Kommunen. In Baden-Württemberg haben seit 2007 mehr als 40 in der Regel kleinere Ortschaften ihre Bahnhöfe erworben, wie aus Anfragen an Verkehrsminister Winfried Hermann im Landtag hervorgeht. Die Antwort stützt sich auf Auskünfte der Deutschen Bahn, Hermann weiß also nicht, ob die Kommunen die Bahnhöfe behalten oder weiterverkauft haben. Bundesweit gehören der Bahn nur noch ein knappes Viertel der rund 2.900 sogenannten Empfangshallen, vermeldet die Allianz pro Schiene. Ein Viertel ist in kommunaler Hand, der Rest in privater.

"Unsere Zielgruppe sind die Bahnreisenden, die sich hier wohlfühlen sollen", betont Michael Beck. Wenn allerdings ständig Züge ausfallen oder Verspätung haben, der Fahrplan ausgedünnt wird oder weite Strecke nur im Schienenersatzverkehr zurückgelegt werden können, nützt auch der schönste Bahnhof nichts. 2027 soll nach neuestem Stand die Gäubahn in Stuttgart-Vaihingen enden statt am Hauptbahnhof. Reisende, die aus Süden kommend – also auch aus Tuttlingen – über Stuttgart hinaus weiter nach Norden wollen, müssten dann mit ihrem Gepäck in überfüllte Stadtbahnen umsteigen. Beck hat dafür kein Verständnis. Specht sagt, wenn er nach Norden wolle, fahre er schon jetzt lieber über Immendingen und dann mit dem Bummelzug quer durch den Schwarzwald. So käme er in derselben Zeit, aber zuverlässiger nach Mannheim.

"Der Gäubahn-Ausbau ist elementar für die Mobilitätswende im Südwesten", steht auf einer eigens dafür eingerichteten Website der Bahn. Das wirkt angesichts der aktuellen Situation wie Realsatire. 1996 hat Deutschland mit der Schweiz im Vertrag von Lugano vereinbart, die seit der Nachkriegszeit eingleisige Strecke zwischen Horb und Tuttlingen auszubauen, um die Fahrtzeit zu reduzieren. Die Schweiz hält sich an die Abmachungen, Deutschland nur sehr begrenzt. Im vergangenen Jahr wurde endlich, mit langen Unterbrechungen der Bahnverbindung, der kurze Abschnitt Horb – Neckarhausen zweigleisig ausgebaut. Wann es weitergehen soll, steht auf Website der Bahn nicht. "Die Bahn gehört uns doch", protestiert OB Beck fast verzweifelt.

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1 Kommentar verfügbar

  • Bedellus
    vor 15 Stunden
    Antworten
    Ganz dickes Lob nach Tuttlingen! So ist das richtig. Vorbildlich! Aus dieser Stadt kommen Instrumente, die heilen und helfen...
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