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Künstlerin peitscht Autos

Wie Indiana Jones im Merkel-Kostüm

Künstlerin peitscht Autos: Wie Indiana Jones im Merkel-Kostüm
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Die Künstlerin Nana Hülsewig domptiert die Automassen auf dem Stuttgarter Charlottenplatz. Dabei geht es ihr nicht nur um Mobilitätsalbträume, sondern auch um feministische Fragen. Bis Freitag wird das Video der Aktion öffentlich gezeigt – obwohl diese fast vom Ordnungsamt verhindert worden wäre.

Dass das Auto und seine Nutzung in Baden-Württemberg quasi-religiösen Charakter haben, legt schon die Formulierung "heiligs Blechle" nahe. Was es bedeutet, über es zu lästern, musste Ministerpräsident Winfried Kretschmann zu Beginn seiner Amtszeit 2011 erfahren, als er allen Ernstes "weniger Autos" als positive Zielvorstellung formulierte. Dem Zorn der Auto-Unternehmensgötter folgte eine Instant-Läuterung, seitdem tut der Grünen-Politiker Buße in Form vorauseilender Wirtschaftsfreundlichkeit. Halleluja.

Derart untertäniges Verhalten ist Nana Hülsewigs Sache nicht, sie ist ja auch keine Politikerin. Auch wenn die 59-jährige Stuttgarter Künstlerin in ihrem neuesten Projekt so aussieht wie eine: gekleidet in ein rotes Kostüm, das auch zu Angela Merkel gepasst hätte. Kein Wunder, es ist ja auch ein Kostüm des Designer-Labels Oscar de la Renta, das viele Politikerinnen, unter anderem die deutsche Ex-Kanzlerin, schätzten. "Das habe ich mir secondhand besorgt, neu kostet sowas ja mehrere tausend Euro", sagt Hülsewig. Aber auch gebraucht sei es "verrückt bequem, wie eine zweite Haut".

"Peitschen" – Hülsewigs Aktion auf dem Charlottenplatz, großer Autokreuzung in S-Mitte.

In solch Macht symbolisierender Aufmachung steht sie auf einer Verkehrsinsel jener stadtplanerischen Zumutung, die in Stuttgart als Charlottenplatz bekannt ist. Und schwingt die Peitsche. Es schnalzt laut, immer wieder. Autos werden dabei nicht getroffen, eher werden sie domptiert "wie Pferdchen in der Manege". So sieht es jedenfalls im Video der Performance "Peitschen" aus, die Hülsewig gemeinsam mit dem Kameramann und Filmer Valentin Kemmner umgesetzt hat. Wie die meisten Hülsewig-Videos ist es gleichzeitig bizarr und ungeheuer komisch.

Interventionen für Irritationen

Während der Aktion war die Spanne der Reaktionen auf die Peitsche schwingende Künstlerin – leider nicht im Video festgehalten – ziemlich breit. "Es gab Autofahrer, die es ganz furchtbar fanden, die haben mir den Stinkefinger gezeigt und mich für verrückt erklärt", erzählt Nana Hülsewig. "Dann gab es welche, die es toll fanden, die anerkennend gehupt haben. Und einige, die sehr verunsichert waren. Die sind dann ganz langsam gefahren – das sind die, die ich in dem Video antreibe."

Verunsichern und Irritationen erzeugen ist ohnehin ein wiederkehrendes Moment im Werk der freien Künstlerin, Musikerin, Performerin und Kostümbildnerin Hülsewig. Seit 2006 macht sie ihre Aktionen mit wechselnden künstlerischen Partner:innen als "Nana & Friends", als NAF oder wie jetzt bei "Peitschen" auch alleine. Und immer wieder geht es ihr dabei um Rollen, soziale Rollen. Rollen, die Menschen spielen, wenn sie einkaufen, arbeiten, unterwegs sind – kurz: im öffentlichen Raum agieren. Um die zu hinterfragen und mit ihnen zu spielen, führt Hülsewig seit 13 Jahren "Interventionen" genannte Performances im öffentlichen Raum durch, in denen sie ihre Mitmenschen immer wieder mit Verhalten konfrontiert, das an den jeweiligen Orten paradox wirkt. Zugleich in einer Aufmachung, die bestimmte soziale Rollen symbolisiert, so dass sich niemand traut, gegen das paradoxe Verhalten einzuschreiten.

Klingt kompliziert, heißt: Wer Klamotten trägt, die nach viel Geld und hohem sozialen Status riechen, wird nicht gleich als Spinner:in gesehen, bekommt eine Art Grundrespekt und kann sich auch – wie in einer früheren Aktion – vor eine Kaufhaus-Rolltreppe zum Nickerchen hinlegen, ohne hinauskomplimentiert zu werden. Oder eben Autos peitschen. Einen hohen sozialen Status zu behaupten, das schaffe "gewisse Spielräume, in denen die Eindeutigkeit verschwimmt", sagt die Künstlerin.

Weibliche Selbstermächtigung, männliche Macht

Wobei die neueste Aktion mehrere Ebenen hat. "In 'Peitschen' geht es natürlich auch um diese unsägliche Verkehrssituation, diesen Albtraum von Architektur und Verkehr", sagt Hülsewig. Also auch um Kritik an den Strukturen unserer Mobilität – denn in ihnen materialisieren sich Machtstrukturen und damit wieder Rollenverhalten: "Das Auto, Sinnbild für rücksichtsloses Vorwärtsstreben, ist Instrument der Macht, Wirtschaftszweig, entwickelt und verteidigt von weißen Männern, die den gemeinsamen Raum fast vollständig dominieren", erklärt sie.

Zugleich gehe es aber auch um feministische Fragen, um weibliche Selbstermächtigung: "Mich hat interessiert: Wie tauchen Frauen im Stadtbild auf? Wie ermächtigen sich Frauen? Und wie sieht eine mächtige Frau aus?" Zum Beispiel wie eine Politikerin. Und so trifft nun ein Machtsymbol und -instrument weißer Männer, das Auto, auf den Zorn einer Frau, deren Attribute und Verhalten ihrerseits von Macht erzählen. Denn auch das Peitschen selbst, diese "offensive körperliche Geste", so Hülsewig, "drückt Macht aus, ist laut, nimmt Raum ein, ist gefährlich, ist im Zusammenhang mit Weiblichkeit oft sexuell konnotiert, braucht viel Kraft und Durchhaltevermögen und kann lustvoll wie verstörend wirken". Wobei Hülsewig selbst ein wenig verstört war, als Passanten sie fragten, "ob die Peitsche für Tiere oder für Menschen ist".

Das Kulturamt genehmigt's, das Ordnungsamt nicht

Fast ein Wunder, dass bei soviel Irritationspotential niemand wegen Hülsewigs und Kemmners Aktion die Polizei rief. Darauf vorbereitet und entsprechend vorsichtig waren die beiden jedenfalls, da die Aktion eigentlich illegal war. Was wiederum eine herrliche Absurdität ist, wenn auch eine ungeplante. "Die Stadt Stuttgart hatte eine Ausschreibung gemacht für das Festival 'FemPalais'", darauf habe sie sich mit "Peitschen" beworben, und für Performances wie diese gibt es beim Kulturamt der Stadt einen neuen Förderzweig namens "Kunst im öffentlichen Raum". Das Kulturamt genehmigte und förderte Hülsewigs Aktion, "ich dachte, damit ist es safe", aber es zeigte sich mal wieder: Beim Verkehr hört der Spaß in Stuttgart auf. Das Amt für öffentliche Ordnung versagte die Genehmigung.

"Wir haben es dann einfach trotzdem gemacht", erzählt Hülsewig. Neben ihr und dem filmenden Kemmner war noch als Dritter ein Schmieresteher dabei, der eventuell aufkreuzende Polizei im Blick haben sollte. Die Ordnungshüter fuhren dann tatsächlich mehrmals vorbei, doch rechtzeitig vorgewarnt hatte Hülsewig die Peitsche stets schon unauffällig zusammengelegt. Und für eine auf Verkehrsinseln stehende Businessfrau interessiert sich die Polizei nun mal weniger als für auf der Straße klebende Aktivist:innen in Warnwesten.

Potentiell problematisch auch: die Peitsche an sich. Denn die gilt in Deutschland als Waffe, obwohl sie herumzutragen erlaubt ist. Und zu bestimmten Anlässen ist auch erlaubt, dass eine ganze Stadt mit der Peitsche knallt wie im Rahmen der Rottweiler Fasnet beim traditionellen Narrensprung. Über den hat das Stuttgarter Künstlerinnen-Duo Sigrun Köhler und Wiltrud Baier alias "Böller & Brot" 2021 den Dokumentarfilm "Narren" gedreht, und der war für Hülsewig eine Inspiration. "Da dachte ich mir: Das will ich auch!", erzählt sie. So richtig sagten die in Rottweil gängigen Exemplare ihr aber nicht zu, "ich wollte schon, dass es aussieht wie bei Indiana Jones". Also bestellte sie sich ein Exemplar via Internet aus den USA. Das passte.

Das Video der Aktion ist nun seit dem gestrigen Dienstag bis Freitag sowohl im Foyer des Stadtpalais Stuttgart zu sehen, im Rahmen von "FemPalais – Festival der Frauen*", als auch von 6 bis 21 Uhr an den Infoscreens der Haltestelle Charlottenplatz, also eine Etage unter dem Ort der Performance. "Mir ging es auch darum, dieses unsägliche Verkehrsbauwerk auf allen Stockwerken zu bespielen", sagt Hülsewig. Auch hier also: vielschichtige Kunst.


Nana Hülsewig auf Instagram und auf Youtube.


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1 Kommentar verfügbar

  • Sven Schindler
    am 28.06.2023
    Antworten
    Ja Kontext, die haben bestimmt anerkennend gehupt. Die haben gedacht, dass diese Frau wohl einfach einen an der Klatsche hat.
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