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Iran-Proteste in Stuttgart

"Das Gefängnis ist unsere Uni"

Iran-Proteste in Stuttgart: "Das Gefängnis ist unsere Uni"
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Im Iran wird gerade gestreikt. Wie gut die Arbeitsverweigerung funktioniert, ist schwer festzustellen. Iranische Aktivist:innen in Stuttgart sagen, im ganzen Land werde die Arbeit niedergelegt. Sie engagieren sich für ihre Landsleute, auch wenn Deutschland sie gerade jetzt oft enttäuscht.

"Wir können nicht mehr nach Hause fahren. Das ist bitter." Die Stimme wird lauter – "But we are still the lucky ones!" – "Wir sind diejenigen, die Glück gehabt haben." Morvarid steht im Park der Uni Stuttgart, Mikro in der Hand. "We feel responsible. We will be your voice. We will call your names!" "Wir fühlen uns verantwortlich. Wir sind eure Stimme. Wir werden eure Namen rufen." Der kalte Wind zaust an den kurzen lockigen Haaren der schmalen jungen Frau. Es ist kalt, düster, feucht, dennoch harren rund 80 Frauen und Männer aus, hören zu, was die Iranerinnen und Iraner auf der kleinen Bühne zu sagen haben.

Es geht um Solidarität mit denjenigen, die im Iran gegen das Mullah-Regime auf die Straße gehen. Die sich Haare abschneiden, das Kopftuch abnehmen, vor den Sicherheitskräften fliehen, erschossen, aufgehängt, bombardiert werden. Der ursprünglich kurdische Kampfruf "Frau, Leben, Freiheit", der nun zum Schlachtruf der Iraner:innen geworden ist, tönt immer wieder über den Park, genauso wie das zur Hymne der Revolution gewordene Lied "Baraye".

Rund 12.000 Iraner:innen lebten 2021 in Baden-Württemberg. Unter insgesamt 1,8 Millionen Ausländer:innen sind sie eine eher kleine Gruppe, doch seit einigen Wochen wird sie wahrgenommen. Weil immer mehr Iraner:innen in der Diaspora ihre kämpfenden Landsleute in der Heimat unterstützen. Sie schließen sich zusammen, organisieren Demos und Kundgebungen, schreiben an Abgeordnete. Eine der aktiven Gruppen in Stuttgart ist Jina Freedom Movement mit etwa zwölf jungen Leuten im aktiven Kern. Ihr bisher normales Studierenden- und Arbeitsleben hat sich in den vergangenen drei Monaten komplett verändert.

"Ich muss im Februar meine Masterarbeit abgeben, aber ich habe seit Wochen kein Wort geschrieben." Sepehr zuckt mit den Schultern. "Wir sind den ganzen Tag damit beschäftigt, Nachrichten zu sichten, Kontakt mit unseren Leuten im Iran zu halten." Der 28-Jährige studiert Fahrzeug- und Motorentechnik in Stuttgart. Als vor drei Monaten, nach dem Tod von Masa Amini im Gewahrsam der iranischen Sittenpolizei, die Menschen im Iran begannen, auf die Straße zu gehen, hat sich die Gruppe in Stuttgart zusammengefunden. Gekannt haben die jungen Leute sich schon vorher aus der Uni, von Partys. Das Sich-Kennen ist wichtig. Es gebe so viele iranische Geheimdienstleute in Deutschland, erzählen sie, da müssen sie einander vertrauen können.

Die Heimat Iran ist nicht vergessen

Wegen dieses Geheimdienstes sollen ihre vollständigen Namen nicht in der Zeitung stehen, sagen sieben der Aktivist:innen, die im Konferenzraum von Kontext sitzen. Sie wollen erzählen, Öffentlichkeit für ihre Landsleute herstellen: "Wir sind das Sprachrohr unseres Volkes." Ihre erste selbst organisierte Demo am 1. Oktober sei gut gelaufen, erzählt Parnian, also machten sie weiter. Parnian hat in Stuttgart Maschinenbau studiert. Vor zehn Jahren kam sie nach Deutschland, weil die Stuttgarter Uni einen guten Ruf hatte, außerdem lebte eine Tante hier. Über das Studium sind viele gekommen. Die 27-jährige Morvarid studiert Informatik, Farhad hat Elektrotechnik abgeschlossen, arbeitet hier. Fariba beendet gerade am KIT in Karlsruhe ihre Promotion in Physik, Siavash hat Maschinenbau- und Energietechnik studiert, er arbeitet nun und Pooya hat nach seinem Wasserbaustudium ebenfalls einen guten Job bekommen.

Das Heimatland zu verlassen, heißt nicht, es zu vergessen. "Ich bin im Iran aufgewachsen", sagt Parnian. "Ich liebe mein Land." Zu Eltern, Geschwistern, Freunden besteht Kontakt, auch wenn der schwierig ist. "Je nachdem, ob das Internet funktioniert oder nicht." Obwohl das Regime versucht, durch Verlangsamung des Netzes seine aufständische Bevölkerung von der Außenwelt abzuschneiden, schaffen es dennoch täglich Nachrichten aus dem Land. Die wühlen auf, sagt Sepehr. "Es ist krass, wenn auf Whatsapp die Nachricht kommt: ‚Wir gehen jetzt auf die Straße. Wir wissen nicht, ob es unsere letzte Nacht ist.‘"

"Dieses Regime ermordet Kinder!", sagt Parnian. "Fünfjährige, sechsjährige Kinder!" Den Westen erreichen Meldungen und Bilder, die entsetzen. Demonstrierende werden erschossen, 16 Erhängte in Belutschistan, Bomben auf Kurd:innen, Tausende in Haft. "Das Regime führt Krieg gegen das eigene Volk." Die Aktivist:innen fragen sich: Warum reagiert der Westen nicht eindeutiger und härter? Warum solidarisieren sich nicht mehr Menschen und Institutionen mit den Revolutionär:innen? Denn das ist für sie klar: Im Iran ist eine Revolution im Gange. Es geht nicht um Reformen oder die Abschaffung des Zwangskopftuchs, sondern darum, das Regime zu beseitigen. Das müsste den Westen doch interessieren, ein freier Iran würde die gesamte Region sicherer machen, sagen sie.

Sie wünschen sich mehr Solidarität

"Als der Russland-Ukraine-Krieg losging, hat die Stuttgarter Uni ein Soli-Transparent ans Gebäude gehängt. Für den Iran passiert so etwas nicht", ärgert sich ein junger Mann im Park an der Uni. Solidarität zeigen Nina Cuttica, Christopher Walderich und Lena Kühn. Die drei gehören zu der Handvoll Deutscher, die den Reden und Liedern zuhören. Während Menschen im Iran, darunter viele Studierende, ihr Leben riskierten, "ist es für uns einfach, hier zu stehen", sagt Christopher. Viel könnten sie nicht tun, fügt Nina an. "Aber wenigstens das."

Die Jina-Freedom-Aktivist:innen erzählen, dass sie solche Solidarität am Arbeitsplatz und im Studium oft vermissen. "Als ich bei der Arbeit vom Iran erzählt habe, wurde mir gesagt, Arbeit und Politik solle nicht vermischt werden", berichtet Morvarid. Sepehr wird zwar von seinen Fußballkameraden gefragt, wie es ihm gehe. Bei der Arbeit aber nicht. Siavash dagegen erzählt, dass sein Chef regelmäßig wissen wollen, ob es ihm gut gehe, ob er sich überhaupt konzentrieren könne. "Sonst aber gilt offenbar: Augen zu. Ich finde, diese Bewegung verdient mehr Respekt und Beachtung."

Was soll passieren, wenn das Mullah-Regime tatsächlich gestürzt wird? Dann wird der Iran ein freies Land, sagen die Aktivist:innen. Natürlich gebe es unterschiedliche politische Strömungen, erklärt Siavash. Leute, die eine parlamentarische Monarchie wollen, andere, die eine weltliche Demokratie bevorzugen, weitere, die ein föderales System mit relativ unabhängigen Provinzen diskutieren. "Aber alle vereint der Glaube an die Freiheit." Ein Revolutionsrat sei denkbar, in dem Vertreter:innen wichtiger gesellschaftlicher Gruppen die Zukunft verhandeln. Im Evin-Gefängnis in Teheran säßen doch tausende Regimekritiker:innen. Parnian: "Das Evin-Gefängnis ist unsere Universität." Doch zunächst gelte ein iranisches Sprichwort, sagt Sepehr: "Wenn du kochen willst, muss du erst den Topf spülen." Erst müssten die Mullahs weg.

Das könne passieren, weil die Iraner:innen sehr westlich eingestellt seien. Und sie lassen sich nicht spalten. Es ist egal, ob jemand aus Kurdistan, aus Teheran, aus Belutschistan stammt oder wie religiös jemand ist. Das seien sie übrigens alle nicht, erklären die sieben. "Wir können den Koran lesen", sagt Sepehr. "Deswegen wissen wir ja, was drin steht." Er lacht.

Die Politik muss härter reagieren

Neulich hat die Gruppe spontan einen Sitzstreik vor dem Parteibüro der Grünen gemacht. Weil die Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen ist. Kontakt hätte niemand aus dem Büro mit ihnen aufgenommen, berichtet Parnian. "Die haben geguckt und sind vorbeigelaufen."

Es verbittert die jungen Menschen, dass der Westen, auch Deutschland, seit Jahrzehnten zu den Verbrechen des islamischen Regimes im Iran schweigt. Und dass iranische Lobbyisten ungestört arbeiten konnten. Zum Beispiel das Islamische Zentrum in Hamburg, eine Dependance des Mullah-Regimes. Zwar wird es vom Verfassungsschutz beobachtet, aber erst vor vier Wochen beschloss der Bundestag, es zu verbieten. Oder Adnan Tabatabai, der in Berlin einen Thinktank mit guten Kontakten ins Außenministerium betreibt, von hiesigen Medien gerne als Iran-Experte interviewt wurde und die Proteste dabei stets herunterspielte.

Offenbar habe Deutschland größeres Interesse an dem Atomabkommen mit dem Iran als an Menschenrechten. "Die deutsche Regierung muss verstehen, dass mit diesem Regime nicht verhandelt werden kann", drängt Siavash. "Diese Leute halten sich an keine Zusagen." Die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken forderte kürzlich, jegliche Verhandlungsversuche zu beenden, doch ihr Parteifreund und Kanzler Olaf Scholz erklärte, die Regierung halte daran fest.

Bei der Kundgebung im Uni-Park sprechen Vertreter:innen von SPD, FDP und der Linken. Alle verurteilen das Regime, Luigi Pantisano (Linke) verweist auf eine Solidaritäts-Resolution des Stuttgarter Stadtrates, der sich einzig die CDU nicht anschließen mochte. Die kam auch nicht zur Kundgebung an der Uni.

Der Kopftuchzwang bleibt

Aktuell sorgt die Meldung, das Regime wolle die Sittenpolizei auflösen, für Debatten. Bei genauerem Hinsehen ist das gar nicht beschlossen und scheint ein Ablenkungsmanöver für den Westen zu sein. Und ein Versuch, die Protestbewegung zu beruhigen, sagt der deutsch-iranische Politikwissenschaftler Ali Fathollha-Nejad in Deutschlandradio Kultur. Die Meldung kam just vor dem Aufruf zu einem dreitägigen Händler- und Einkaufsstreik im Iran. Der liefe gut, meint Parnian am Montag, am Ende des ersten Streiktages. "Sogar in dem kleinen Ort, aus dem ich komme, haben die Geschäfte zu." LKW-Fahrer, Geschäfte und Arbeiter würden mitmachen. Was sagt sie zu der Meldung über die Sittenpolizei? "Eine Lüge." Das Zwangskopftuch bleibe bestehen. Aktuell laufe über die sozialen Medien die Meldung, dass der Jahrmarkt Sarzamine Shadi in Teheran geschlossen worden sei. Der Grund: Die Mitarbeiterinnen haben kein Kopftuch getragen.


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