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Lindauer Kulturpreis für Karl Schweizer

Charly, der Bahnhofsretter

Lindauer Kulturpreis für Karl Schweizer: Charly, der Bahnhofsretter
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Seit den 1970er-Jahren ist Karl "Charly" Schweizer in den Regionen Oberschwaben, Bodensee, Allgäu und besonders in Lindau als kämpferischer linker Geist und geistreicher linker Kämpfer präsent. Jetzt hat er den Kulturpreis der Stadt Lindau bekommen.

Seit vielen Jahren erhalte ich alle paar Monate eine Werbe-E-Mail des Fünf-Sterne-Hotels Bayerischer Hof in Lindau. In all diesen Jahren habe ich wenig zum Gedeih dieses Hotels beigetragen. Und doch gibt es einen tieferen Grund für die regelmäßigen E-Mails. Und der hat – ohne dass das Hotel-Management davon Kenntnis hat – viel mit einem Menschen zu tun, der in diesen Tagen mit dem Kulturpreis der Stadt Lindau geehrt wird.

Mensch, Charly, wer, wenn nicht Du?

Karl – Charly – Schweizer war bis 2016 Lehrer, überwiegend tätig an der Pestalozzi-Werkrealschule in Friedrichshafen. Er war Teil eines Teams, das 1981 das alternative, linke Blatt "Südschwäbische Nachrichten" gründete; er blieb dieser für die linke und für die Antifa-Szene der Region wichtigen Publikation bis zu ihrer Einstellung im Jahr 1991 eng verbunden. Er ist seit den 1970er-Jahren aktiv in der Friedensbewegung, in DGB und GEW. Er engagiert sich seit rund vierzig Jahren in unterschiedlichen fortschrittlichen Projekten, Zusammenhängen und bei diversen Antifa-Aktivitäten.

Lokalhistoriker und -politiker

Nun gelten Antifa-Aktivitäten, Antikriegsengagement und klassenkämpferische Gewerkschaftsarbeit nicht nur im bayerischen Lindau den Oberen als eher nicht salonfähig. Und schon gar nicht als kulturpreiswürdig. Was dennoch dazu geführt haben dürfte, dass die Verantwortlichen in der Stadt Lindau Karl Schweizer den Kulturpreis 2022 der Stadt verliehen, dürften dessen Tätigkeiten als Autor von Büchern und von Zeitungsartikeln gewesen sein. Schweizer ist Verfasser von rund einem Dutzend Broschüren und Büchern zur Geschichte von Lindau und der Bodensee-Region – beispielhaft genannt seien "Lindau und der Erste Weltkrieg", "Jakobiner am Bodensee", "Novemberrevolution 1918 und Räterepublik 1919 – Sozialisten und Kommunisten in Lindau und Umgebung" und – erst 2021 erschienen und bereits wieder vergriffen – "170 Jahre Eisenbahn in Stadt und Landkreis Lindau. 100 Jahre Bahnhofsgebäude Lindau-Insel".

Charly gehörte lange Zeit zum inneren Kreis der Bunten Liste Lindau, die seit 1984 im Lindauer Stadtrat vertreten ist und die inzwischen dort die stärkste Fraktion stellt. Seit einigen Jahren vertritt er als Mitglied im Kreisrat Lindau die Partei Die Linke. Und es sind immer wieder Großprojekte der Oberen in Stadt und Kreis, der Bau- und Beton- und Spekulationslobby, die von der Linken und von der Bunten Liste bekämpft werden – wobei Charly bei diesen Aktivitäten so gut wie immer eine vorantreibende Rolle spielt. Wenn man diese Kämpfe auf einen Nenner bringen will, dann geht es fast immer um Widerstand gegen die Zerstörung von Urbanität, von Lebensqualität, von Natur und Umwelt.

Und wie das bundesweit fast überall der Fall ist, so handelt es sich bei all diesen Aktivitäten überwiegend um Verteidigungskämpfe, um Rückzugsgefechte, um Hier-steh-ich-und-ich-kann-nicht-anders-Engagements. Doch auch diese müssen mit Energie, mit Witz und nicht zuletzt mit Würde geführt werden. Und Charly gehört zu denen, die auch diese Defensiv-Kämpfe nach dem Motto führen: Man muss sich am nächsten Tag im Spiegel doch noch ansehen – und erkennen! – können.

Und: Man muss all das immer auch in einem großen und historischen Zusammenhang sehen. Als zum Beispiel die Gewerkschaft der Polizei Anfang 2021 ein allgemeines Verbot von Kundgebungen und Demonstrationen wegen der Pandemie-Auflagen forderte, veröffentlichte Karl Schweizer am 5. Januar 2021 eine Presseerklärung, in der es heißt, er widerspreche "diesem Ansinnen der Polizeigewerkschaft, da dies "die Gefährdung des seit dem Bauernkrieg vor rund 500 Jahren über Jahrhunderte hinweg mühselig erkämpften Volksrechts auf öffentliche Versammlung und gemeinsame Bekundung oppositioneller Meinungen beschädigen würde". Es dürfe nicht sein," dass […] der Zynismus, die Demagogie und die Rücksichtlosigkeit" der Querdenker und Schwurbler zu "diesem antidemokratischen Sieg" führen würde. Einen derart großen 500-Jahre-plus-x-Bogen zu schlagen, gewissermaßen von der Covid-19-Pandemie ins Pest-Zeitalter zurückzublenden, darauf kommt kaum ein anderer als Comrade Charly himself.

Ein bisschen Weltpolitik

Und dann sei an ein Ereignis erinnert, bei dem Lindau hoch auf die Ebene der Weltpolitik, naja, zumindest auf das Hochplateau der EU-Politik rückte. Anfang September 1994 hatte der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel die EU-Finanzminister nach Lindau geladen. Auf der Tagesordnung stand die geplante Einführung der EU-Einheitswährung und die EU-weite Sparpolitik auf dem Rücken der kleinen Leute, die mit dem zwei Jahre zuvor beschlossenen Maastricht-Vertrag verschärft werden sollte. Und was mussten die Herren EU-Finanzminister bei geweitetem Blick auf den See, auf das Hafenbecken und auf die Kai-Mauern sehen? Auf der Balustrade des Neuen Leuchtturms an der Hafenausfahrt wurde ein riesiges Transparent entrollt, auf dem mit großen Lettern zu lesen war: gegen "ein Europa der Bonzen und Banken". Charly hatte die Aktion generalstabsmäßig geplant, ich durfte dabei sein.

Es gibt einen Aspekt in der Arbeit von Karl Schweizer, der in besonderem Maß kulturpreiswürdig ist. Charly hat maßgeblich dazu beigetragen, dass es in Lindau auf der Insel bis zum heutigen Tag ein Juwel gibt, nämlich den Inselbahnhof. Und das ist und war ein Kampf, der nunmehr ziemlich genau seit einem Vierteljahrhundert andauert.

Das Projekt "Zerstörung des Inselbahnhofs"

Ich zitiere aus der Lindauer Zeitung vom 29. April 1997 die Meldung zu diesem historischen Vorgang: "Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG, Heinz Dürr, Bayerns Wirtschafts- und Verkehrsminister Otto Wiesheu und Lindaus Oberbürgermeister Jürgen Müller bekräftigten gestern auf einer Pressekonferenz, dass sie dazu tendieren, den Bahnhof aufs Festland zu verlagern. Eine Schienenverbindung zur Insel ist nicht vorgesehen. Der Bahnchef rechnet damit, dass das gesamte Bahnhofsprojekt in vier bis fünf Jahren abgeschlossen ist. Diese Entscheidung bestimmt, wie Lindau in 20 oder 30 Jahren aussehen wird. Die Kosten des gesamten Projekts bezifferte Dürr auf rund 70 Millionen Mark." Wobei die Formulierung, wonach die Herren zur Verlegung des bestehenden Bahnhofs weg von der Insel "tendieren" würden, sich als geschwurbelt erwies. Das war aus Sicht der Deutschen Bahn AG und der Stadtoberen damals bereits ein in Stein gemeißelter Beschluss. Er beruhte auf demselben Vorgehen, das der damalige Bahnchef Heinz Dürr auch in Stuttgart beim Projekt Stuttgart 21 an den Tag gelegt hatte – auf der Überrumpelung der Öffentlichkeit und der Schaffung vollendeter Tatbestände. Und die Aufgabe des Lindauer Inselbahnhofs war – und ist! – natürlich Teil der kurz zuvor, 1994, mit der "Bahnreform" durchgesetzten Bahnprivatisierung und Teil der Orientierung des Bahnkonzerns und vor allem dessen Tochter DB Netz auf die Verscherbelung des wertvollen, in 180 Jahren Geschichte angehäuften Eisenbahn-Immobilien-Vermögens. Die großen Vorhaben der Bahnhofszerstörung in Stuttgart, Frankfurt am Mai und München wurden ergänzt um ein Projekt wie das am Bodensee.

Zurück nach Lindau: Die Operation Überrumpelung der Öffentlichkeit schien geglückt – bereits am Tag nach der genannten Pressekonferenz erklärten laut Lindauer Zeitung "alle Fraktionssprecher der im Stadtrat vertretenen Gruppierungen ihr grundsätzliches Einverständnis mit den Bahnhofsverlegungsplänen in einen Festlandsstadtteil". Am 20. Juni legte sich die Industrie- und Handelskammer auf Reutin als Ort für den "neuen Hauptbahnhof" fest. Und am 23. Oktober desselben Jahres sprachen sich die entscheidenden Strukturen der damals in Lindau noch absolut vorherrschenden CSU für die Verlegung des Bahnhofs weg von der Insel aus – wobei sie die aus der Stuttgart 21-Demagogie bereits bekannte Formulierung wählten, damit böte sich "eine einmalige Chance, städtebauliche Ideen umzusetzen und die Insel wieder zu einer Einheit werden zu lassen".

Die Schiene als Spalter der Insel ... seit 1854!? Als ob die Oberen und die gesamte Bevölkerung der Stadt Lindau Anfang der 1850er-Jahre nicht sehnlichst auf die Ankunft der im Bau befindlichen Ludwig-Süd-Nord-Bahn auf die Insel selbst gewartet hätten!? Als ob die Stadt Lindau nicht aufgeblüht wäre, als es diese Eisenbahnverbindung und mit ihr diese wunderbare Vernetzung von Bahn und Schiff gab!?

Für die Menschen am Bodensee und für Leute, die Lindau besucht haben, muss man kaum ausführen, welch eine bodenlose Zerstörungswut hinter diesen Plänen zur Aufgabe des Inselbahnhofs erkennbar ist. Für Menschen ohne entsprechende Kenntnis sei in gebotener Kürze das Folgende ausgeführt: Es gibt in ganz Deutschland kaum einen Bahnhof in dieser Kategorie, der derart (Jugend-)stilvoll, beeindruckend und städtebaulich überzeugend ist und die Bahnreisenden mit einer Ankunft direkt an der Seepromenade begeistert. Es war die Deutsche Bahn AG selbst, die kurz zuvor in einer – dann gezielt geheim gehaltenen – Studie festgestellt hatte: "Zusammenfassend hat das Bahnhofsgebäude in Lindau das Potential, Bench-Mark-Funktion (Leitbild-Funktion; d. Red.) für die touristischen Bahnhöfe in Süddeutschland und eine bedeutende Rolle als Imageträger für die DB AG zu übernehmen." Alle Menschen vor Ort, die nicht von Fremdinteressen bestimmt waren, waren sich einig, dass die Pläne zur Auflassung des Inselbahnhofs ausschließlich spekulativen Zielen dienten.

Ein Vierteljahrhundert erfolgreich

Seit diesem Zeitpunkt – und im Grunde bis zum heutigen Tag – gibt es in Lindau und Region ein hartes Ringen, diese bahn- und stadtzerstörerischen Bahnhofspläne zu verhindern. Es gab zu diesem Thema hunderte Flugblätter, eine große Zahl Sonderausgaben von Zeitschriften, dutzende Stadtratsbeschlüsse, zwei Bürgerentscheide, mehrere Gegenentwürfe zur Optimierung des Inselbahnhofs, das lokal wichtige Bündnis "Aktionsgemeinschaft Inselbahnhof" mit einer eigenen Publikation, dem "Bahn-Boten", und viele hundert Artikel in der "Lindauer Zeitung". Und bis heute wurde erreicht, dass der Inselbahnhof existiert und in Betrieb befindlich ist – auch wenn ein Fernbahnhof in Reutin gebaut und 2020 in Betrieb genommen wurde, auch wenn die Oberen im Bahnkonzern, in der Stadt und wiederholt eine Mehrheit im Stadtrat immer wieder aufs Neue Versuche starten, den Inselbahnhof auszuhungern, ihn von guten Fahrplanverbindungen abzuschneiden, ihn durch eine Rücknahme der Gleise um einige hundert Meter förmlich ins Abseits zu stellen und diesen durch ausbleibende Investitionen in Renovierung und Erhalt des Gebäudes selbst tendenziell dem Verfall näherzubringen.

Ein Höhepunkt des Widerstands gegen die Zerstörung des Inselbahnhofs war eine Konferenz mit dem Titel "150 Jahre Ludwig Süd-Nord-Bahn – Lasst die Kirche im Dorf und den Bahnhof auf der Insel!". Veranstalter war die Bahnfachleutegruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn (BsB). Die Konferenz fand am 6. und 7. März 2004 statt, zu den Referenten gehörten Heiner Monheim, Karl-Dieter Bodack, Klaus Gietinger und Andreas Kleber. Ort der Tagung war – der Bayerische Hof. Denn Charly war es gelungen, auch prominente CSU-Menschen für unsere Sache zu gewinnen, im echten Sinne "Konservative". Einer von ihnen war der damalige Chef und Eigentümer des Bayerischen Hofs, Richard Stolze, der uns die Tore und Räume seines Hotels öffnete. Und hier schließt sich der Kreis meiner Laudatio.

Es sei wiederholt und signalrot unterstrichen: Wir blieben ein Vierteljahrhundert gegen die breite Front von CSU, gegen die Spekulationslobby und gegen den Bahnvorstand erfolgreich. Es gibt den Inselbahnhof immer noch, ein großer Teil der Züge fährt ihn weiter an. Und all dies ist nicht zuletzt Verdienst des Kulturpreisträgers der Stadt Lindau 2022.


Winfried Wolf ist aktiv bei "Bahn für Alle" und "Bürgerbahn statt Börsenbahn". Er ist Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie. Verantwortlich ist er auch für die Publikationen "ZeroCovid" und "Zeitung gegen den Krieg". Websites: www.winfriedwolf.de und www.lunapark21.net. Jüngste Veröffentlichung: Tempowahn. Vom Fetischismus Geschwindigkeit zur Notwendigkeit der Entschleunigung. Promedia, Wien 2021.


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2 Kommentare verfügbar

  • RadtourenChecker
    am 12.06.2022
    Antworten
    Bin seit 2016 jedes Jahr auf Radtouren um den Bodensee unterwegs. Auch der Bodensee-Königssee-Radweg beginnt hier.
    Der Bahnhof direkt auf der Insel hat mich immer fasziniert, der muss unbedingt bleiben. Es wäre fatal grundlegende Infrastruktur abzubauen (wie es gerade in Stuttgart geschieht).
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