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Stuttgarter Clubszene und Corona

DiplomatInnen der Nacht

Stuttgarter Clubszene und Corona: DiplomatInnen der Nacht
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Clubs kämpfen in der Pandemie ums Überleben. Doch Corona ist nur eines von zahlreichen Problemen im Nachtleben. Ein Nachtbürgermeister soll Abhilfe schaffen.

Surreale Stille füllt den Raum. Nur ein dumpfes, monotones Rauschen legt sich aufs Trommelfell. "Da, man hört es", sagt Florian Buntfuss und weist auf das gleichförmige Brummen der Lüftungsanlage hin. Seine Ohren sind darauf eingepegelt, er verbringt viel Zeit hier unten zwischen Barhockern und leerer Tanzfläche. Buntfuss ist Clubmanager des "Climax Institutes" in der Calwer Straße. Eingezäunt zwischen feinen Restaurants und edlen Boutiquen ruht der Techno-Bunker mit der schmalen Eingangstür. Vor der Pandemie pilgerten Techno-JüngerInnen in den kleinen Kellerklub und huldigten schwitzend dem Viervierteltakt. Donnerstags bis samstags.

Das ist jetzt Geschichte, vor über elf Monaten gab's die letzte Party. Für das Climax hängt mit der Corona-Krise das Damoklesschwert über der eigenen Existenz – keine Einnahmen, keine Veranstaltungen, kaum Alternativen. Florian Buntfuss wirkt dafür überraschend ruhig. Dem 41-Jährigen sieht man keine Sorgenfalten an, er redet stets so entspannt, als wäre er gerade von einer Massage zurückgekehrt. Momentan könne man die Fixkosten annährend decken, erzählt er. Das liegt vor allem an einem Faktor: den Hilfen und Förderungen. "Manchmal werde ich schon Förder-Flo genannt", scherzt der Clubmanager. Auch die Tatsache, dass es das Climax schon 24 Jahre gibt, hilft. Rücklagen, Steuerberatung und unternehmerische Erfahrung sind hier besser aufgestellt als in manch anderen Nachtclubs.

Doch bei aller Entspanntheit ist ihm klar, dass ohne die staatlichen Programme die Realität sehr viel düsterer aussehen würde. Buntfuss wird deutlich: "Ohne die Förderungen wäre die Gastro wohl schon tot." Corona-Soforthilfe, Überbrückungshilfen I, II und III, Kurzarbeitergeld, dazu kleinere Unterstützungen wie der Live Music Fonds des Pop-Büros oder die Crowdfunding-Aktion "United We Stream": Viel wird getan, um die Kultur- und Veranstaltungsszene am Leben zu halten. Die gesamte Szene hängt am Tropf.

Gleichsetzung mit Puffs und Spielhallen

Dabei eliminiert die Pandemie die bereits bestehenden Probleme des Nachtlebens keinesfalls – sie kommt noch obendrauf. Zumindest bei gutem Wetter plagen meist dieselben Themen die Partyviertel der Bundesrepublik: Lärm, Müll, Dreck, Gewaltpotenzial, Stress mit AnwohnerInnen. Dazu die fehlende Anerkennung. Clubs und Bars werden nicht als gleichwertiger Teil der Kultur wie etwa Theater, Oper oder Kino gesehen. Sie bewegen sich in der Sphäre von Puffs und Spielhallen. Das ist kein polemisch-zugespitzter Vergleich. Die sogenannte Baunutzungsverordnung des Bundes (BauNVO) wirft alles in einen Topf: Livemusikspielstätten, Clubs, Bordelle, Wettbüros, Strip-Lokale, Spielhallen. Alles derselbe Quark.

ClubbetreiberInnen und Interessensverbände machen Druck, wehren sich dagegen. Live-Konzerte und DJ-Sets haben denselben Wert wie die Hochkultur einer Stadt, so der Tenor. Ein zentrales Argument dabei: It's the economy, stupid! Selbst konservative PolitikerInnen realisieren: Clubs und Kulturstätten sind ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Frank Nopper hebt in einer Videobotschaft etwa die Relevanz eines "vitalen Nachtlebens" für die Wirtschaft hervor. In Stuttgart existieren noch keine Zahlen. Aber Berlin hat sie. 2018 erwirtschaftete die Clubszene dort rund 1,48 Milliarden Euro.

Wer soll diesen Berg an Problemen lösen? Wer soll's richten? Die Szene sagt: Ein/e NachtbürgermeisterIn muss her. Metropolen wie Amsterdam, New York oder Mannheim haben bereits eine/n. Laut der Stadt Stuttgart soll er oder sie "die Bedürfnisse von Clubs, Bars, Anwohnern und Stadtverwaltung besser aufeinander abstimmen." Der Interessensverband "Club Kollektiv" wünscht sich keinen "Kummerkasten", sondern ein "klares Bindeglied", das zwischen den vielen AkteurInnen vermittelt. Wie das in der Praxis aussieht, wird sich zeigen. Was konkret erreicht werden kann, erzählt etwa der damalige Nachtbürgermeister Mannheims in einem Interview.

Ein Amt für die Nacht

Nach einem Jahr Amtszeit: weniger Scherben im Problemkiez Jungbusch, regelmäßige Kontrollen von Polizei und Ordnungsamt sowie der Start einer Initiative gegen sexuelle Belästigung in Clubs und Bars. Auch Heidelberg hat vergangene Woche zwei Repräsentanten für das Nachtleben bekommen. In Stuttgart wird es Anfang März so weit sein. Der Trommelwirbel um die Wahl ist immens. Für 34 BewerberInnen konnte zunächst online abgestimmt werden, aus denen dann wiederum zehn KandidatInnen hervorgingen. Die Resonanz auf den Posten war groß, eine dreistellige Anzahl an Bewerbungen ging ein. Die Online-Wahl sorgte für harsche Kritik, das Pop-Büro wurde auf "Sicherheitslücken" hingewiesen, sie stoppten und verschoben die Abstimmung.

Vergangenen Samstag wählte eine Jury aus Mitgliedern von Parteien, Verbänden und Verwaltung dann die drei FinalistInnen. Der Aufwand: gewaltig. Professionelle Moderation, alles live im Netz übertragen, eine perfekt orchestrierte Veranstaltung. "Im Wizemann", wo sonst Konzerte stattfinden, sitzen drei Männer hinter zehn Bildschirmen und regeln die Technik. Für die Ecken und Kanten sorgten die AmtsanwärterInnen selbst. Der eine stolpert auf die Bühne, ein anderer vergisst, was gerade eigentlich Thema war. Nervös umklammern einige ihre selbstgeschriebenen Karteikarten, bevor sie auf die Bühne treten, ganz so, als würden sie gleich eine Schulpräsentation geben. Es macht sie nahbar. Sie sind keine Medienprofis, sondern Menschen direkt aus der Szene. Barkeeper, Clubbetreiber, Veranstalterinnen – von der Szene, für die Szene, so das Motto.

Zu vielen schwierigen Fragen mussten die KandidatInnen Stellung beziehen: Was tun gegen Rassismus und sexuelle Belästigung im Nachtleben? Wie Stuttgart attraktiver für KünstlerInnen machen? Wie das Nachtleben sicherer machen? Und was ist mit dem Müll? Die drei FinalistInnen des Abends heißen Claudia Queschning, Maha Shoukri und Nils Runge. Sie werden jetzt in klassischen Bewerbungsgesprächen nochmals auf die Probe gestellt.

Mit 185.000 Euro jährlich, zementiert im aktuellen Doppelhaushalt, wird eine Stelle beim Pop-Büro angesiedelt ("szeneaffine Fachkraft") sowie eine weitere bei der Wirtschaftsförderung ("verwaltungsinterner Lotse"). Die Erwartungen sind unglaublich hoch. Ebenso der Umfang an Aufgaben: Mit möglichst vielen GastronomInnen, Ämtern, AnwohnerInnen, Verbänden und sonstigen Beteiligten soll kommuniziert und Konsens hergestellt werden. Konzepte müssen erarbeitet und das Stuttgarter Nachtleben nach außen repräsentiert werden. Der Posten sei eigentlich eine Zumutung, meint der ein oder andere Clubbetreiber.

Nachtleben als Ventil

Doch die Gebete der Szene wurden erhört. Der Verein das Club Kollektiv, in dem auch Climax-Manager Florian Buntfuss Mitglied ist, brachte den Stein ins Rollen. Das Kollektiv veröffentlichte im August 2019 das "Stellenkonzept Night Mayor". Aus diesem Papier übernahm die Stadt Stuttgart erstaunlich viel. Angefangen beim Wording ("Koordinierungsstelle Nachtleben"), über die Ausgestaltung des Postens (zwei Vollzeitstellen) bis hin zum Fokus auf die drei Bereiche Nachtkultur, Nachtökonomie und Nachtsicherheit. Die Hoffnung ist zudem, dass man in der Landeshauptstadt von Mannheim lernen kann. Als erste Stadt bundesweit installierte Mannheim 2018 mit Hendrik Meier einen Nachtbürgermeister. An Lob und Freudentaumel wurde nicht gespart. Unter vorgehaltener Hand wird jedoch auch Kritik an der Ausgestaltung des Mannheimer Postens laut: Nur eine einzige Teilzeit-Stelle, die zudem nicht direkt bei einem städtischen Amt angesiedelt sei, könne wenig ausrichten. Und ohne Befugnisse komme der Night Mayor wie ein zahnloser Tiger daher.

Clubs und Bars sind der soziale Klebstoff des Nachtlebens, sie halten alles zusammen. Dort kanalisieren Menschen Energie und Emotionen. Das Nachtleben hat seit jeher die Rolle übernommen, den Menschen kurzweilige Transzendenz des Alltags zu bieten. Fehlt dieses Ventil, schafft das Probleme. Die angestaute Energie sucht sich dann andere Orte. Der vergangene Corona-Sommer zeigte das: Randale-Nacht, ein zugemüllter Marienplatz, die Renaissance der Hausparties. Vergangenen Oktober erhitzte ein kurzer O-Ton des "heute journal" (ZDF) die Gemüter. Eine junge Frau namens Ida erzählte, dass ihr das Feiern fehle. Fabio Jacob, wissenschaftlicher Mitarbeiter eines CDU-MdB, teilte den Ausschnitt unter dem Titel "Definiere 'first world problems'" auf Twitter. Häme und Hasstiraden prasselten im Netz auf Ida ein.

Tanzen, feiern, sich von den Fesseln des Alltags losreißen ist ein elementares Bedürfnis. Eine Kommentatorin der "NZZ" umschreibt das Problem so: "Tanzen ist ein anderes Wort für Freiheit. Deshalb ist es falsch, von Erste-Welt-Problemen zu reden, wenn einem die Nächte nun fehlen, in denen man sich im Rhythmus mit der Menge bewegt."

Barkeeper zu Impfhelfern

Das leere und grau wirkende Climax füllt sich langsam mit Leben und Lichtern. Nach und nach trudeln Künstler ein, der Barmann grüßt in die Runde. Es gibt Treiber-Probleme auf dem PC, Clubmanager Buntfuss fachsimpelt mit DJ und Visualspezialisten. Er nuckelt an seinem elektronischen Tabakstick und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Der Livestream des Abends wird vorbereitet. Dieses Jahr feiert das Climax 25-jähriges Jubiläum. Die House- und Technobeats in den Äther zu jagen gehört zu den wenigen Möglichkeiten, die den Clubs momentan bleiben. Ein Online-Shop mit Fanartikeln wurde hochgezogen, Pullover und Masken lassen sich dort erwerben. Dabei geht es eher um Symbolik als ums Geldverdienen.

Streaming und Shop sollen zeigen: Wir sind noch am Leben, wir wollen nicht vergessen werden. Buntfuss arbeitet gerade an einem Konzept, seinen MitarbeiterInnen an der Bar neue Aufgaben zu geben: "Wir überlegen derzeit, den Impfzentren ein offenes Angebot zu machen." Für sogenannte einfache Tätigkeiten könnten die Climax-MitarbeiterInnen eingesetzt werden – ältere Menschen betreuen, telefonieren, in der Gemeinschaftsküche helfen. Den Piks mit der Nadel darf nur geschultes medizinisches Personal vornehmen. Das Vorhaben ist nicht nur altruistischer Natur: Je schneller die Bevölkerung immunisiert ist, umso zügiger haben die Clubs eine Perspektive wieder aufzumachen. Denn genau das – eine Perspektive – gibt es derzeit nicht.


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2 Kommentare verfügbar

  • Hella Brun
    am 24.02.2021
    Antworten
    danke, gewählt und auserkoren.
    Daß nächtliche Besäufnisse und ausufernde Rücksichtslosigkeiten samt Dauerbelärmung neuerdings als Kultur gelten wie Oper oder Kino kennzeichnet den Zeitgeist, dem jeder Geist abhanden gekommen ist. Daß dazu angeblich die Anwohner ins Boot geholt werden sollen durch…
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