Der Ärger fing jedoch viel früher an. Im September 2019 leitete die Bezirksärztekammer Nordwürttemberg ein berufsrechtliches Verfahren gegen den Steinheimer Alternativmediziner ein. Ihm wurde vorgeworfen, keine Kinder zu behandeln, deren Eltern auf einer Masern-Impfung bestehen. Knapp zwei Monate später schaltete sich das Gesundheitsamt Stuttgart ein, Scheel habe einen Säugling wochenlang homöopathisch behandelt, der unter Mangelernährung und Entwicklungsverzögerung litt. Er habe die Eltern des Kindes nicht darüber informiert, dass es sich in einem akut lebensbedrohlichen Zustand befinde. Auf Kontext-Nachfrage erklärt Scheel, er habe die Eltern dazu gedrängt, die vegane Ernährung des Säuglings zu überdenken. Sie hätten laut seiner Aussage nicht schnell genug gehandelt. Das Gesundheitsamt äußerte sich dazu bis Redaktionsschluss nicht.
Licht kann man nicht essen
Scheel lernte nach eigenen Angaben den Beruf des Elektromechanikers, bevor er sich der Medizin zuwandte. In Jena geboren, sei er 1982 aus der DDR geflüchtet. Der Alternativmediziner sprach sich in der Vergangenheit mehrfach für das Konzept der "Lichtnahrung" aus – also den Verzicht auf Lebensmittel-Konsum. Die Aufnahme "materieller Dinge" sei – wenn überhaupt – nur für den Genuss nötig, sagte der 72-Jährige vergangenes Jahr bei einem veganen Online-Kongress. Diese gefährliche Praktik, die ursprünglich aus der Esoterik stammt, forderte in Deutschland mehrere Todesopfer.
Auch die "Germanische Neue Medizin" nach Ryke Geerd Hamer empfahl Scheel auf seiner Website, er machte sie auch zum Inhalt eines Vortrags. Die Todesfälle durch diese Pseudo-Behandlungsmethode siedeln sich weltweit im dreistelligen Bereich an. Auf Anfrage betont Scheel, nie ein Anhänger von Hamer gewesen zu sein. Die Intention seiner täglichen Bemühungen bestehe darin, dass jeder Mensch seine Wahrheit lebe. Die Ausrichtung der modernen Medizin finde er zu "mechanistisch". An anderer Stelle hört sich sein "ganzheitliches" Verständnis von Medizin so an: "Krankheit ist Heilung. Kinderkrankheiten sind unendlich wichtig. Sie dienen dazu, gesünder zu werden."
Scheel zitierte auf seiner Website öfters aus den Schreiben der Kassenärztlichen Vereinigung, was selbige sehr empörte, ist doch das gesamte Verfahren nicht öffentlich, also auch der Schriftverkehr. Auch aus dem Zulassungsausschuss darf niemand reden, das gefährde das laufende Verfahren, lässt die Standesorganisation wissen. Zwischen den Instanzen dürfte es brodeln – darauf weist zumindest ein Schreiben der KVBW hin, aus dem Kinderarzt Scheel im Januar 2020 auf seiner Homepage zitierte. Es könne nur mittels "Anordnung der sofortigen Vollziehung des Zulassungsentzugs eine weitere Patientengefährdung aufgrund der gelebten Haltung und Einstellung des Herrn Dr. Scheel vermieden (...) werden." Das ließ den Zulassungsausschuss offenbar kalt.
Der Alternativ-Doktor nimmt sich Zeit für die Patienten
Es ist schon bemerkenswert, wie viele Protestierende aus ganz Baden-Württemberg für einen Arzt anreisen, Transparente basteln, Solidarität bekunden. Einige unter ihnen sind gar nicht bei ihm in Behandlung, haben bloß Bekannte, die von ihm schwärmen. Menschen fahren mitunter 130 Kilometer, um einen Termin in seiner Praxis wahrzunehmen. Stellt sich die Frage: Was unterscheidet den Mediziner, abgesehen von seiner impfkritischen Haltung, von seinen KollegInnen?
Die Antwort darauf findet sich wohl in Scheels Behandlungszimmer. Die meisten PatientInnen bekunden, er nehme sich Zeit für ihren Nachwuchs. Viel Zeit. Eine Seltenheit in einem Gesundheitssystem, das sich dank neoliberalem Umbau vom Menschen zunehmend wegbewegt. Viele fühlen sich beim Arzt wie an der Supermarktkasse. Kein Wunder also, dass Alternativ-Doktor Scheel so beliebt ist. Er verkörpert den Gegenpol zur zahlenfixierten Profit-Medizin. Wenn Scheel spricht, strahlt er Gelassenheit aus. Sein Lächeln entwaffnet. Das schätzen die, die in seine Praxis stapfen.
Allianz mit den "Querdenkern"
Atteste gegen die Masern-Impfpflicht werden in der Filterblase der Impfgegner als eine Art Widerstand gegen das System gesehen. Analog dazu sind Atteste gegen die Maskenpflicht eine angemessene Form des Protests gegen die "Corona-BRD", wie man in "Querdenker"-Kreisen meint. Wie der Südwestrundfunk jüngst berichtete, ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen mehrere Ärzte, die solche Fake-Dokumente ausstellten. Impfgegner und "Querdenker" besitzen viele Schnittstellen. Wolfgang Scheel sprach bereits bei Veranstaltungen in Karlsruhe, Heilbronn und Murrhardt. Framing und Feindbilder sind dieselben: Vereinzelte widerborstige Ärzte kämpfen gegen die graue Masse von systemgesteuerten Pharma-Lemmingen.
Noch ist kein Urteil gegen den Steinheimer Arzt rechtskräftig. Der Ausgang ist ungewiss. Bis zu zwei Jahre Freiheitsstrafe könnten drohen, wenn der Verstoß gegen §278 StGB bestätigt werden sollte. Seine zahlreichen Fans und Patienten wollen weiterhin von ihm behandelt werden. Scheels Profil auf der Bewertungs-Plattform "jameda" attestiert ihm die Note 1,0. Eine Internet-Petition sammelt Unterschriften für ihn, über 17.000 Menschen haben unterschrieben. Auf der Kundgebung betont Scheel: "Wir müssen in Liebe leben." Wenig später wird auf derselben Bühne das Robert-Koch-Institut mit Nazi-Ärzten wie Josef Mengele verglichen.
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