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Spielräume beim Bleiberecht

Spielräume beim Bleiberecht
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Der Streit ums Bleiberecht von Geflüchteten in Arbeit treibt immer neue Blüten. Die Grünen sehen sich im Südwest-Landtag plötzlich an der Seite der AfD, die SPD schlachtet das genüsslich aus. Während der Verwaltungsgerichtshof einen Lösungsweg aufzeigt.

Zum Erschrecken vieler – auch von Parteifreunden – haben die Grünen aus Koalitionsräson nicht nur mit der CDU, sondern auch mit der AfD gemeinsame Sache gegenüber einem SPD-Vorstoß gemacht. In der ersten Sitzung des baden-württembergischen Landtags im neuen Jahr hat die SPD den Antrag zur "Ausübung des Ermessens hinsichtlich einer Duldung für gut integrierte Asylsuchende" eingebracht. Fraktionschef Andreas Stoch bezeichnete es als absurd, wenn Geflüchtete in Arbeit abgeschoben und den Unternehmen im Land damit dringend benötigte Arbeitskräfte entzogen würden.

Hintergrund der Debatte waren Abschiebungen, die von betroffenen Unternehmern und Kommunen heftig kritisiert worden sind (Kontext berichtete). Der SPD-Antrag entsprach auch dem, was die Grünen wollen. Doch die Grünen fühlten sich von der SPD vorgeführt. Zum einen, weil erst am Tag der Debatte ein Zusatzantrag nachgeschoben wurde. "Darauf konnten wir gar nicht mehr reagieren", hieß es. Zum anderen, weil die SPD auf Facebook das Ergebnis der namentlichen Abstimmung veröffentlichte, was den Grünen so böse Kommentare einbrachte, wie "Grün – das neue Braun?".

Schwarzer Beistand

Die Grünen sind in der Landesregierung nicht ganz allein mit ihrer Forderung, Ermessensspielräume zugunsten von Geflüchteten in Arbeit weiter zu fassen als bisher: CDU-Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut erinnerte daran, dass sie sich für eine Stichtagsregelung zur erleichterten Duldung ausgesprochen hatte und die Wünsche aus Unternehmen und Mittelstand ernst nimmt. Ministerpräsident Winfried Kretschmann sieht – ohne Innenminister Thomas Strobl (CDU) direkt anzugreifen – ohnehin Möglichkeiten, pragmatisch vorzugehen: "Wenn wir eh nicht in der Lage sind, alle Ausreisepflichtigen abzuschieben", könne doch eine Reihung vorgenommen werden, etwa um straffällig gewordene abgelehnte Asylbewerber vorzuziehen. "Wir nutzen das Ermessen im Rahmen dessen, das uns vorliegt", so Kretschmann weiter – allerdings im Bewusstsein, dass es genau darüber mit Strobl kein Einvernehmen gibt. Also wird verhandelt und es werden, wie Kretschmann sagt, die unterschiedlichen Rechtsauffassungen ausgetauscht: "Dann sehen wir, ob man das hinbekommt." Wenn nicht, steht fest, dass auch die von Strobl gewünschten Änderungen im Polizeigesetz warten müssen. Bis es gegebenenfalls über die unstrittig gemeinsam angestrebte Bundesratsinitiative zu den eigentlich vor Weihnachten schon im Paket vereinbarten Erleichterungen für Geflüchtete in Arbeit und damit auch für ihre Arbeitgeber kommt. (jhw)

Intensive Verhandlungen darüber, wie es weitergeht, sind angelaufen zwischen den Regierungskoalitionären. Im Paket ist auch die Polizeirechtsnovelle, die wegen des Streits ums Bleiberecht auf Eis lag. Nun gehen die Verhandlungen in eine neue Runde. Abgestimmt werden sollen die umstrittenen Fragen am Rande der aktuellen Landtagssitzung. Aus den Reihen der CDU wird auf das Bundesgesetz zur Beschäftigungsduldung verwiesen, das seit 1. Januar in Kraft ist. Spielräume gebe es da nicht. So wird die strenge Abschiebepraxis begründet. Wer anderes wolle, handle illegal.

Jeder interpretiert, wie er will

Dass die Grünen in dieser Frage anders denken, haben sie öffentlich immer beteuert. Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz hatte bei einer Podiumsdiskussion sogar von einem vorläufigen Abschiebestopp von Geflüchteten in Arbeit gesprochen. Im Koalitionsausschuss sei mit der CDU vereinbart worden, damit bis zu einer Bundesratsinitiative zu warten. Demnach sollen nur sechs statt zwölf Monate Duldung vorausgesetzt werden. Zumindest darin sind sich die Koalitionäre einig. Ein Abschiebemoratorium wurde nicht vereinbart, beteuern CDU-Abgeordnete.

Wer wissen will, was eigentlich festgelegt wurde, ist auf Ausdeutungen angewiesen, denn ein Protokoll gibt es nicht. Nach Ansicht der Grünen und Teilen der CDU ignoriert Innenminister Thomas Strobl (CDU) diese Absprache.

Jetzt hat Uli Sckerl, der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Fraktion, nachgelegt und Strobl "fehlenden politischen Willen" vorgeworfen, um "Voraussetzungen zu schaffen, dass Flüchtlinge in Arbeit, die gut integriert sind, hierbleiben können". Und Andreas Schwarz führt nun Paragraf 60a ins Feld, der eine Ermessensduldung zulasse, wenn ein "erhebliches öffentliches Interesse" vorliegt.

Augenmaß, vernünftige Lösungen? Fehlanzeige

Das Innenministerium ist da bislang immer anderer Meinung gewesen. Das ist bei den Hohenheimer Tagen zum Migrationsrecht der katholischen Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart Ende Januar deutlich geworden. Stefan Lehr, leitender Mitarbeiter des Innenministeriums Baden-Württemberg, betonte, dass die "Durchsetzung der Ausreispflicht im öffentlichen Interesse ist". Er befürwortet auch keinen "Spurwechsel" vom Asylverfahren in die Arbeitsmigration. Nach Angaben des Verwaltungsjuristen gibt es im Land 1640 Fälle von Ausbildungsduldung, wegen der strikten Vorgaben bei der seit 1. Januar geltenden Beschäftigungsduldung aber nur 35 Fälle. Den kritischen Unternehmern riet er, nur solche Personen einzustellen, die eine Bleibeperspektive hätten.

Markus Winter von der Unternehmerinitiative "Bleiberecht durch Arbeit" fordert von der Politik "Augenmaß" und "vernünftige Lösungen". Es gelte, alle Spielräume zu nutzen und Gesetze zu verändern. "Wir haben eine Integrationsleistung erbracht, die der Staat damals nicht erbringen konnte", so Winter. Die Geflüchteten in den Betrieb einzugliedern, sei mit erheblichem Aufwand verbunden gewesen, sagt er. Angesichts des akuten Arbeitskräftemangels hält er dies aber für alternativlos. Jetzt erwartet er vom Land, Fairness zu zeigen und nicht über Nacht Geflüchtete, die integriert sind, in Arbeitsklamotten abzuschieben. "Wir sind getäuscht worden", sagt er. Zuletzt wurde wieder ein Geflüchteter abgeschoben sechs Wochen, bevor er die Duldungsvoraussetzung erfüllt hätte.

Auch die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Eva Högl, die sich bei den Hohenheimer Tagen harte Kritik für die Zustimmung zum Migrationspaket der Bundesregierung hat gefallen lassen müssen, räumte zerknirscht ein, dass es "Reparaturbedarf" gebe.

Der frühere Vizepräsident des Verwaltungsgerichts Sigmaringen, Wolfgang Armbruster, macht mit Kollegen im Land schon lange händeringend und verzweifelt auf die Ermessensspielräume durch Paragraf 60a aufmerksam. Er betont, dass die Beschäftigungsduldung nur für Altfälle bis 1. August 2018 gilt und diese deshalb auch keinen Pull-Effekt bewirken könne, der immer mehr Migranten nach Deutschland locke. Es sei aber noch nicht klar, wie viele Fälle es überhaupt gebe, da die Gerichte bis zu acht Jahre benötigten, um im Asylverfahren zu einer Entscheidung zu kommen.

Die Beschäftigungsduldung in Auszügen

§ 60d AufenthG – Beschäftigungsduldung (tritt am 1.12.2023 wieder außer Kraft)

(1) Einem ausreisepflichtigen Ausländer und seinem Ehegatten oder seinem Lebenspartner, die bis zum 01.08.2018 in das Bundesgebiet eingereist sind, ist in der Regel eine Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 für 30 Monate zu erteilen, wenn
1. ihre Identitäten geklärt sind,
2. der ausreisepflichtige Ausländer seit mindestens 12 Monaten im Besitz einer Duldung ist,
3. der ausreisepflichtige Ausländer seit mindestens 18 Monaten eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausübt,
4. der Lebensunterhalt des ausreisepflichtigen Ausländers innerhalb der letzten 12 Monate vor Beantragung der Beschäftigungsduldung durch seine Beschäftigung gesichert war und 5. noch gesichert ist,
6. der ausreisepflichtige Ausländer über hinreichende mündliche Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt,
7. der ausreisepflichtige Ausländer und sein Ehegatte oder sein Lebenspartner nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde,
8. der ausreisepflichtige Ausländer und sein Ehegatte oder sein Lebenspartner keine Bezüge zu extremistischen oder terroristischen Organisationen haben und diese auch nicht unterstützen.

Armbruster betont, dass nach Paragraf 60a des Aufenthaltsgesetzes eine Duldung aus humanitären und politischen Gründen sowie aufgrund von erheblichem öffentlichen Interesse ausgesprochen werden kann. Mit dieser Haltung ist Armbruster unter Rechtsexperten nicht allein. Zur Sache haben sich nämlich auch die obersten Verwaltungsrichter im Land Gedanken gemacht. In einem am 14. Januar veröffentlichten Beschluss nimmt der Verwaltungsgerichtshof Bezug auf eine mögliche Duldung aufgrund des Paragrafen 60a, Absatz 2, obwohl dies gar nicht Gegenstand der Verhandlung war. Sie zeigen damit der Politik eine Alternative auf zur harten Entscheidung im Rahmen einer Beschäftigungsduldung.

Während die Erteilung der Duldung in ihrer Grundform nach Paragraf 60a im Ermessen der Ausländerbehörde steht, besteht auf die Beschäftigungsduldung gemäß Paragraf 60d grundsätzlich ein strikter Rechtsanspruch, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Aber diese strikte Regelung schränken die Richter gleich wieder ein: Dies gilt nur "in der Regel". Davon abzugrenzen sind Ausnahmefälle. Ein Ausnahmefall liegt vor, wenn Verfassungsrecht, Unionsrecht oder Völkerrecht eine Einzelfallprüfung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten. In ihrer Erläuterung deklinieren die Richter schon mögliche Abweichungen von strikten Vorgaben durch, die ihnen bereits heute möglich erscheinen.

Wolfgang Armbruster gibt zu bedenken, dass angesichts der Abschiebepraxis Geflüchtete dazu übergehen könnten, keine gültigen Papiere mehr vorzulegen. Dann können sie zwar nicht mehr abgeschoben werden, dürfen aber auch nicht arbeiten und müssen deshalb von den Landkreisen versorgt werden. Unterdessen hoffen betroffene Unternehmen weiter auf eine konstruktive Lösung, die positive Signale für die Zuwanderung der Abschottung entgegensetzt.


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