Bei Sekt und Häppchen malten Bahnchef Rüdiger Grube und Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster anschließend das neue Herz Europas, wie der futuristische Bahnhofsneubau damals noch hieß, in rosigen Farben aus. Vieles davon war tatsächlich zu schön um wahr zu sein, wie sich später herausstellte: etwa der berühmte Kostendeckel von 4,5 Milliarden Euro, den Bahnchef Grube als Sollbruchstelle definiert hatte. "Dass man sich über die Honoratioren lustig gemacht hat, hat nichts mit Hass zu tun", betont Stocker heute. Von den damals Verspotteten ist, nebenbei bemerkt, keiner mehr in Amt und Würden.
Der anschwellende Protestdruck im schwäbischen Talkessel führte nicht nur zu politischen Verwerfungen, er gebar auch einen neuen Gesellschaftstypen: den Wutbürger. Der Begriff wurde von dem "Spiegel"-Journalisten Dirk Kurbjuweit im Herbst 2010 in die mediale Debatte eingeführt. Dabei bezog sich Kurbjuweit sowohl auf die aggressiven Verhaltensweisen der Fans von Thilo Sarrazin, die dessen Kritiker beschimpften, als auch auf die Protestierenden gegen Stuttgart 21.
Wut hat auch ihr Gutes
"Diese Vermengung fand und finde ich äußerst problematisch", sagt der Berliner Protestforscher Dieter Rucht. Zwar gab es diverse Versuche, den Begriff Wutbürger in dem Sinne zu rehabilitieren, dass damit auf eine sachlich berechtigte und insofern legitime Wut – gerade mit Blick auf die Kritiker von S 21 – verwiesen wird. "Also eine Wut, die den Gebrauch des Verstandes einschließt", erklärt Rucht. Doch diese positive Deutung konnte sich im öffentlichen Diskurs kaum durchsetzen, sagt der Experte.
Zuletzt klonten Medien den Wutbürger zu einem Mädchen für alles. Allen voran wieder die "Spiegel"-Leute: Im Oktober vergangenen Jahres kürten sie Luther zum "ersten Wutbürger" in deutschen Landen. Vor der Bundestagswahl identifizierte sie ihn als "neues Subjekt" in ganz Europa: "Er hasst die meisten Parteien und misstraut den Medien, er fühlt sich betrogen, und er will keine Muslime im Land. In Frankreich wählt er den Front National, in Deutschland die AfD, in Polen ist er an der Macht."
Soziologe Rucht meint, "der Begriff Wutbürger sollte schlicht darauf bezogen werden, dass Bürgerinnen und Bürger verärgert, sauer, empört, eben wütend sind – aus welchen Gründen auch immer". Im nächsten Schritt wäre allerdings zu unterscheiden, ob sich diese Wut aus reaktionären, sprich vorurteilsbeladenen, sachfremden und ignoranten Quellen speist oder eben wohl begründet ist, also im Sinne von Kant einer kritischen Prüfung standhält. "Somit gibt es eine reaktionäre und eine aufgeklärte Variante des Wutbürgers einschließlich von Mischformen", sagt Rucht.
S-21-Demos sind friedlich
Was Gangolf Stocker dazu sagt? Man sei durchaus wütend auf Politiker und Bahnmanager gewesen, die nichts hören und sehen wollten, gesteht er rückblickend zu. Den Wutbürger habe man aber umgehend zum Mutbürger umgetauft. "Auch, weil bei unseren Protesten immer das Prinzip der Gewaltlosigkeit galt", betont er. Zwar mag es vereinzelt auch S-21-Gegner gegeben haben, die dies anfangs anders sahen, "doch das haben wir immer schnell korrigiert".
Tatsächlich gingen die mittlerweile 387 Montagsdemonstrationen gegen das Milliardenprojekt meist so friedlich über die Bühne, dass der Polizeibericht nichts außer Verkehrsbehinderungen vermeldete. Auch die zahlreiche Großdemonstrationen nach dem Schwarzen Donnerstag am 30. September 2010, auf denen bis zu 100.000 Teilnehmer schweigend durch die Stuttgarter Innenstadt marschierten, blieben ohne nennenswerte Vorkommnisse.
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Wolfgang Zaininger
am 08.10.2017