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Aus der Not geboren

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Saufen im Überfluss, das ist heute das Cannstatter Volksfest. Entstanden ist es aus einer dramatischen Hungersnot heraus. Mehr als 17 000 Wirtschaftsflüchtlinge hatten Württemberg vor 200 Jahren bereits verlassen, als der König Stopp und zum Schau-Fest rief.

Vier Millionen Menschen haben in den vergangenen Jahren jeweils das Cannstatter Volksfest besucht. Zum 172. Mal hat es nun seit dem 22. September geöffnet, und einmal mehr sind die S-Bahnen von zumeist jungen Dirndl- und LederhosenträgerInnen bevölkert, die auf dem Hinweg vorglühen und am Abend schwankend und grölend am Bahnsteig stehen. Sicher: Nicht jeder schlägt über die Stränge. Aber was das Volksfest kennzeichnet, ist das Vergnügen. Alle, ob jung oder alt, im Riesenrad, auf der Schaukel oder im Festzelt, wollen einen Moment lang die Probleme des Alltags vergessen.

Begonnen hat alles ganz anders. Vor 200 Jahren war die Not in Württemberg so groß wie nie, als König Wilhelm I. und seine Frau, die Zarentochter Katharina, die Zentralstelle des Landwirtschaftlichen Vereins ins Leben riefen, die einmal im Jahr auch ein landwirtschaftliches Fest ausrichten sollte. Seine Größe und den Aufstieg zum Königreich verdankte das Land Napoleon, in dessen Russlandfeldzug auch 15 000 Württemberger ums Leben kamen. Die mageren Ernten mussten die Armeen mitversorgen. Dann kam 1816, das "Jahr ohne Sommer". Ein Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien, der größte, der jemals registriert wurde, zog Ernteausfälle, extreme Preissteigerungen und Hungersnöte nach sich.

Die Not treibt zur Flucht

1807 hatte König Friedrich noch ein Auswanderungsverbot erlassen. Nun war die Not allzu groß. Mehr als 17 000 Wirtschaftsflüchtlinge verließen das Land. Sie mussten sich registrieren lassen, um sicherzustellen, dass sie keine unbezahlten Schulden hinterließen. Wie ihre Vorläufer, die Donauschwaben, die bereits in der Barockzeit auf den Balkan ausgewandert waren, schifften sich die meisten in Ulm auf die Donau ein. Doch ihre Fahrt ging weiter.

Ein Etappenziel war Ismajil im damaligen russischen Gouvernement Bessarabien, heute in der Ukraine an der Grenze zu Rumänien. Wer gesund blieb, zog weiter, an Küstengebiete des Schwarzen Meers bis in die Gegend um Tiflis, die heutige Hauptstadt Georgiens. Einige emigrierten auch in die USA, wo sie freilich nicht immer willkommen waren. Von Heilbronn aus ging es neckar- und rheinabwärts nach Amsterdam oder Antwerpen. Wer die Überfahrt nicht bezahlen konnte, ließ sich von amerikanischen Farmern anwerben und musste die Kosten anschließend abarbeiten. Das böse Wort von den weißen Sklaven machte die Runde.

Mitten in die Krise fiel der Regierungsantritt Wilhelms I. Eigentlich hieß er Friedrich Wilhelm Karl wie sein Vater, zu dem er ein angespanntes Verhältnis hatte. Der starb am 30. Oktober 1816 an einer Lungenentzündung. Wilhelm hatte wenige Monate zuvor, am 24. Januar, die Zarentochter Katharina geheiratet, die ihm am Todestag seines Vaters eine Tochter gebar. Die Ehe war zumindest auch ein politischer Schachzug, denn um den enormen Gebietszuwachs unter Napoleon zu halten, musste sich Württemberg mit dessen Feinden gut stellen. Wilhelm war sogar als einziger deutscher Fürst nach dem Wiener Kongress in den Krieg gegen Frankreich gezogen. Die veränderte Machtkonstellation nutzte er, um sich von seiner ersten Frau Charlotte Auguste von Bayern scheiden zu lassen.

Lebensmittelpreise explodieren

Bei seinem Regierungsantritt hatte die Krise ihren Höhepunkt erreicht. Bereits im Oktober war Schnee gefallen. Die gravierendste in einer Reihe von Missernten führte zu einer Explosion der Lebensmittelpreise. Hungersnöte waren die Folge, auch wenn Wilhelm versuchte, die Not durch Festsetzen von Höchstpreisen und durch Getreideankäufe aus anderen Ländern zu lindern. Die Reformen, die er und Katharina daraufhin einleiteten, mit Geld aus dem Zarenhaus, waren so etwas wie die Geburtsstunde des modernen Württemberg. Viele noch heute bestehende Einrichtungen entstanden in dieser Zeit.

Katharina rief die Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins ins Leben. Deren Aufgabe war, die Gründung lokaler Wohltätigkeitsvereine zu unterstützen und deren Arbeit zu koordinieren, um mithilfe privater Spenden sowie amtlicher und kirchlicher Stellen die Notleidenden mit Lebensmitteln und Kleidern zu versorgen. Um aber "für alle Zeiten dem menschlichen Elend entgegenzutreten", sollte das spätere Wohlfahrtswerk auch Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Schon Katharina sagte: "Arbeit verschaffen hilft mehr als Almosen geben."

Nach dem Muster des Wohltätigkeitsvereins gründete Wilhelm am 30. Juni 1817 die "Centralstelle des Landwirthschaftlichen Vereins", die als staatliche Behörde die Arbeit lokaler Landwirtschaftsvereine koordinieren sollte. Denn, wie es im Aufruf zur Gründung solcher Vereine am 1. August hieß: "Der wesentliche Wohlstand Württembergs beruht auf den Erzeugnissen seines Bodens und der vortheilhaftesten Verwendung derselben."

Unter dem Eindruck der Hungerkrise wollte der Monarch die Agrarwirtschaft stärken. Sieben Punkte, wie Wilhelm dies zu erreichen suchte, sind im Aufruf zur Vereinsgründung genannt. Darunter die Einrichtung einer landwirtschaftlichen Unterrichts- und Versuchsanstalt, die dann am 20. November 1818 in Hohenheim eröffnet wurde. Mit der späteren Universität eng verbunden waren ein Waisenheim mit Ackerbauschule und eine Ackergerätefabrik, als erste Landmaschinenfabrik ein Keim der Industrialisierung des Landes.

König Wilhelm kann keine Kopfhänger gebrauchen

Um die Landwirte anzuspornen, stiftete Königin Katharina eine Reihe von Preisen: 40 Dukaten gab es für die Erfindung von Maschinen zum land- oder hauswirtschaftlichen Gebrauch, 30 Dukaten für eine chemische Entdeckung, 20 Dukaten für die Einführung und Verbreitung neuer Pflanzenkulturen wie auch für Erfolge in der Obstbaumzucht. An erster Stelle aber stand die Viehzucht, der sich Wilhelm besonders verbunden fühlte. Sein Gestüt in Scharnhausen erweiterte er um Zweigstellen in Esslingen-Weil und Kleinhohenheim. Aus Araberrassen züchtete er Zug- und Reitpferde und in seinen Meiereien am Schloss Monrepos und später am Rosenstein neue Rinderrassen.

Um die Erfolge zu präsentieren, war schon im Aufruf zur Vereinsgründung ein jährliches landwirtschaftliches Fest vorgesehen, das schließlich am 28. September 1818, einen Tag nach dem Geburtstag des Königs, zum ersten Mal stattfand. Es dauerte einen Tag, begann mit der Prämierung der Viehzuchterfolge und bot Pferderennen, Viehmarkt und weitere Preisverleihungen.

Weiterhin verfügte der König: "Auch wird damit ein Volksfest in Verbindung gesetzt und dafür gesorgt werden, dass solches durch unterhaltende Abwechslungen diesem frohen Tag entspreche." Wilhelm hielt sich an den alten Slogan "Brot und Spiele für das Volk". Bei einem Fischerstechen stießen sich die Teilnehmer mit Lanzen vom Boot in den Neckar. Auch Speis und Trank gehörten von Anfang an dazu, also auch der Biergenuss. Denn, so Wilhelm: "Das Volk muss wieder Freude haben und sich an seiner eigenen Lebenslust wieder aufrichten. Kopfhänger kann ich in meinem Land nicht brauchen. Auf nach Kannstadt!"

30 000 Besucher sollen zum ersten Volksfest gekommen sein, mehr als Stuttgart und Cannstatt zusammen Einwohner hatten. Mittelpunkt war die 15 Meter hohe Fruchtsäule, gestaltet vom Hofarchitekten Nikolaus Friedrich von Thouret. Weithin sichtbar, war sie mit den Erzeugnissen des Landes dekoriert, diente als Podium für die Musikkappelle und als Start- und Zielpunkt des Pferderennens. Im Lauf der Zeit hat sie ihr Aussehen immer wieder verändert und erinnert noch heute als symbolischer Mittelpunkt an die Anfänge des Fests.

Die Reformen leben weiter

Von der Freude über den "feierlichen Einzug der ersten Erntewagen", wie er im Jahr 1817 in Heilbronn und Ravensburg in Zeichnungen und Druckgrafiken festgehalten wurde, ist heute wenig geblieben. Dafür haben die Lustbarkeiten immer mehr überhandgenommen. Dauerte das Volksfest in den 1920er Jahren noch fünf Tage, so waren es nach dem Krieg schon zehn, heute sind es 17 Tage. In der Wirtschaftswunderzeit sind die Ursprünge des Fests zunehmend in den Hintergrund getreten. Eine Notsituation zeigt sich heute allenfalls darin, dass sich die saftigen Preise nicht mehr jeder leisten kann.

Die Reformen jedoch, die Wilhelm und Katharina anstießen, wirken weiterhin. Auf Katharina gehen das Königin-Katharina-Stift als erste höhere Mädchenschule des Landes, das Katharinenhospital und die Württembergische Sparkasse zurück, aus der 1975 durch Fusion mit der Städtischen Spar- und Girokasse die Landesgirokasse und 1999 die LBBW wurde. Als sie 1819, knapp drei Jahre nach ihrer Hochzeit mit Wilhelm, an einer Erkältung starb, angeblich weil sie leicht bekleidet ihrem Mann hinterhergefahren war, der nicht von seinen amourösen Seitensprüngen lassen konnte, ließ der den Stammsitz des Landes auf dem Rotenberg schleifen und errichtete dort ihr zu Ehren – und um seine Verbundenheit mit dem Zarenhaus zu bekräftigen, dem er so viel verdankte – die Grabkapelle.

Während der 1848er-Revolution wandelte sich König Wilhelm vom fortschrittlichen Reformer zum Konservativen. Zur selben Zeit gründete aber Ferdinand von Steinbeis, nach dem Vorbild des landwirtschaftlichen Vereins, die Zentralstelle für Gewerbe und Handel. Diese präsentierte die Erzeugnisse der württembergischen Industrie anfangs im Rahmen des Volksfests im Cannstatter Kursaal, später dann im Landesgewerbemuseum, dem heutigen Haus der Wirtschaft. In der einen oder anderen Form leben sämtliche von Wilhelm und Katharina ins Leben gerufenen Einrichtungen fort. Nur von der einstigen Schönheit des Neckartals, wo der König Schloss Rosenstein und die Wilhelma erbauen ließ, bleibt immer weniger übrig.


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1 Kommentar verfügbar

  • Schwa be
    am 03.10.2017
    Antworten
    Die neoliberale Zivilisation ist das Krebsgeschwür einer anständigen (menschenwürdigen) kulturellen Entwicklung hin zu lebenswerten Gesellschaften - so meine These.
    Daran ändert sich m.E. auch nichts wenn dies insbesondere viele verkleidete und hemmungslos saufende VolksfestbesucherInnen anders…
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