Gemeinsam mit Rafael Streib sammelt die Historikerin Material zum Pariser Börsencrash von 1720. Die beiden Doktoranden wollen im Vergleich mit dem nahezu zeitgleichen Zusammenbruch des Aktienhandels in London herausfinden, wie Euphorien entfacht werden, wie die Einschätzung von Risiken ab- und die Bedeutung der Gier zunimmt. "Mit einem zeitlichen Abstand von wenigen Monaten kam es in beiden Ländern zu rasanten Kurseinbrüchen", erläutert Keßler, "nachdem Aktienwerte von Handelsgesellschaften bis aufs Dreißigfache gestiegen sind." Bisher bestehe in der Fachwelt keine Einigkeit über die auslösenden Faktoren.
Die beiden Wissenschaftler legen ihr Augenmerk zudem auf die bisher kaum beachteten Kleinanleger und ihr (zu) großes Vertrauen in die herrschende Klasse. Streib, der auch Erziehungswissenschaften und evangelische Theologie studiert hat, beschäftigt sich mit Gedankenspielen, wonach der Crash sieben Jahrzehnte später die Französische Revolution mitverursacht haben könnte. Jedenfalls hat Frankreich das Papiergeld damals wieder abgeschafft, weil die Skepsis im Land so groß war.
Gerade in elementaren Situationen kann Gelassenheit wachsen
Erforscht wird, wie absolutistische Systeme, Diktaturen oder Demokratien mit schweren Erschütterungen umgehen, ob es da wie dort Verdrängungsmechanismen gibt und wie sich Entwicklungen in bestimmten Zyklen wiederholen. "Wir lernen, dass Menschen unter bestimmten Rahmenbedingungen nichts aus der Geschichte lernen", so Keßler. Etwa, wenn die Hoffnung auf eine schlagartige Verbesserung der ökonomischen Situation wächst, die allerdings nicht für sich allein steht, sondern auch Aussicht auf Statusgewinn eröffnet. Der Althistoriker Jonas Borsch hat in vier Jahren Beschäftigung mit der literarischen Rezeption von Erdbeben in der Antike herausgefunden, wie gerade in elementaren Situationen die Gelassenheit wachsen kann. Ein Beispiel sind Einwohner von Pompeji, die Flucht für zwecklos hielten und stattdessen "sich wappnen und mit dem Unglück umgehen wollten".
Das alles sind Puzzlesteine, aus denen sich Kriterien zur Analyse des gegenwärtigen Megathemas Zuwanderung ergeben. So meinen die Forscher und Forscherinnen belegen zu können, dass unterschiedliche Gesellschaften sich zu unterschiedlichen Zeiten vergleichbar verhalten, wenn eine Bedrohungsmaschinerie angeworfen wird. Die Vielfalt der Themen ermöglicht nach Meinung der Teams die Entwicklung von belastbaren Standards und Kriterien, an denen sich die Probleme und ihr Ausmaß ablesen lassen – in der Antike wie bei Börsenkrächen, in Entwicklungsländern oder bei der bundesrepublikanischen Asyldebatte vor 25 Jahren. "Wir können zeigen", sagt Frie, "wie fragil die Grundlage einerseits ist, auf der wir in unserem Gesellschaftssystem stehen." Andererseits könne die Belastbarkeit der Gesellschaft an bestimmten Merkmalen festgemacht werden: an der Bedrohungsrhetorik und an den Lebensumständen im Alltag. "Wenn Menschen beginnen, aus Angst nicht mit der U-Bahn zu fahren oder selbstverständliche Handlungen zu problematisieren", weiß der Professor, "beginnt eine Ordnung ihre Stabilität zu verlieren."
Solche Entwicklungen könne er aber "in Deutschland überhaupt nicht sehen". Und Frie warnt davor, höhere Sensibilität, gerade in der Migrations- und Integrationsthematik, vorschnell als negatives Zeichen zu bewerten. Das sei auch "ein Luxus im Vergleich zu anderen Zeiten und anderen Gesellschaften". Was sich am Beispiel Krieg eindrucksvoll illustrieren lässt: Deutschland im 21. Jahrhundert reagiert feinfühlig auf Soldaten, die tot aus Afghanistan zurückkommen. Wenn tagtäglich Väter, Brüder und Söhne auf dem Schlachtfeld sterben, sinkt die Schwelle der kollektiven Empfindsamkeit, weil eine Gemeinschaft hinter den Frontlinien sonst kaum überlebensfähig bliebe.
7 Kommentare verfügbar
invinoveritas
am 27.03.2016von österlichem geiste erfüllt, möchte ich doch dringend von zwei untugenden abraten: 1. ablenkenwollen durch themenwechsel, 2. eigene missgriffe bei anderen abladen, nämlich einer ungenannten "miesen quelle".