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Von wegen prima Klima

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Immer neue Rekordtemperaturen, tropische Hitzenächte, starke Regenfälle, extreme Trockenheit – das ist erst der Anfang einer Entwicklung, die unausweichlich ist. Nun hat die Landesregierung den Entwurf einer neuen Anpassungsstrategie an den Klimawandel vorgelegt. Wirtschaft und Kommunen entwickeln Ideen von Fernkälte bis klimaschonend Klimatisieren. Und keiner weiß: Wer soll das bezahlen?

Am Sonntag wurde in Wertheim mit 40,2 Grad Celsius das deutsche Temperatur-Allzeithoch eingestellt. In Stuttgart hielten sich die Thermometer über Stunden knapp unter 39 Grad. Bisher stammen Meldungen über anhaltende Hitzeperioden samt den dazugehörigen Horrorszenarien aus Südspanien, wo Ärzte den verzweifelten Eltern schreiender Babys empfehlen, einfach die Kühlschranktür zu öffnen und die Kinder in der ausströmenden Kühle spielen zu lassen mangels Alternativen und durchaus im Wissen, wie negativ sich solche Ratschläge auf die Klimabilanz auswirken. Oder aus Italien, wo Gemeinden, Hotels und Privatleute Schwimmbäder wegen Wasserknappheit im Frühjahr gar nicht mehr öffnen. Oder von Mittelmeerstränden, an denen neben der Algenplage der Sand so heiß und das Wasser so unangenehm warm ist, dass Urlauber nur frühmorgens aus ihren abgedunkelten Zimmern kommen.

Die ersten Julitage dieses Jahres holen die Anpassungsstrategie, die Grün-Rot für die Zeit bis 2100 auf Basis jahrelanger wissenschaftlicher Messungen vorgelegt hat, aus der Sphäre der mehr oder weniger belastbaren Prognosen in die harte Realität. Mit sehr konkreten und zum Teil als "dringlich" eingestuften Maßnahmenlisten wird allgemeinverständlich vor Augen geführt, was auf den Südwesten zukommt. Stichwort Touristen: Die brauchen künftig "an relevanten Aufenthaltsbereichen wie öffentlichen Plätzen, Wartebereichen in Erlebnisparks, aber auch auf Rad- und Wanderwegen, Stränden oder Spielplätzen Schutz vor starker Sonneneinstrahlung und starkem Regen". Nicht nur ältere Menschen müssen in Städten und Gemeinden auf klimatisierte Innenräume hoffen, "um sich dort vom Hitzestress erholen und erfrischen zu können" Südeuropäer flüchten zu diesem Zwecke gern in alte, dunkle Kirchen. Schweinezüchter werden ohne gekühlte Ställe so wenig auskommen wie Gemüsebauer ohne Verschattung und Bewässerung ihrer Felder. Und: "Extreme Niedrigwasserereignisse treten großräumig auf und sind kurzfristig nicht zu vermeiden, womit bedeutende ökologische und volkswirtschaftliche Schäden einhergehen können."

Im weltweiten Durchschnitt ist die Temperatur zwischen 1905 und 2005 um 0,7 Grad Celsius gestiegen. In Baden-Württemberg sind es drei Zehntel mehr. Vor allem seit den 1970er-Jahren beschleunigt sich die Dynamik. In Stuttgart sank die Zahl der Wintertage mit einer Höchsttemperatur bis null Grad von 25 auf 15, während die der Sommertage mit mindestens 25 Grad von 25 auf 45 anstieg. 2014 war das wärmste Jahr seit 1888, dem Beginn der meteorologischen Aufzeichnungen. Derzeit sind durchschnittlich vier Tropentage (Tagesmaximum 30 Grad oder mehr) die Regel; 2050 ist landesweit mit bis zu neun, Ende des Jahrhunderts sogar mit bis zu 21(!) zusätzlichen zu rechnen. In der Rheinebene wird anno 2100 fast ein Drittel des Jahres das sein, was landläufig Sommer heißt.

"Grundsätzlich können Klimamodelle keine Prognose für die Zukunft abgeben, wie es die Wettervorhersage für die nächsten Tage tut. Denn dazu sind die Einflussfaktoren zu vielfältig und die Zeiträume zu groß", schreiben die Autoren der 150 Seiten, die von der Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg (LUBW) fachlich begleitet werden. Klimamodelle könnten aber mit Projektionen "plausible Entwicklungen aufzeigen, die unter bestimmten Annahmen eintreten können". Mit positiven genauso wie mit negativen Ausschlägen. Nur wenn die Industrieländer, die Hauptemittenten von Treibhausgasen, endlich ihren eigenen guten Vorsätzen gerecht werden, kommt es zumindest nicht noch schlimmer als heute schon absehbar. Da beängstigt, dass die USA, Kanada oder Australien alle Einsparungsziele bislang weit verfehlen und dass sich andere, wie Russland oder Japan, von ihren Reduktionsplänen wieder verabschiedet haben.

Alles andere als klimafit!

Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, wie schwer es dem Wintertourismus künftig im Schwarzwald fallen wird, konkurrenzfähig zu bleiben trotz Schneekanonen, denn die benötigen Minusgrade werden fehlen. Aber auch viele andere Bereiche drohen in Schräglage zu geraten oder stehen vor großen Herausforderungen. Nach einer Umfrage des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands ist "nur ein kleiner Teil" der Betriebe klimafit. Die Anpassungsstrategie empfiehlt "klimaschonende Klimatisierung".

Schon im nächsten Jahrzehnt wird in Süddeutschland der Energiebedarf zum Kühlen größer sein als jener zum Wärmen! In vielen europäischen Städten ist Fernkälte, zumindest im Versuch oder kleinräumig, bereits im kommunalen Angebot. In Wien verfügt der neue Hauptbahnhof über eine Kältezentrale; entsprechende Anlagen arbeiten in Krankenhäusern oder Einkaufszentren ober beliefern Hotels und Büros. Zur Erzeugung von Kälte wird sogar Müllverbrennung eingesetzt. Noch finanziert solche Innovationen vor allem die öffentliche Hand.

Wie belastbar die Grundlagen des vom Umweltministerium verantworteten Papiers sind, belegt der Umfang der Daten; zahlreiche Studien und Klimamodelle liegen vor. Die LUBW forscht seit Jahrzehnten, hat für die Strategie konkret 24 regionale Projektionen ausgewertet: "Alle Kennzahlen der Temperatur weisen eine Wärmezunahme in der Zukunft auf." Außerdem finden Workshops mit Betroffenen statt, allen voran Wirtschaftsvertretern.

Und dort kommen Details zur Sprache, die die Tragweite der Veränderungen drastisch vor Augen führen: Die heimische Wirtschaft muss sich auf Dachschäden durch Hagel einstellen, aufs Überlaufen der Abwasserkanäle oder den hitzebedingten Ausfall von Maschinen, auf Produktionseinschränkungen wegen niedrigen Grundwasserspiegels, auf Schimmelbefall gelagerter Produkte und Produktivitätsschwankungen durch Hitzeperioden, auf Infrastrukturschäden, die eine Fahrt zum Arbeitsplatz unmöglich machen, auf scharfe Auflagen, zusätzliche Investitionen, höhere Versicherungsprämien und Absatzschwierigkeiten, weil das Produktangebot nicht ausreichend klimaangepasst ist.

Praktisch alle Wirkungsbereiche seien betroffen, schreiben die Autoren. In Bezug auf die Zulieferketten hätten nahezu alle Branchen im Südwesten bereits Lieferausfälle erlebt, "wenn aufgrund blockierter Transportwege im Zuge von Extremwetterereignissen die Produktionsstätten nicht erreicht werden konnten". Oder sie hätten mit Schäden an gelagerten Gütern zu kämpfen, "weil diese temperatur- und feuchtigkeitsempfindlich sind und/oder im Außenbereich gelagert werden".

Bergfrische ohne Fichte

Ähnlich konkret sind die Auswirkungen auf eines der ganz großen Wahrzeichen Baden-Württembergs: Der Schwarzwald wird seinen Charakter grundlegend verändern. Insgesamt zählt der Südwesten mit einem Anteil von 38 Prozent der Fläche zu den waldreichsten Ländern der Republik. 58 Prozent davon sind Nadelwald; die Fichte ist stark vertreten, also jene Baumart, die "bis zum Zeitraum 2020 bis 2029 noch gut in submontanen und montanen Lagen wächst". In fernerer Zukunft ab 2050 "droht ein Schrumpfen der Anbaugebiete in großem Umfang, und der Anbau wird sich dann auf die Hochlagen des Schwarzwaldes, der Schwäbischen Alb und des südöstlichen Oberschwabens beschränken". Aber selbst dort könne es auf trockenen Standorten zu verminderten Zuwächsen kommen, sodass der Fichtenanbau als zunehmend riskant eingestuft wird.

Gerade das Kapitel "Wald und Forstwirtschaft" verdeutlicht, wie sehr Zukunft längst Gegenwart ist. Von neun konkreten Anpassungsmaßnahmen zur Erhaltung der Wälder als Lebens- und Erholungsraum aber auch für ihre Besitzer, immerhin 36 Prozent sind in privater Hand werden acht als kurzfristig notwendig und dringlich eingestuft. Ohnehin sind die Szenarien im zweiten zeitlichen Abschnitt der Betrachtung von 2071 bis 2100 deutlich näher als gefühlt. Heute Neugeborene sind dann in den Fünfzigern.

Der zuständige Umweltminister Franz Untersteller und LUBW-Präsidenten Margareta Barth wollen aber nicht nur mit Zahlen, Daten und Fakten informieren, sondern sie wollen die Bevölkerung sensibilisieren und rufen dazu auf, die "Signale der Natur" wahrzunehmen: Apfelbäume blühen früher was sie anfälliger für Spätfröste macht. Zugvögel kehren immer zeitiger aus den Überwinterungsgebieten zurück. Wärmeliebende Insektenarten sind aus dem Mittelmeerraum nach Baden-Württemberg gewandert Libellen, Schmetterlinge, Käfer oder bestimmte Bienensorten , während andere Arten vom Aussterben bedroht sind.

Strategie trifft Strategie: Im Rahmen ihrer Naturschutzstrategie hat sich die grün-rote Landesregierung verpflichtet, bis 2020 "den Gefährdungszustand der Arten spürbar zu senken". Etwa durch die Erhaltung oder Wiedervernässung von Mooren und durch die Renaturierung von Bächen und Flüssen.

In Zeiten der Schuldenbremse schwebt über allem das Thema Geld und die fehlenden Spielräume. Wer hat dafür zu zahlen, dass tatsächlich rechtzeitig ausreichend viele Anpassungsmaßnahmen getroffen werden und das Land, wie sich Untersteller wünscht, "weniger verwundbar" wird? Die Autoren des Entwurfs drücken sich mit Formulierungen wie "Dabei müssen auch ökonomische Fragen zu Investitionen und Finanzierungskosten und deren Verteilung diskutiert werden" um konkrete Aussagen. Und selbst das Memorandum of Unterstanding, mit dem Baden-Württemberg und Kalifornien zunächst mindestens 50 Länder, Regionen oder Provinzen zu mehr Engagement gegen den Treibhausgasausstoß animieren und dann den Weltklimagipfel im Spätherbst in Paris in Schwung bringen möchten, wird reichlich unkonkret, sobald es ums Geld geht: "Die Parteien vereinbaren, wirksame inländische und internationale Finanzierungsmechanismen gemeinsam zu nutzen und zu fördern." Allerdings nur "soweit dies möglich ist".

Dabei ist die Herausforderung schon groß genug, um die in der Anpassungsstrategie beschriebenen Entwicklungen nicht mit noch schwerer wiegenden Veränderungen zu toppen. 10,8 Millionen Baden-WürttembergerInnen emittieren aktuell 76 Millionen Tonnen an Treibhausgasen. Gut zwei Drittel müssen bis 2050 eingespart werden, mit Konsequenzen für den Lebensstil jedes Einzelnen. Und wenn die Erde sich doch über die als Deckel angepeilten zwei Grad hinaus erwärmt? Dann ist in der Rheinebene irgendwann das ganze Jahr Sommer. Und selbst die bescheidensten Hoffnungen blieben unerfüllt: "Das angenehme Klima in den Mittelgebirgen im Südwesten" steigere nicht nur für Reisende ihre Attraktivität in Hitzeperioden. Sie könnten deshalb "als Orte der Bergfrische profitieren".


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2 Kommentare verfügbar

  • Ulrich Frank
    am 12.07.2015
    Antworten
    Richtig stellt der Artikel fest daß bei den Veranwortlichen, d.h. auch denjenigen die etwas tun oder veranlassen oder gesetzgeberisch regeln können, das Herausreden vorherrscht. Oder höchstens die Veranlassung von aufwendigen Messungen mit moderner teurer Technik - die dann minutiös dokumentiert wie…
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