Doch nirgendwo begegnen wir dem heimeligen Arrangement aus vertrauten Gerätschaften der jahreszeitlich bedingten Arbeit an der Natur. Heuwender, Leitern, Eggen, Viehtrieb, Pflugschar – mit dem Verschwinden der Gegenstände sind auch die Wörter fast schon vergessen. Stattdessen reißen Straßenbauten, Autobahnzubringer die weichhügelige Wiesenlandschaft auf, Fahrzeuge bleiben hinter uniformen Garagentoren versteckt, auf Brachland erheben sich gewaltige Silobauten, Lagerhallen verströmen das gesichtslose Flair von Industrieansiedelungen, überall aufgeräumte Zweckmäßigkeit. Ein nüchterner Blick entdeckt eine schleichende Metamorphose, die unser gewohntes Bild von dörflicher Welt zersetzt.
Die Vorboten der Modernisierung sickern in das Gewachsene
Heimat, so erfahren wir von Ernst Bloch, ist etwas, "das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war". Ein Ort also, auf den wir noch hoffen. Wer in der Mitte des vorigen Jahrhunderts in Oberschwaben aufgewachsen ist, fühlte sich dort längst angekommen. Kaum eine Landschaft des deutschen Südwestens hat sich so lange bis fast in die Gegenwart eine ähnliche Balance zwischen Natur, Arbeit und Kultur bewahrt, wie der ländliche Raum zwischen Donau, Allgäu und Bodensee. Nun sickern auch hier, wo "Heimat das schönste Wort für Zurückgebliebenheit" schien (Martin Walser) in das organisch Gewachsene zunehmend die Vorboten der Modernisierung.
Entfernte Ähnlichkeit mit dem so lange gepflegten Inbild verspricht das Foto von Claudio Hils: ein Apfelbäumchen vor weit gedehnter Landschaft aus Löwenzahnwiese und blühendem Rapsfeld, fernem Waldsaum, über dem sich ein klarer Himmel spannt. Ein scheinbar tröstlicher Naturanblick, Arkadien in Oberschwaben, wäre da nicht die hölzerne Krücke, mit der dieses Apfelbäumchen gestützt werden muss. Wir spüren: Nichts ist heil geblieben, überall breitet sich der Schatten der Versehrtheit aus. Ein Bild, das die blühende Landschaft ins Unwirkliche verklärt. Es erinnert an eine gemalte Idylle und führt uns gleichzeitig vor: Das ist nur Abbild einer inneren, aufbewahrten Ikone, in der uns jener Ort der Kindheit, das Inbild von Heimat, noch einmal aufscheinen mag, bevor es verschwindet.
In der Abwesenheit der Idylle, der neusten Gegenwart unserer Landschaft, herrscht die synchrone Zeit. Der Anblick lässt frösteln: Neben halb zerfallenen Scheunen und Bauernhöfen ragen nüchterne Zweckbauten, die sich um ländliche Charakteristik nicht scheren. Umrahmt von frühlingshaftem Blütenzauber liegen zerfledderte Plastikplanen wie erstarrte Meeresbrandung in der Wiese, während die weißen Silagewalzen als rätselhafte Kokons auf ihre Enthüllung warten.
Das Heraufdämmern dieser neuesten Sachlichkeit verdankt sich der Schubkraft der Ökonomie. Abriss, Planierung und Begradigung sind die Vorboten der Transformation einer Lebenswelt, die sich auf all das nicht mehr berufen kann, was ihre bisherige Bestandsgarantie schien: Originalität, Sturheit und Eigensinn. Uniforme Hallen zerschneiden die gewachsenen Formen mit kalter Geometrie, vor dem weiten Wiesenhorizont mit Stromleitungen markieren rote Hinweisschilder die unterirdisch verlaufende Gasleitung wie Signale für die neue Zeit. Golfplätze, begradigte Flussläufe und betongepflasterte Wege und Plätze verbreiten den zweifelhaften Charme eines anonymen Vorstadtfreizeitgeländes. Was nicht mehr bewohnbar ist, wird mit Plastikplanen und Brettern vernagelt.
Die Landwirtschaft ist im Abwicklungszustand
Wo die Transformation noch nicht angekommen ist, nagt derweil der Zerfall. Viele noch bewirtschaftete Stallgebäude haben jedes Flair verloren. Bei Umbauten und Anpassungen gibt man sich erst gar keine Mühe mehr. Der nüchterne Zweck legitimiert die Mittel. Tröge, Wannen und Kleingerät wirken wie Flickwerk einer Gelegenheitslandwirtschaft, die sich nur noch mit dem Nötigsten behilft. Überall spürt man die Flüchtigkeit, mit der vielerorts Nebenerwerb betrieben wird. Landwirtschaft im Abwicklungszustand. Wie ein Fossil aus fernen Tagen steht irgendwo ein fahruntüchtiger Traktor vor verschlossenen Scheunentüren, Wind und Wetter ausgesetzt als trotzige Abschiedsskulptur einer versunkenen Betriebsamkeit, in der sich tägliche Mühen um Hof und Vieh noch gelohnt haben.
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Insider
am 30.03.2015schwaebische.de/region_artikel,-Kritisches-Heimatgefuehl-_arid,10204237_toid,581.html