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Ahnungslos in die Katastrophe

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Stell dir vor, es ist Stromausfall – und keiner rechnet damit. Ein Horrorszenario! Denn ohne den Lebenssaft moderner Industrie- und Informationsgesellschaften geht in kürzester Zeit so gut wie nichts mehr. Dies zu verhindern ist Aufgabe der Behörden. Doch die scheinen kaum auf längere Blackouts vorbereitet.

Eine Viertelstunde saß Günther Jauch am vergangenen Sonntag mit seinen Gästen im Berliner Studio im Dunkeln. Das Erste überspielte den Blackout während der Live-Übertragung mit einer Wiederholung. Was jedoch, wenn der Strom länger wegbleibt? Dann ist ein ernst zu nehmender Katastrophenfall eingetreten, auf den alle Behörden, vom Bund über Länder bis hin zur Ortsverwaltung, vorbereitet sein sollten.

Mit dieser Botschaft "tingeln" derzeit etwa Experten der baden-württembergischen Regierungspräsidien (RP) durch den Südwesten der Republik. Mit Infoveranstaltungen wollen die Präsidien als oberste Katastrophenschutzbehörde auf Landesebene möglichst viele Bürgermeister und Feuerwehrkommandanten für das Thema sensibilisieren.

Mit dabei haben die Vortragsreisenden den neuen "Musternotfallplan Stromausfall". Auf zwei Dutzend Seiten gibt das Werk praktische Handlungsempfehlungen, wie sich Ämter und Hilfsdienste für den Ernstfall wappnen können. Bislang erschöpfte sich die amtliche Literatur zum Thema auf das "Krisenhandbuch Stromausfall Baden-Württemberg", das im Jahr 2010 erschien. Es gilt als typisch bürokratischer Wälzer, der weit hinten in behördlichen Bücherschränken sein Dasein fristet.

Kaum eine Behörde ist auf größere Blackouts vorbereitet

Auf größere Blackouts scheint kaum ein Rathaus oder eine Rettungsleitstelle vorbereitet zu sein. Darauf deuten Aussagen während einer Veranstaltung hin, zu der das Stuttgarter Regierungspräsidium Ende vergangenen Jahres nach Fellbach geladen hatte. "Wer hat denn einen flächendeckenden Stromausausfall wirklich auf dem Schirm?", stellte Christian Schneider, der stellvertretende Regierungspräsident, den 150 Teilnehmern aus Verwaltungen und Hilfsdiensten eine eher rhetorische Frage. Die Antworten waren eindeutig. "Ich habe mich noch nicht damit auseinandergesetzt", gab etwa Bernd Friedrich, Vize-Landrat im Rems-Murr-Kreis, zu Protokoll. Auch auf den unteren Ebenen herrscht Unwissenheit. Eine Rathausmitarbeiterin aus dem Landkreis Heilbronn verriet gegenüber Kontext die jüngste Vorsorgemaßnahme: "Nach Jahrzehnten haben wir gerade die Telefonnummer im örtlichen Krisenhandbuch aktualisiert." Ob die Telefone im Stromkrisenfall überhaupt funktionieren, wurde noch nie hinterfragt. 

"Es gibt ein recht großes Desinteresse", stellte RP-Vize Schneider fest. Während die Behörden auf Hochwasser und Stürme durchweg gut vorbereitet sind, spielten Stromausfälle im kommunalen Krisenmanagement bislang kaum eine Rolle. Obwohl Blackouts fast täglich auftreten, zumindest in kleinflächigem Maßstab und von kurzer Dauer. Europaweit gesehen bleibt Elektrizität häufiger auch über Stunden, Tage oder gar Wochen weg. Da die nationalen Stromnetze inzwischen verbunden sind, kann ein Ausfall im Ausland auch die hiesige Versorgung bedrohen.

Europaweite Hitzewelle gefährdet Stromversorgung

"Wir haben immer wieder Probleme mit unseren Netzen", bestätigt Joachim Bauer vom Netzbetreiber Netze BW. So gefährdete im Sommer 2003 die europaweite Hitzewelle die hiesige Energieversorgung. Während Klimaanlagen und Kühlschränke auf Hochtouren liefen und den Stromverbrauch in die Höhe trieben, mussten Atommeiler und Kohlekraftwerke wegen Niedrigwasser gedrosselt werden. Damals standen Stromausfälle durch geplante Abschaltungen, zu denen die Netzbetreiber bei gestörter Stromversorgung verpflichtet sind, kurz bevor.

Extremwetterlagen sind auch in der kalten Jahreszeit Auslöser großflächiger Stromausfälle. Im vergangenen Winter legten Schnee und Kälte die Elektrizitätsversorgung Sloweniens lahm. Knapp eine Million Menschen blieben zeitweilig ohne Strom, nachdem Mitte Januar 2007 Orkan Kyrill über Mitteleuropa gefegt war. Unter extremen Schneemassen knickten im Winter 2005 im Münsterland Hochspannungsmasten wie Streichhölzer um. Tausende saßen tagelang im Dunkeln. An Weihnachten 1999 sorgte der Jahrhundertsturm Lothar für ein Stromchaos. Vor allem in Baden-Württemberg und Frankreich fiel der Strom wegen umgeknickter Strommasten und abgerissener Leitungen aus. Die Schäden im Nachbarland waren teilweise erst Wochen später behoben, Hunderttausende Franzosen saßen wegen ausgefallener Elektroheizungen in kalten Wohnungen fest.

"Ein Stromausfall ist eine unterschätzte Gefahr. Auch weil jeder Lebensbereich früher oder später betroffen ist", warnt RP-Vize Schneider vor Kaskadeneffekten, die nur schwer, wenn überhaupt beherrschbar sind. Im Ernstfall würden sich die Ereignisse innerhalb weniger Stunden dramatisch aufschaukeln. Am Anfang stünden Verkehrschaos durch ausgefallene Ampeln und liegen gebliebene Straßenbahnen, der Ausfall der Wasserversorgung, stecken gebliebene Aufzüge mit eingeschlossenen Personen und, in der kalten Jahreszeit, auskühlende Wohnungen, Büros und Gebäude. Nach sechs Stunden, so das amtliche Katastrophenszenario, fordert ein großflächiger Stromausfall bereits die ersten Todesopfer: In Pflegeheimen ohne Notstromaggregate ersticken die ersten Beatmungspatienten qualvoll.

Nach acht Stunden Blackout spitzt sich die Situation dramatisch zu

"Nach sechs Stunden ist der Staat so stark gefordert, dass keine Zeit für Adhoc-Planungen vorhanden ist", heißt es warnend im Musternotfallplan. Mit anderen Worten: Nach kurzer Zeit haben die Behörden ohne vorher festgelegte und eingeübte Maßnahmen die Lage nicht mehr unter Kontrolle. Wobei die Katastrophe noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht hat. Sie spitzt sich weiter dramatisch zu: Nach acht Stunden fallen wegen Treibstoffmangels die ersten Notstromaggregate in Krankenhäusern aus. Auf den Straßen bleiben immer mehr Fahrzeuge mit leeren Tanks liegen, da die Tankstellenpumpen seit Beginn des Blackouts nicht mehr arbeiten. Rettungsdienste und Polizei stecken in Megastaus in Städten und auf Autobahnen fest. Die Reparaturtrupps der Energieversorger bekommen weitere Probleme: Erste Trafo- und Umspannstationen geben ihren Geist auf, was die Wiederherstellung der Stromversorgung zusätzlich erschwert.

Nach 24 Stunden steigt die Zahl der Todesfälle rapide, weil immer mehr Krankenhäuser über keinen Notstrom für lebensnotwendige Geräte verfügen. Da auch die Entwässerung nicht mehr funktioniert, drohen schnell Seuchen auszubrechen. Sauberes Trinkwasser ist mittlerweile Mangelware. Auch auf dem Land geht so gut wie nichts mehr: Landwirte können wegen des Ausfalls maschineller Fütterungs- und Melkanlagen ihren Tierbestand nicht mehr versorgen. 

36 Stunden nach Blackout-Beginn führt allgemeiner Treibstoffmangel zum flächendeckenden Ausfall verbliebener Notstromaggregate. Die Kommunikation bricht weitgehend zusammen, weil selbst Funkstationen nicht mehr betriebsbereit sind. In Kühlhäusern und Supermärkten ist Tiefkühlware unbrauchbar geworden, was die Lebensmittelversorgung nachhaltig stört.

"Die Behörden stehen vor der Situation: Wie helfen wir uns selber, um anderen helfen zu können", warnt RP-Vize Schneider. Dazu gelte es die richtige Vorsorge zu treffen. Unter anderem durch entsprechendes Bewusstsein. Etwa darüber, welche Arbeitsbereiche und Einrichtungen im Notfall weiter funktionieren müssen. "Eine Behörde muss ihren eigenen Handlungsbedarf erkennen", so Schneider. Dies gelte auch für Unternehmen und für die Bevölkerung. "Niemand sollte sich leichtfertig auf die Hilfe Dritter verlassen", unterstreicht Schneider.

Erwartungshaltung der Bevölkerung an staatliche Stellen steigt stetig

Doch genau das passiert in Notsituationen. Laut Experten steigt die Erwartungshaltung in der Bevölkerung an staatliche Stellen und Rettungsdienste stetig. "Auch in der Krise wird erwartet, dass alles wie immer funktioniert", berichtet Thomas Egelhaaf, Leiter der Landesfeuerwehrschule in Bruchsal. Zugleich nehme die Vorsorgebereitschaft ab. Kaum ein Privathaushalt habe heute noch ausreichend Lebensmittel, Getränke oder benötigte Medikamente im Haus verfügbar, um längere Zeit ohne öffentliche Versorgung, ohne geöffnete Läden und Tankstellen, überleben zu können. "Die Notwendigkeit, Hilfe von externer Seite zu bekommen, nimmt dadurch zu", so Egelhaaf. Er und andere Experten raten dringend dazu, in jedem Haushalt Notvorräte für mindestens zwei Wochen anzulegen.

Auch aus einem anderen Grund fällt es Rettungsdiensten und Behörden zunehmend schwer, schnelle Hilfe im Katastrophenfall zu leisten. "Dabei spielen auch Rechtsfolgen eine Rolle", so Egelhaaf. Immer häufiger müssten nach Krisen- und Katastropheneinsätzen Gerichte klären, ob die notwendigen Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt getroffen wurden. Oder ob es beim Krisenmanagement zu Fehlern kam, die zusätzliche Schäden verursachten. "Entscheidungen werden deshalb immer zurückhaltender gefällt", schildert Egelhaaf die Verunsicherung. Mitunter schieben Führungsstäbe die Verantwortung auf untere Verwaltungsebenen ab. Dort ist man nach Egelhaafs Erfahrung höchst unterschiedlich auf Krisen- und Katastrophenmanagement vorbereitet. "Es gibt Landkreise, die monatlich den Ernstfall üben", sagt der Experte. In anderen Landratsämtern fehle es jedoch bereits am notwendigen Verwaltungsstab, um Krisen effizient zu managen.

Dabei rechnet sich eine adäquate Notfallvorsorge in jedem Fall: Nach einer aktuellen Studie summiert sich der volkswirtschaftliche Schaden in Deutschland durch eine Stunde Stromausfall auf mindestens 430 Millionen Euro. Im Extremfall, befeuert auch durch mangelhaftes Krisenmanagement, können sechzig Minuten Blackout bis zu 750 Millionen Euro kosten. Solche Zahlen müssten Talkmaster Günther Jauch eigentlich elektrisieren.


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18 Kommentare verfügbar

  • Florian S.
    am 27.02.2015
    Antworten
    Zugegeben, der Artikel ist ja nun schon etwas älter, aber ich habe ihn und die Kommentare jetzt erst gelesen und da wirft sich mir doch noch die ein oder andere Frage auf, gerade zum Thema "dezentrale Energieversorgung".

    Natürlich wäre es der Optimalfall, wenn jedes Gebäude in der Lage wäre,…
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