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Zündkerzen zu Zündköpfen

Zündkerzen zu Zündköpfen
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Als belesener Konservativer kennt Winfried Kretschmann vermutlich einen zentralen Satz aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman "Der Leopard", sozusagen des eherne Credo des Konservatismus: "Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss alles sich ändern." Jedenfalls veranschaulichen die medial dokumentierten Früchte seines jüngsten Räsonierens sehr hübsch, wie dieser Satz zu verstehen ist. Der grüne Ministerpräsident Kretschmann sieht den Ausbau der Rüstungsindustrie, für den laut schwarz-rotem Sondierungspapier bald quasi unbegrenzte Mittel zur Verfügung stehen sollen, als Chance für die Wirtschaft und die Jobs in Baden-Württemberg. Das bekannte er vergangene Woche in einem Interview mit dem "Südkurier". Europa müsse angesichts der veränderten Weltlage seine Verteidigung selbst in die Hand nehmen, "und da wollen wir in Baden-Württemberg mitmischen." Rüstung werde "ein neuer industrieller Schwerpunkt für Baden-Württemberg werden", und "wir müssen es in diesem Bereich genau so machen, wie wir es bei zivilen Anwendungen gemacht haben." Kurzum, ein perfekter Lampedusa: Aus Autoland wird Panzer- und Raketenland, damit alles gleich bleibt, also Jobs und Wohlstand. In diesem Sinne: Zündkerzen zu Zündköpfen! 

Freuen wird diese Entwicklung Firmen wie Diehl Defence und die 120 anderen Firmen, die bereits in Baden-Württemberg Rüstung produzieren. Noch nicht so doll freut sich die IG Metall. Zwar vertritt die Gewerkschaft selbstverständlich auch die Beschäftigten von Heckler & Koch, Rheinmetall & Co., doch den neuen rosigen Wachstumsverheißungen dank Rüstung traut sie bislang nicht so richtig. Gibt ja noch andere Industrie. Die IG Metall sieht den heimischen Maschinenbau in Gefahr, bedroht durch "neue aggressive Wettbewerber, sich abzeichnende Handelskonflikte, (…) Verschlechterung der Standortbedingungen sowie Investitionszurückhaltung", wie es in einer Pressemitteilung des Landesbezirks heißt. Von der neuen mutmaßlichen CDU-SPD-Bundesregierung fordert die Gewerkschaft daher "einen Kurswechsel in Richtung einer sozial gerechten und wirtschaftlich leistungsfähigen Transformation" und Investitionen "sowohl in die öffentliche Infrastruktur als auch in Produkte, Märkte und Arbeitsorganisation". Sag ich doch, würde Kretschmann jetzt vermutlich sagen.

Um ihre Forderungen zu untermauern, mobilisiert die IG Metall für den kommenden Samstag, 15. März, zu großen Kundgebungen in fünf Städten. Auch in Stuttgart soll machtvoll demonstriert werden, und zwar um fünf vor zwölf (!) auf dem Schlossplatz. Etwas seltsam dabei ist die Exklusivität: Andere Gewerkschaften, die bestimmt ebenfalls für eine starke Industrie und stabile Sozialsysteme stehen dürften, rufen nicht mit auf. 

Voll wird es wohl trotzdem auf dem Schlossplatz, rustikales Auftreten ist aber allen Erfahrungen nach höchstens von den Rednerinnen und Rednern zu erwarten. Die anwesende Polizei zeigt bei Gewerkschaftsdemos in der Regel gedämpften Einsatzeifer. Anders am vergangenen Samstag bei der Frauentagsdemo des "Aktionsbündnis 8. März" in Stuttgart. Dass im Demozug einmal ein lila Rauchtopf entzündet wurde und am Rande des Zugs vom Dach des Gewerkschaftshauses Aktivistinnen ein Transparent mit der Aufschrift "Femizide stoppen!" herunterließen, war für die begleitenden Beamten Anlass genug, einige Demoteilnehmerinnen mit Schmerzgriffen festzunehmen und eine Stunde lang zu kontrollieren. Als "absolut unverhältnismäßig" kritisiert das Aktionsbündnis dies, die Polizei hingehen ist überzeugt, dass "nichts aus dem Ruder gelaufen" sei.

Vielleicht wollten die Beamt:innen einfach schon ein bisschen trainieren für den 1. Mai. Denn bei dieser Demo wird es nahezu sicher wieder zu vorschriftsmäßigen Eskalationen kommen, so wie 2024, 2023 und die Jahre davor. Also muss man in Übung bleiben. Für die Polizei ist dieses Üben mit weit weniger Verwüstungen möglich als fürs heimische Militär. Das kann seine Einsatztauglichkeit nicht so leicht unter Realbedingungen testen wie aktuell der Russe, was den Kontext-Rüstungsexperten Cornelius W. M. Oettle in seiner aktuellen Kolumne nachdenklich fragen lässt: "Aber gut, was hätten wir machen sollen? Zur Auffrischung unserer Kampffertigkeiten hin und wieder probeweise in den Niederlanden einfallen?" Eher nicht so ratsam. Es sind schwierige Zeiten, in denen wir leben.

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4 Kommentare verfügbar

  • Christoph Behrendt
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Das Polizei-Bashing in diesem Editorial und in der gestrigen Ankündigung zu dieser Ausgabe finde ich nicht akzeptabel. Dass die Polizei bei einer Demo schon für die nächste „trainiert“, dass die Polizei, weil an einem Haus ein Banner heruntergelassen wird, Demonstrant:innen mit Schmerzgriffen…
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