Bevor bei den Nationalsozialisten Vertreibungsfantasien in Vernichtungspolitik umschlugen, ebneten immer enthemmtere Hetze und unzählige schrittweise Grenzverschiebungen der Barbarei den Weg. Der in neurechten Kreisen beliebte Traditionsfaschist Julius Evola empfahl in seinem 1961 erschienenen Spätwerk "Den Tiger reiten" sogar, demokratische Zivilgesellschaften gezielt durch das Hervorrufen von Hysterie zu ermatten, bis sie abstumpfen und ihre Wachsamkeit schwindet. Derart offen kommuniziert die AfD ihre Absichten bisher selten. Doch ist bereits der Effekt zu verfolgen, wie ihre Tabubrüche immer häufiger auf Gleichgültigkeit stoßen, bis die Partei sich – nach einer kurzen Phase der Aufregung – sogar öffentlich damit brüstet.
Bezeichnend ist der Werdegang des Wortes "Remigration", also ein Euphemismus für Deportationen, der vor ziemlich genau einem Jahr Zehntausende Demokrat:innen erschütterte und auf die Straßen lockte. Doch inzwischen hat es die "Remigration" nicht nur ins Wahlprogramm der AfD geschafft, der Begriff ist auch auf "Abschiebetickets" zu finden, die der Karlsruher Ortsverband in Briefkästen verteilt. In einem – inzwischen gelöschten – Facebook-Posting des Göppinger AfD-Ablegers feierten Gleichgesinnte das "One-Way-Ticket" mit dem Kommentar: "Macht's gut. Flugticket geht auf uns." Vor der Machtübergabe an die NSDAP 1933 wurden im Deutschen Reich – und sogar auf Schulhöfen – "Freifahrtkarten nach Jerusalem" verteilt, "hin nicht wied. zurück“. Selbst wenn die historische Referenz nicht bewusst gewählt worden ist, offenbart die parallele Denkstruktur die Kameradschaft im Geiste.
Vielleicht liegt es an solchen strukturellen Ähnlichkeiten, dass faschistische Bewegungen nicht nur Fakten, sondern auch die Geschichte bekämpfen, mit Umdeutungen, die aus Hitler einen linken Kommunisten werden lassen oder mit Forderungen nach einer erinnerungspolitischen Kehrtwende. Wobei der 8. Mai ja heute schon als "Tag der Befreiung" zur historischen Verklärung einlädt, indem die Wortwahl vorgaukelt, das Gros der Deutschen wäre gegen den eigenen Willen von den Nazis unterdrückt worden.
Wie eine Massenbasis für Rechtsextremismus zustande kommt, lässt sich gegenwärtig unter anderem in Österreich studieren, wo die FPÖ unter Herbert Kickl in Umfragen fast 40 Prozent erreicht. Verhandlungsbereit und koalitionswillig zeigen sich die Konservativen von der Noch-Kanzlerpartei ÖVP, die mit dem Hauptfeind – also den Grünen – keine Gespräche führen möchten. Auch im Nachbarland ist die Wahlkampftaktik beliebt, die Zustände schlechter zu machen, als es die Statistiken erlauben. Und auch dort spielt neben den alternativen Fakten die gefühlte Wahrheit eine immer entscheidendere Rolle, bei Wahlvolk wie bei Gewählten.
Passend dazu verzichten die sogenannten Sozialen Netzwerke vermehrt auf Faktenchecks. Nachdem Kontext auf der Musk-Plattform X zuletzt am 8. Mai 2024 gepostet hat, ist unser dortiger Account nun offiziell eingefroren und nur deswegen nicht gelöscht, damit als Archiv nachvollzogen werden kann, was wir dort über die Jahre angestellt haben. Wo Big-Tech das große Geschäft mit der Lüge wittert und dafür Demokratien gefährdet, wollen wir noch einmal betonen, wie wichtig unabhängiger Journalismus bleibt. Und damit zu einer Nachricht, die uns tierisch freut: Unsere Spendenkampagne über die vergangenen Wochen ist super gelaufen, ein riesiges Dankeschön an alle, die unsere Arbeit finanziell unterstützen. Das ermutigt und ermöglicht das Weitermachen.
Scherben bringen Glück
Für unbefriedigende soziopolitische Zustände empfahl die Band "Ton Steine Scherben" in den frühen 1970ern noch "Macht kaputt, was euch kaputt macht", ein Rezept, das heute vielleicht ein wenig unterkomplex anmutet. Nichtsdestotrotz war das Wirken der Jungs um Rio Reiser nicht nur in popkultureller Hinsicht sehr nachhaltig – nachdem die Scherben im Juni 1972 ein Konzert auf dem Tübinger Marktplatz gespielt hatten, wurde ein Haus in der Karlstraße 13 besetzt. Das Epplehaus, wie es schnell nach dem von der Polizei erschossenen Lehrling Richard Epple genannt wurde, gibt es als selbstverwaltetes Jugendzentrum immer noch, und jetzt gibt es auch ein Buch zum Epplehaus: Der Sammelband "Wir hol'n jetzt unser Haus", erschienen in der Edition Analyse & Subkultur, geht der Geschichte des Hauses von 1972 bis heute nach. Kontext-Autor Lucius Teidelbaum hat es gemeinsam mit Elias Raatz herausgegeben und mehrere Texte beigesteuert. Und auch Ton-Steine-Scherben-Bassist Kai Sichtermann ist in einem gemeinsamen Text mit seiner Schwester, der Publizistin Barbara Sichtermann, mit eienm Gastbeitrag vertreten.
5 Kommentare verfügbar
Eva Sassen
am 21.01.2025So heißt auch ein Kinderspiel, das immer noch gespielt wird. Kinder laufen zur Musik um Stühle herum, plötzlich stoppt die Musik und alle müssen sich schnell auf einen Stuhl setzt. Es gibt allerdings immer einen Stuhl weniger als Kinder. So muss bei jeder Runde ein Kind…