Der arme Duden. Da erschien am 12. August 2020 nach umfangreichster Überarbeitung die 28. Ausgabe. Und in der Zwischenzeit hat Daimler schon mindestens drei Mal den Luxus neu definiert. Mit der neuen Mercedes-Benz S-Klasse, der Elektro-Limousine EQS und jetzt der Mercedes-Maybach S-Klasse. Einfach, so der PR-Sprech, "eine Luxuslegende, die sich immer wieder neu erfindet" und "seit 100 Jahren immer wieder den Luxus der Zukunft definiert". Da soll noch jemand behaupten, die deutsche Autoindustrie sei nicht innovativ genug.
Das neue Modell "kombiniert die Perfektion" der alten, ganz als gäbe es noch etwas zu verbessern, mit Exklusivität und Tradition. Und wer sich dabei vom gewöhnlichen S-Klasse-Plebs abheben möchte, der sich nur die volksnahe Basisausstattung leisten kann (verfügbar ab 164.565 Euro und 10 Cent), oder wer sich zur Feier seiner selbst einfach mal etwas Besonderes gönnen will, investiert sein Geld klug in eine "Zweifarblackierung mit filigranem Trennstrich", die für den bescheidenen Aufpreis von 14.875 Euro zu haben ist. Für das Monatsgehalt zweier Krankenschwestern gibt es obendrein versilberte Champagnerkelche (warum eigentlich kein Gold?), die den Zweck erfüllen, Getränke "auch während der Fahrt sicher an ihrem Platz" zu halten. Und das ist ja wohl jeden Cent wert.
Deutschland als eine Klassengesellschaft zu begreifen, ist allerdings hochgefährlich, wie aus einer aktuellen Auskunft des Bundesinnenministeriums hervorgeht. So hatten sich Abgeordnete der Linken-Fraktion erkundigt, warum die "Junge Welt" als einzige Tageszeitung in der Republik vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Begründung: "Beispielsweise widerspricht die Aufteilung einer Gesellschaft nach dem Merkmal der produktionsorientierten Klassenzugehörigkeit der Garantie der Menschenwürde." Die Hüter der freiheitlich-demokratischen Grundordnung brandmarken also die Diagnose, wonach Klassen existieren, als extremistische Position. Da muss auch Kontext auf der Hut sein.
Zudem veröffentliche die "Junge Welt" auch noch Beiträge, in denen Gewalt als Mittel im politischen Kampf "thematisiert wird" und "erweckt" durch "zumindest unkritische Darstellungen" "nachhaltig den Eindruck", eine "mögliche Gewaltanwendung" zu tolerieren. Hoffen wir mal, dass unser Film- und Serienkritiker Rupert Koppold in seiner aktuellen Besprechung "Den Rechten auf die Fresse?" genug Distanz erkennen lässt. Oder dass Bundesinnenminister Horst Seehofer das nächste Mal, wenn er sich zu Flucht und Migration äußert, nicht den Eindruck erweckt, er würde den Tod der über 2.000 Schutzsuchenden, die nach illegalen Push-Back-Aktionen der EU und tatsächlicher Gewaltanwendung im Mittelmeer ums Leben kamen, tolerieren. Wie war das noch gleich mit Klassenzugehörigkeit und der Garantie der Menschenwürde?
Manchmal bahnt sich die Menschenwürde nach langer Wartezeit selber einen Weg durch den finsteren Wald der Bürokratie. So schrieb uns unser Autor Karl-Heinz Behr vor Kurzem eine erfreuliche Mail: Seit 2016 kämpft eine Mutter aus Somalia dafür, ihre Kinder in ein kleines Dorf in Südbaden nachholen zu dürfen (Kontext berichtete). Jetzt, 2021, ist es so weit. "Die Freude ist groß", schreibt Behr. "Leider bleibt der Eindruck, wie unberechenbar und willkürlich das Handeln der deutschen Behörden ... erscheint. Aber vielleicht motiviert der heutige Erfolg auch: Es kann klappen!" Vielleicht. Nach vielen Jahren. Menschenwürde im Konjunktiv. Ganz ohne versilberte Champagnerkelche.
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