Allerdings beginnt dieser Prozess der Staatsverwilderung nie bei Null – und am Anfang steht immer die Delegitimation: Donald Trump erklärt für korrupt oder irre, wer seinen Zielen im Weg steht, die AfD agitiert nicht nur gegen die "Lügenpresse", sondern zum Beispiel auch gegen das Thüringer Verfassungsgericht. "Dort sitzt keiner, der nicht das richtige Parteibuch hat", kommentierte der Faschist Björn Höcke diesen März, nachdem ihm ein Urteil gegen seine Partei nicht gefallen hat. Aus einer missliebigen Entscheidung abzuleiten, dass die Justiz politisch gesteuert sei, ist indessen längst keine Strategie mehr, die sich nur unter Rechtsextremen großer Beliebtheit erfreut.
"Es hat konkrete Folgen, wenn Politiker öffentlich ankündigen, Gerichtsurteile ignorieren zu wollen", warnt aktuell Jörg Müller, der Präsident des Oberlandesgerichts Karlsruhe. Damit nimmt er Bezug auf den Kurs der schwarz-roten Bundesregierung: Nachdem das Berliner Verwaltungsgericht die Zurückweisung von drei Geflüchteten an der deutsch-polnischen Grenze für rechtswidrig erklärt hatte, kündigten Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) an, die mit europäischem Recht kollidierende Zurückweisungspraxis fortsetzen zu wollen. Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU), ein studierter Jurist, meinte im ARD-Morgenmagazin, das "Berliner Verwaltungsgericht kann nicht über die Rechtslage in ganz Deutschland entscheiden".
Frei bleibt flexibel
Alle Wortmeldungen stammen von führenden Politikern einer Union, die bei der vergangenen Bundestagswahl mit dem Slogan "Recht und Ordnung wieder durchsetzen" warb. Richter Müller findet es auf Mastodon "seltsam, dass es oft dieselben Personen sind, die sich über mangelnden Respekt vor dem Staat, seinen Institutionen und Repräsentant*innen beklagen – und dann selbst das alles gezielt öffentlich delegitimieren". Er bedauert, dass so viele Politiker:innen offenbar glauben, sie könnten "in Zeiten, in denen die Demokratie gezielt und organisiert von ausländischen Staaten, sehr reichen Menschen und vielen in ihrer geschlossenen Bubble Irregeleiteten angegriffen wird, Politik weiter so betreiben wie gewohnt: ein bisschen Show, ein bisschen 'Dem-Volk-nach-dem-Mund-reden', einfache Lösungen versprechen, echte Probleme ignorieren". Und dann setzt er noch einen drauf: "Ob das vor 100 Jahren in Deutschland auch so war, weiß ich nicht. Aber mein Eindruck ist, wir steuern auf ein ganz ähnliches Szenario wie damals zu."
Dass der Kurs von CDU und Bundesregierung in der Justiz für Aufregung sorgt, zeigte sich auch beim Deutschen Anwaltstag vom 2. bis 6. Juni in Berlin. Wie das Fachportal "Legal Tribute Online" (LTO) berichtet, sei das Grenz-Zurückweisungs-Urteil das alles dominierende Thema gewesen. Und im LTO-Podcast äußert sich sogar Andreas Voßkuhle, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgericht: "Entscheidungen müssen zunächst einmal beachtet werden. Dann kann man überlegen, ob man gegen eine Entscheidung vorgehen will oder ob man den Rechtsrahmen verändern kann. Aber jetzt haben wir eine Entscheidung und die gilt zunächst einmal." Voßkuhle selbst ist überzeugt, dass die Migration besser geregelt werden müsse, aber betont, dass der entsprechende Rechtsrahmen dafür auf europäischer Ebene verhandelt werden müsse. Seitens der LTO-Redaktion wird im Anschluss noch ergänzt, dass es sich dabei um "super komplexe und politische Abstimmungsfragen" handle, "also eine ganz andere Aufwandsebene als zu sagen: So, wir probieren es jetzt mal mit Zurückweisungen an der Grenze".
Einer, der sich mit der Komplexität europäischer und nationaler Gesetzgebungsprozesse bestens auskennen müsste, ist Kanzleramtschef Frei. Denn am 28. Januar dieses Jahres war es für ihn noch "glasklar", dass Asylsuchende laut den sogenannten Dublin-Regeln auf europäischer Ebene nicht einfach ins Nachbarland zurückgewiesen werden dürfen. "Die Dublin-III-Verordnung geht dem nationalen Recht vor, auch dem Verfassungsrecht", betonte Frei damals noch – sah allerdings auch Spielräume, indem er die Frage aufwarf: "Gilt die Dublin-III-Verordnung auch in der Situation, in der wir jetzt sind?" Ausnahmen sind nämlich erlaubt, wenn eine nationale Notlage vorliegt. Doch schien Frei – zumindest damals noch – zu ahnen, dass die Begründung, warum eine solche vorliegend soll, heikel werden könnte. Denn wenn es eine rechtliche Regelung für Zurückweisungen an der Grenze gebe, sei klar, "dass man das selbstverständlich umsetzt, bis irgendjemand dagegen klagt, bis ein Gericht sagt: So wie ihr es macht, ist es nicht in Ordnung. Und dann muss man es ändern."
3 Kommentare verfügbar
Oktarine
vor 1 TagDas ist ein Satz fürs Poesiealbum.
Und…