Das Video ist inzwischen auch auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung zu finden. Es soll als wissenschaftlicher Faktencheck erscheinen. Bei den angegebenen Quellen handelt es sich aber lediglich um Artikel aus der Tagespresse und um Links, die zur Website der Bundeszentrale für politische Bildung oder direkt zur Internetpräsenz der Nato führen. Gestwa nennt Erhebungen, die im Auftrag der Münchner Sicherheitskonferenz, des alljährlichen Lobby-Treffens von Rüstungsindustrie und Politik, gemacht wurden oder zieht Texte von Andreas Umland heran, einem "Nato-Fellow", der bereits 2014 in einem Artikel für die nach dem Atomwaffengegner Heinrich Böll benannte Stiftung der Grünen "Massenvernichtungswaffen" und einen "nuklearen Schutzschirm" für die Ukraine forderte. Er macht sich zum Sprachrohr der Bundesregierung: Die "Zeitenwende" müsse "nicht nur proklamiert, sondern auch konsequent umgesetzt" werden, sagt Gestwa.
Wer sich in "Friedensspekulationen" ergeht, wird von ihm schnell verdächtigt, eigentlich die "Geschäfte des Kremls" zu betreiben – er setzt sich aktiv dafür ein, dass solchen Menschen keine Bühne geboten wird. So versuchte er etwa mittels Mails an die Leitung der Volkshochschule Reutlingen einen dort stattfindenden Vortrag der ehemaligen Russland-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz zu verhindern. Nachdem das misslang, zeigte sich Gestwa in einem Interview mit t-online "entsetzt", die VHS habe den Vortrag ungebührlich "zelebriert", dabei sei deren "politische Verantwortung auf der Strecke geblieben".
Und offenbar ist aus dem Osteuropa-Forscher auch ein Militärexperte geworden: In Interviews lässt er sich über die "komplizierte Frontlage" aus, fordert Kampfjets und Taurus-Raketen für die Ukraine. Europa müsse mit mehr "eigenen militärischen Mitteln an der Nato-Ostflanke" aufwarten.
Militarisierung für Millionen
Dafür bekommt er, gemeinsam mit einer KI-Forscherin und zwei Kulturwissenschaftlern von der Universität Tübingen, einen mit 10.000 Euro dotierten Preis für innovative und erfolgreiche Wissenschaftskommunikation. Die Jury würdigt seinen "unermüdlichen Einsatz", mit seinem Video habe er "ein Millionenpublikum erreicht" und zur Meinungsbildung über den Ukrainekrieg maßgeblich beigetragen. Außerdem habe er "Mut bewiesen", sei "Streit und Anfeindungen nicht aus dem Weg gegangen". Zum Thema Mut soll, so heißt es in einem von der Tübinger Informationsstelle Militarisierung veröffentlichten Statement einer Gruppe, die sich als "Gegenuniversität" bezeichnet, der Kriegsgegner Kurt Tucholsky gesagt haben: "Nichts erfordert mehr Mut und Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden" – das aber sei gerade nicht die Art von "Mut", für die Gestwa stehe. Sein Video reklamiere Wissenschaftlichkeit, sei aber oberflächlich und undifferenziert wie Titelseiten von "Bild" oder "Spiegel". "Die Exzellenz-Uni feiert sich mal wieder selber, diesmal für Kriegshetze", kritisiert das Statement.
Der Vorwurf, die Universität beglückwünsche sich selbst, ist nicht von der Hand zu weisen: Das "Thesencheck"-Video wurde auf dem Kanal der Universität veröffentlicht, verantwortlich für seine Produktion zeichnet deren "Stabsstelle Hochschulkommunikation". Diese ist nun ganz begeistert von ihrem eigenen Werk: Es handle sich um "ein neues interaktives Format, für das Herr Gestwa ausgezeichnet wird". Als Institutsdirektor sei er "ein Wissenschaftler mit hohem Ansehen", versichert man. Die Zivilklausel gebe kein "Rezept" für einzelne Wissenschaftler, "wie sie ihr Recht auf freie Meinungsäußerung gestalten".
Für die Öffentlichkeit geschlossen
Die Zivilklausel wurde als Zugeständnis an studentische Proteste eingeführt. In den letzten 15 Jahren wurde die Universität immer wieder dafür kritisiert, sie nicht allzu ernst zu nehmen: Ob Forschung für die Bundeswehr oder eine Honorarprofessur für den langjährigen Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger – irgendeine Erklärung hatte die "Stabsstelle Hochschulkommunikation" immer parat. Als im Januar im Tübinger Audimax Gestwa und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) unisono "Aufrüstung und Abschreckung" für die Ukraine forderten, ließ sie ernsthaft verlautbaren, die Zivilklausel besage, dass "Lehre, Forschung und Studium" friedlichen Zwecken dienen sollen – die Veranstaltung sei aber "weder Teil der universitären Lehre noch Teil eines Forschungsprojekts" gewesen.
Gestwa selbst sagt auf Anfrage: "In Zeiten eines vom Kreml voll entfachten Informationskriegs, bei dem durch eine hybride Kriegsführung die bisherigen Vorstellungen von Krieg und Frieden verschwimmen, ist es unbedingt notwendig, dass wir unsere in jahrzehntelanger akademischer Arbeit erworbene Expertise nutzen, um kompetent, aber auch pointiert Stellung zu beziehen, um auf politische Geisterfahrer hinzuweisen." Seine Aussagen stützten sich "alle auf jahrzehntelange Recherchen und den aktuellen Forschungsstand", und er achte stets darauf, "das notwendige Maß an Differenziertheit zu wahren". Gestwa glaubt: "Wenn ich keine Ahnung habe, sage ich nichts."
In der Pressemitteilung zum Preis war ursprünglich angekündigt worden, dieser werde "in einer öffentlichen Feierstunde verliehen". Nun wurde der Festakt für die Öffentlichkeit geschlossen – "aus Kapazitätsgründen". Die PR-Stelle der Uni behauptet, dies sei von Anfang an so geplant gewesen, die Ankündigung ein "redaktioneller Fehler". Die "Gegenuni" gratuliert der Universität derweil zur "Selbstbeweihräucherung". Die Preisverleihung findet am 15. Mai um 17 Uhr im Pfleghofsaal statt. Übrigens an Gestwas Geburtstag. Na dann: herzlichen Glückwunsch.
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Ulrich Hartmann
am 15.05.2024