Dazu rate ich auch eindringlich, denn die Alternative wären noch instabilere Zustände, die Entsolidarisierte in der Gesellschaft vor dem Hintergrund autoritärer Tendenzen immer weiter in die Arme von AfD und Konsorten treiben würden. Wenn eine solidarischere Gesellschaft nicht mehr das allgemeine Ziel der Menschen ist, öffnet man der Ellenbogengesellschaft Tür und Tor.
Wenn ich aus dem Hier und Heute schaue, wie wir dem gewünschten und gemeinsamen Meilenstein näher kommen, sehe ich vor allem Erfolge von Gewerkschaften – in Gruppensolidarität organisiert. Aber ansonsten liegen dazwischen vor allem Erfahrungen der linken Spaltung, der Entsolidarisierung, literarische "Selbstgerechte" und Antworten darauf, Niederlagen an der Urne und der konsequente Niedergang der Linken aus Sicht der Demoskopie. Was der Gesellschaft in der Breite fehlt, ist die sinnliche Erfahrung, dass kollektives Handeln die Wirklichkeit zum Besseren verändert.
Und wenn man die Brille des Kapitals aufsetzt, dann wird man von den Linken grade großflächig in Ruhe gelassen. Marx sah ja "die Arbeiterklasse" als das dialektische Gegenüber, das durch seine Kämpfe den gesellschaftlichen Fortschritt erreichen sollte. In Form von Tarifauseinandersetzungen wird diesbezüglich das Kapital hier und dort zwar ein wenig gekitzelt, kann sich aber vor allem um Standortkonkurrenz und die erfolgreiche Umgehung des neuen Lieferkettengesetzes kümmern. Think-Tanks wie Bertelsmann oder die INSM ergreifen die Hegemonie über die Köpfe, von was ja eigentlich Linke träumen. Das passiert auch, weil eine linke Gegenerzählung fehlt.
Gemeinsame Projekte identifizieren
Die Linke ist schwach. Und wenn sich die 4,9 Prozent nur mit den 4,9 Prozent unterhalten, wird das nichts. Mein eigentlicher Vorschlag ist, außerparlamentarisch noch viel konsequenter auf Gewerkschaften, Sozialverbände und Bewegungen wie Fridays for Future zuzugehen. Wobei dem kleinbürgerlich-pubertären Schwarzen Block endlich der Rücken gekehrt werden muss.
Parlamentarisch müssen wir auf die linken Persönlichkeiten in SPD und Grünen zugehen und gemeinsame Projekte definieren, die im Falle einer R2G-Mehrheit machbar wären. Dazu gehört, dass sich das Verhalten der Bundestagsfraktion ändern muss: Sie zeigen skandalisierend auf die FDP und definieren Grüne und SPDler als Verräter:innen, anstatt auf die Willigen zuzugehen. Wenn denn das Parlament bloß die große Bühne ist, wie das manche definieren, dann halte ich diese ewigen Skandalisierungen für falsch. Richtiger wäre es meines Erachtens, eben genau dort aufzuzeigen, was mit der Linken möglich gewesen wäre, wären wir nicht so jämmerlich eingebrochen: Von einer besseren Welt erzählen ist besser als das ewige "Alles Scheiße". Gemeinsame linke Projekte gäbe es genug! Also das Credo heißt: Skandalisierungen beenden, das "Narrativ" ändern, Hoffnungen wecken.
Und zuletzt noch eine Worst-Case-Spekulation, um die Gedanken zu ordnen. Richtig ist: Wäre es zu R2G gekommen, dann würde im Koalitionsvertrag deutlich mehr von dem oben Beschriebenen stehen als heute mit der FDP. Richtig ist auch, "Kapitalismus abschaffen und Sozialismus einführen" würde nicht drin stehen. Aber eine linkssozialdemokratische Regierung würde vielen Menschen das Leben erleichtern, und es wäre auch leichter, autoritären Tendenzen zu begegnen.
Niemand wählt eine Opposition
Dazu gehört aber ebenso: Wäre es zu R2G gekommen, wäre vor dem Hintergrund des russischen Einmarschs in die Ukraine die Partei nicht mit Formulierungsversuchen beschäftigt, sondern längst gespalten. Weil niemand wissen kann, was passiert wäre, ist jedenfalls dieses sicher: Die Auseinandersetzungen um Waffenlieferungen gäbe es. Aber ganz sicher würde es keinen ungenutzten diplomatischen Kanal geben. Die Rolle der Linken könnte hier sicher nicht anders aussehen.
Aber mal angenommen, alle diplomatischen Kanäle würden versagen, was dann? In der Regierung bleiben oder raus? Die Antwort weiß ich nur für mich. Sicher ist: "Drinbleiben" würde der Partei mehr als eine Identitätskrise bescheren. Friedensaktivisten würden sich allerspätestens jetzt abwenden. "Raus" bedeutete, mindestens die jetzige reale Koalition zu inthronisieren mit allen sozialen Verlusten.
Mit einem "Raus" würden wir aber den Krieg sicher nicht beenden. Niemand in der Ukraine und in Russland hätte einen Vorteil. Viele Menschen in Deutschland würden Nachteile erleiden. Meine Entscheidung wäre klar. Und damit wäre ich in vielen linken Augen auch ein "Verräter".
Regierungsbeteiligungen korrumpieren. Wir wissen das. Es wäre mit einer offenen und nicht schönredenden Kommunikation abzuschwächen, aber es wird immer ein Problem bleiben. Aber wie Winfried Wolf zu sagen, "radikale Opposition ist alternativlos", bedeutet Sektierertum. Niemand wählt eine Opposition. Aus den "potentiellen" 18 Prozent, die Studien für Die Linke sehen, würden dann im Nu 1,8 Prozent.
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Peter G.
am 25.06.2022