Enteignungen, das sind "nun wirklich sozialistische Ideen und haben mit bürgerlicher Politik nichts zu tun", lernen wir von Markus Söder (CSU), und wer die Maßnahme befürwortet, erörtert sein Parteifreund Alexander Dobrindt, "stellt den gesellschaftlichen Frieden infrage". Es sind Aussagen, die nicht aus ihrem Kontext herausgerissen werden dürfen: Denn der soziale Zusammenhalt ist für die konservativen Analytiker dann gefährdet, wenn darüber debattiert wird, ob der Wohnungsbestand einzelner Immobilienunternehmen gegen eine üppige Entschädigungszahlung verstaatlicht werden kann. Dann nämlich weht ein "kalter Hauch von DDR" durch die Republik, kommentiert Reinhardt Müller in der FAZ, und ganz ähnlich sieht das auch Andrea Seibel, die das Meinungsressort der "Welt" leitet: "Der Boden des Unfriedens ist also auch hier beackert", bilanziert sie angesichts der Bemühungen um "Verbote, Regulierung, Preiskontrolle" am Wohnungsmarkt, und besonders ärgert sie, dass das Wort "Enteignung" in aller Munde ist, "so als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, obwohl es das Dümmste und Verantwortungsloseste überhaupt ist".
In der Geschichte der Bundesrepublik haben bereits 125 000 Menschen ihre Behausungen verloren, weil sich der Staat in ihre Eigentumsverhältnisse einmischte. Allerdings nicht, um günstiges Wohnen zu ermöglichen, sondern für die Braunkohle. 370 Gemeinden mussten für den Tagebau Garzweiler weichen, den RWE betreibt, und die juristische Legitimation für die Enteignung eines Landstrichs ergibt sich aus dem Gemeinwohl, das vom Verbrennen der fossilen Energieträger profitieren soll. Begründet wurde das seinerzeit mit einer stabilen und günstigen Stromversorgung, die gewährleistet sein müsse. Heute ist Deutschland Europas größter Stromexporteur und Europas größter CO2-Verursacher.
Doch nicht nur bei der Braunkohle, auch beim Verkehr müssen sich Einzelinteressen dem Gemeinwohl unterordnen. Zum Beispiel beim Straßenbau. Aber auch, damit ein Flugzeugproduzent Kasse machen kann: In Hamburg mussten 2003 mehrere Obstbauern für eine verlängerte Landebahn einer Airbus-Produktionsstätte weichen. Ermöglicht hat diese Enteignung der Genosse der Bosse: Auf Initiative von Kanzler Gerhard Schröder (SPD) wurde damals eigens zu diesem Zweck das Luftverkehrsgesetz geändert. Fürs Gemeinwohl, versteht sich.
Und damit nun nach Baden-Württemberg, wo mit Stuttgart, Freiburg und Heidelberg immerhin drei der zehn teuersten deutschen Wohnstädte beheimatet sind – und wo das "tiefrote Gespenst" der Enteignung Investoren verschreckt, wie Innenminister Thomas Strobl (CDU) warnt, und der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann pflichtet ihm bei, dass er die Debatten für Unsinn hält. Allerdings ist auch hier nur der Wohnungsbau gemeint, denn enteignet wird durchaus. Etwa für Stuttgart 21, denn den knapp 60 Kilometern Tunnel, die für das Projekt gegraben werden, stehen circa 3500 Privatgrundstücke im Weg. Nicht alle Eigentümer sind oder waren bereit, die Bahn bei sich bauen zu lassen.
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Thomas A
am 11.09.2019