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Die Lust am Schnellschuss

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Ein Interview mit dem Juso-Chef Kevin Kühnert erhitzt die Gemüter der Republik. Unser Gastautor Peter Henkel findet, dass das vielfach hysterische Echo Aufschluss gibt über heikle Geistes- und Gemütszustände im Lande.

Selbstkritik ist angesagt. Da war man nun aufgewachsen nicht in, aber mit der DDR und war ihr über all die Jahre verbunden gewesen in entschiedener Ablehnung. Die Schande der Morde an Mauer und Stacheldraht, die allgegenwärtige Repression, die öde Gleichschaltung des öffentlichen Lebens, die Bespitzelung der eigenen Bürger, die stumpfsinnige Verherrlichung einer Art des Wirtschaftens, deren Mängel ins Auge sprangen. Das alles hatte im Westen den Konsens einer übergroßen Mehrheit entstehen lassen: Weil dieser Staat vorsätzlich und umfassend Menschlichkeit und Freiheit verachtet, verachten wir ihn.

Und nun: Selbstkritik, fällig geworden wegen Naivität. Denn kaum wirft ein namhafter Nachwuchspolitiker der SPD Eigentums- und Machtfragen auf und äußert die Ansicht, da laufe etwas reichlich schief bei uns und könne so nicht weitergehen, gibt es einen Sturm der Entrüstung. Auf einmal kommt es für unzählige bekannte und weniger bekannte Zeitgenossen auf die Kriterien Menschlichkeit und Freiheit bei der Systembeurteilung offenbar nicht mehr so sehr an. Wichtiger ist ihnen offenbar, dass nur ja alles beim Alten bleibt bei der Frage, wer an den Töpfen sitzt und wer das Sagen hat.

Die DDR war nie das Vorbild

Nicht zu fassen, wie viele und welche bedeutenden Köpfe bei dieser Debatte denselben verlieren – und allen Ernstes so tun, als habe Kühnert Zustände wie in der versunkenen DDR empfohlen. Frau Kramp-Karrenbauer zum Beispiel, unsere nächste Kanzlerin, staunt, dass 30 Jahre nach dem Mauerfall der Sozialismus wieder Thema ist; Sachsens Ministerpräsident verliert im TV gegenüber dem Jungspund Kühnert schier die Fassung und bestreitet, dass es überhaupt Kapitalismus gibt in der Bundesrepublik; CSU-Dobrindt schwadroniert von "Anbiederung an die SED-Erben", die die "logische Folge aus den ständigen Umverteilungsfantasien und Neiddebatten der SPD" sei; Olaf Scholz kann er da nicht gemeint haben, denn auch dieser rechte Sozialdemokrat, übrigens zu seinen eigenen Juso-Zeiten ein missionarischer Prediger der Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus, der beseitigt gehöre, mokiert sich grinsend über gewisse Ideen von ehedem, die sich als untauglich erwiesen hätten; auch den Genossen Johannes Kahrs nicht, der sich fragt, was Kevin wohl geraucht haben mag; CDU-Strobl schließlich will alle Alarmglocken schrillen lassen, salbt aber in der Aufregung noch postmortal und ungewollt den Arbeiter-und-Bauern-Staat mit einem Griff ins ganz falsche Formelkästchen: "30 Jahre nach dem Niedergang der DDR will die Linke wieder den demokratischen Sozialismus!"

So ginge es dahin, mit Dutzenden Belegen dafür, welch trauriges Niveau hierzulande Diskussionen über ökonomische und gesellschaftspolitische Elementarthemen erreicht haben. Der status quo bei der Verteilung des Erwirtschafteten ist heiliggesprochen.Wer anderes will, wird sogleich mit dem grotesken Argument zur Ordnung gerufen, die Ostblock-Ökonomie habe ein für alle Mal gezeigt, wohin solche Modelle führen. Dass Kühnert in dem "Zeit"-Interview den "demokratischen Sozialismus" als "untrennbares Begriffspaar" bezeichnet und damit die DDR als Vorbild prinzipiell ausscheidet, was soll's? Dass er von einer "Welt freier Menschen" spricht, von schrittweisen Prozessen und bekennt: "Auch der Sozialismus wird und muss mit Marktmechanismen arbeiten" – was tut's zur Sache? Nicht einmal Clemens Fuest vom Ifo-Institut behält die Contenance und rät Kühnert, doch zur Partei Die Linke zu wechseln oder gleich zur Deutschen Kommunistischen Partei.

Das Durcheinander der Begriffe, die Konfusion, die Lust am Schnellschuss und der Hang, dem unbequemen Mahner die wüstesten Torheiten zu unterstellen – das alles offenbart sowohl den beinharten Egoismus konservativer und pseudoliberaler Besitzstandswahrer als auch die dichten ideologischen Nebelschwaden bei Normalbürgern. Im Netz gießen sie vornehmlich Hohn und Aggression über dem Tabubrecher aus. Allerdings macht Kühnert ihnen die Diffamierung an manchen Stellen zu leicht, indem er allzu Vages und auch Widersprüchliches sagt und unnötig Fässer aufmacht, an denen man sich nur verheben kann. "Kollektivierung" beispielsweise ist ein Wort, das zu viel Deutungsspielraum offenlässt. Die von ihm angestrebte "Überwindung" des Kapitalismus würde konkret die Abschaffung von Privateigentum an Produktionsmitteln bedeuten; die ist aber zu weit entfernt von der Wirklichkeit dieser Welt, auch vom Grundgesetz dieses Landes und obendrein nicht einmal wünschenswert, schon gar nicht pauschal für alle Sektoren einer Volkswirtschaft. Auch den reichlich verträumten Gedanken, im Idealfall besäße niemand Wohnraum außer den von ihm selbst bewohnten, sollte der Querdenker anders zu Ende denken als bisher: Ohne Investitionen privaten Kapitals kann und wird genug bezahlbarer Wohnraum ganz gewiss nicht entstehen.

"Kühnert trifft einen Nerv" – meint der DIW-Chef

Das Grundanliegen bleibt trotzdem richtig. Finanzkapital muss viel stärker gezähmt und gezügelt, in Größe und Einfluss begrenzt, mit effizienten Verboten und Sanktionen konfrontiert und generell in den Dienst des Gemeinwohls genommen werden. Dass das auch global bisher nicht so recht funktioniert hat und immer weniger zu funktionieren droht, wird nur von Anbetern und Profiteuren des Bestehenden übersehen, verharmlost, ignoriert oder aus durchsichtigem Interesse geleugnet. Dabei ist die grassierende Ausbeutung armer Länder erstens real und zweitens korrekturbedürftig. Alters- und Kinderarmut, Arbeitslosigkeit, schamlose Bereicherung von vermeintlichen Eliten, Vernachlässigung ganzer Regionen, mangelnde Courage gegenüber den kostspieligen Folgen unserer maßgeblich kapitalgetriebenen Umweltsünden: So etwas sollte im Kühnert'schen Sinne unbedingt "überwunden" werden.

Besonnener Realismus räumt das ein – und muss deshalb nicht den Stab brechen über dieses Land. Eine solche Stimme ist bemerkenswerterweise die von Marcel Fratzscher, dem Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). "Kühnert trifft einen Nerv", sagt er, "wir haben einen ungewöhnlich großen Niedriglohnbereich, das Armutsrisiko steigt trotz Wirtschaftsbooms, die Ungleichheit nimmt zu, viele Menschen sind unzufrieden."

Ganz nebenbei: Dass Politik nichts zu sagen habe und allein das große Geld die Welt regiert, ist zwar Fake News, aber trotzdem eine populäre Ansicht. Wer sie teilt, begibt sich hier in Gegnerschaft auch zu Kühnert, der in diesem Punkt offensichtlich ganz anders denkt und agiert. Dabei hat er doch schon Gegner genug, Leute, die in dem jungen Mann eine Art Gottseibeiuns sehen, der die Axt an Wohlstand und gewohnte Verhältnisse legt. Zu ihnen zählt Ulf Poschardt, immerhin Chefredakeur von Springers "Welt"-Gruppe, der in Kühnerts Plädoyer für eine neue Ökonomie von unten nichts Geringeres als einen "Weg der Gewalt" zu erkennen behauptet. Und am Ende in einem Aufwasch alles unterbringt, wovor ihm gruselt: "Das Land steht an der Wegscheide. Interessant wird sein, ob sich die Grünen gegen den Weg in die sozialistischen Abgründe entscheiden oder zynisch darauf hoffen, dass eine Deindustrialisierung ihre klimareligiösen Nöte erlöst." Wenn der kühne Kühnert so etwas liest, mag er sich trösten, in Erinnerung an einen legendären Hollywood-Streifen aus den Neunzigern: Kevin ist mitnichten allein zu Haus.


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