Selbstkritik ist angesagt. Da war man nun aufgewachsen nicht in, aber mit der DDR und war ihr über all die Jahre verbunden gewesen in entschiedener Ablehnung. Die Schande der Morde an Mauer und Stacheldraht, die allgegenwärtige Repression, die öde Gleichschaltung des öffentlichen Lebens, die Bespitzelung der eigenen Bürger, die stumpfsinnige Verherrlichung einer Art des Wirtschaftens, deren Mängel ins Auge sprangen. Das alles hatte im Westen den Konsens einer übergroßen Mehrheit entstehen lassen: Weil dieser Staat vorsätzlich und umfassend Menschlichkeit und Freiheit verachtet, verachten wir ihn.
Und nun: Selbstkritik, fällig geworden wegen Naivität. Denn kaum wirft ein namhafter Nachwuchspolitiker der SPD Eigentums- und Machtfragen auf und äußert die Ansicht, da laufe etwas reichlich schief bei uns und könne so nicht weitergehen, gibt es einen Sturm der Entrüstung. Auf einmal kommt es für unzählige bekannte und weniger bekannte Zeitgenossen auf die Kriterien Menschlichkeit und Freiheit bei der Systembeurteilung offenbar nicht mehr so sehr an. Wichtiger ist ihnen offenbar, dass nur ja alles beim Alten bleibt bei der Frage, wer an den Töpfen sitzt und wer das Sagen hat.
Die DDR war nie das Vorbild
Nicht zu fassen, wie viele und welche bedeutenden Köpfe bei dieser Debatte denselben verlieren – und allen Ernstes so tun, als habe Kühnert Zustände wie in der versunkenen DDR empfohlen. Frau Kramp-Karrenbauer zum Beispiel, unsere nächste Kanzlerin, staunt, dass 30 Jahre nach dem Mauerfall der Sozialismus wieder Thema ist; Sachsens Ministerpräsident verliert im TV gegenüber dem Jungspund Kühnert schier die Fassung und bestreitet, dass es überhaupt Kapitalismus gibt in der Bundesrepublik; CSU-Dobrindt schwadroniert von "Anbiederung an die SED-Erben", die die "logische Folge aus den ständigen Umverteilungsfantasien und Neiddebatten der SPD" sei; Olaf Scholz kann er da nicht gemeint haben, denn auch dieser rechte Sozialdemokrat, übrigens zu seinen eigenen Juso-Zeiten ein missionarischer Prediger der Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus, der beseitigt gehöre, mokiert sich grinsend über gewisse Ideen von ehedem, die sich als untauglich erwiesen hätten; auch den Genossen Johannes Kahrs nicht, der sich fragt, was Kevin wohl geraucht haben mag; CDU-Strobl schließlich will alle Alarmglocken schrillen lassen, salbt aber in der Aufregung noch postmortal und ungewollt den Arbeiter-und-Bauern-Staat mit einem Griff ins ganz falsche Formelkästchen: "30 Jahre nach dem Niedergang der DDR will die Linke wieder den demokratischen Sozialismus!"
So ginge es dahin, mit Dutzenden Belegen dafür, welch trauriges Niveau hierzulande Diskussionen über ökonomische und gesellschaftspolitische Elementarthemen erreicht haben. Der status quo bei der Verteilung des Erwirtschafteten ist heiliggesprochen.Wer anderes will, wird sogleich mit dem grotesken Argument zur Ordnung gerufen, die Ostblock-Ökonomie habe ein für alle Mal gezeigt, wohin solche Modelle führen. Dass Kühnert in dem "Zeit"-Interview den "demokratischen Sozialismus" als "untrennbares Begriffspaar" bezeichnet und damit die DDR als Vorbild prinzipiell ausscheidet, was soll's? Dass er von einer "Welt freier Menschen" spricht, von schrittweisen Prozessen und bekennt: "Auch der Sozialismus wird und muss mit Marktmechanismen arbeiten" – was tut's zur Sache? Nicht einmal Clemens Fuest vom Ifo-Institut behält die Contenance und rät Kühnert, doch zur Partei Die Linke zu wechseln oder gleich zur Deutschen Kommunistischen Partei.
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