KONTEXT:Wochenzeitung
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Wechselspiel

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Sie haben ihren Arbeitsplatz getauscht: der Leiter der Akademie Solitude und ein Gründungsmitglied der Kontext:Wochenzeitung. Jean-Baptiste Joly wurde Kontext-Redakteur auf Zeit, Rainer Nübel durfte für ein paar Tage auf dem Chefsessel der Akademie Platz nehmen. Ihre Erfahrungen haben sie hier zusammengetragen.

Haben ihren Arbeitsplatz getauscht: Jean-Baptiste Joly und Rainer Nübel. Foto: Martin Storz

Sie haben ihren Arbeitsplatz getauscht: der Leiter der Akademie Solitude und ein Gründungsmitglied der Kontext:Wochenzeitung. Jean-Baptiste Joly wurde Kontext-Redakteur auf Zeit, Rainer Nübel durfte für ein paar Tage auf dem Chefsessel der Akademie Platz nehmen. Ihre Erfahrungen haben sie hier zusammengetragen.

Alte Vorurteile

Als ich vor einigen Jahren 50 wurde, habe ich mir vorgenommen, die alten Denkschablonen und Vorurteile aus meiner Jugend zu überprüfen, darunter auch meinen ausgeprägten kritischen Blick auf den Kapitalismus als Wirtschaftssystem. Auch diese Gedanken spielten eine Rolle bei der Gründung des Programms art, science & business, das den Dialog zwischen Wissenschaft, Forschung und Kunst an der Akademie Schloss Solitude fördern sollte.

Zu den ersten Aktivitäten gehörten regelmäßige Begegnungen zwischen jungen KünstlerInnen, ForscherInnen und ManagerInnen, die einmal im Monat auf der Solitude stattfanden. Um die kulturelle Kluft zu überbrücken, die Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen trennten, fragten zwei Künstler, ob es nicht denkbar wäre, sich gegenseitig am Arbeitsplatz des anderen zu besuchen und so einige Tage miteinander zu verbringen. Die jungen Manager nahmen das Angebot mit einem gewissen Unbehagen an, nicht wissend, wie Unternehmen und Kollegen den Eindringling aufnehmen würden.

So hat vor neun Jahren das erste Programm "Tausche Deine Arbeitswelt" stattgefunden, das Anfang 2011 als Teilprogramm der Aktivitäten im Rahmen des Innovationsrings Baden-Württemberg offiziell gegründet wurde. An diesem Programm habe ich im Herbst 2011 teilnehmen dürfen. Mein Austauschpartner ist Rainer Nübel, der zwar kein Kapitalist ist, aber als Investigationsjournalist und Mitbegründer der Kontext:Wochenzeitung einen tiefen Einblick in die Strukturen unterschiedlichster Unternehmen hat. Die durch diesen Austausch gewonnenen Einsichten haben meine Erwartungen bei Weitem übertroffen, denn Eindrücke und Erfahrungen waren viel grundsätzlicher und nachhaltiger, als ich es im Vorfeld gedacht hatte.

In der Redaktion der Kontext:Wochenzeitung begegnete ich chinesischen Journalisten im Gespräch mit Rainer Nübel. Die kritischen Fragen einer jungen Journalistin über das Wirtschaftsmodell einer Internetzeitung, die es nicht auf Schnelligkeit absieht, waren sehr lehrreich: Sie hatte überhaupt kein Verständnis für ein Modell von Journalismus, das nicht mehr von Lobbys abhängig sein will und sich nicht für schnell ins Netz gebrachte Informationen interessiert, sondern für Recherche und Genauigkeit.

Bei meinem zweiten Besuch durfte ich Texte Korrektur lesen und hier und da redigieren, auch in Zusammenhang mit S 21 ein Gespräch mit Rainer Nübel über Romantik führen. Wir beendeten den Tag mit der Redaktion und tauschten uns über die strategische Entwicklung der Kontext:Wochenzeitung aus.

Durch die Teilnahme an "Tausche Deine Arbeitswelt" war ich außerdem für zwei Tage (Vor- und Nachbereitung der Teilnehmer des Programms) Gast im eigenen Haus und konnte die Akademie von der anderen Seite, das heißt quasi von außen erleben und beobachten: eine unerwartete und auch positive Erfahrung. Auch Rainer Nübels Blick auf die Arbeit der Akademie hat mich in vielerlei Hinsicht weitergebracht, insbesondere weil er mit seinen Kenntnissen des politischen Umfeldes in Baden-Württemberg auf die Punkte hingewiesen hat, die die Politik an der Akademie Schloss Solitude schätzen würde: die Solitude, so Nübel, entspreche genau jener "Aufbruchstimmung einer neuen Gründerzeit", wie sie von der jetzigen Regierung verkündet wird.

Wir sind, so Nübel weiter, "die gute Seite der Globalisierung", interdisziplinär, weltweit vernetzt und doch sehr persönlich/verbindlich in unseren Kontakten zu den aktuellen und ehemaligen Stipendiaten. Für die Akademie ist dies eine neue, sehr realitätsnahe Botschaft, die insbesondere die Rolle des weltweiten Solitude-Netzwerkes in den Vordergrund stellt und bei den Globalisierungsskeptikern hervorragend ankommt.

Ob ich mit dem Programm die Vorurteile aus meiner Jugend revidiert habe? Ja, aber es könnte sein, dass die Realität viel schlimmer ist als meine naiven Vorstellungen von damals.                                                         

                                                                                              Jean-Baptiste Joly

 

Die Freiheit am Tischkicker

Liegt es an der Idylle der Solitude? Es ist die Unaufgeregtheit, die als Erstes auffällt. Ruhig und konzentriert tagt das elfköpfige Akademie-Team in der Bibliothek. Es gibt einiges zu besprechen: Neue Stipendiaten aus verschiedensten Kunstbereichen sind angekommen, der Jahresbericht und andere aktuelle Publikationen stehen an, technische Fragen sind zu lösen, eine Lautsprecheranlage ist defekt. Und dann fehlt da noch der Schwanz an der Hündin in der Ausstellung "Bitch on a bent palmtree". Am Vorabend war er noch da. Sachlich und konstruktiv, mitunter auch mit einem leisen Augenzwinkern, wird jeder Punkt angegangen. Rituale gehören dazu. "Ich gebe weiter", sagt jeder, nachdem er in der Runde dran war. Immer wieder zückt Jean-Baptiste Joly seinen Mehrfarben-Kugelschreiber. Mit Blau notiert er Informationen, also Dinge, die er delegieren kann. Rot markiert ist alles, was er selbst tun soll. "Es muss immer mehr blau als rot geben, sonst überlebt man nicht", sagt der Akademiechef und schmunzelt.

Dieses Zweifarbensystem ist einfach, vordergründig betrachtet. Und gleichzeitig, das wird mir bei meinen drei Besuchen bewusst, spiegelt sich darin wesentlich das Funktionsprinzip und das Erfolgsgeheimnis der Akademie Schloss Solitude: Alles ist effizient organisiert, jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter trägt eigenverantwortlich dazu bei, dass "der Laden" läuft. Und der Chef, Jean-Baptiste Joly, dirigiert von seinem stets sauberen Schreibtisch nicht in autoritärer Pose, sondern gibt dem Team das, was eine intakte Einrichtung genauso braucht wie ihr inhaltlicher Kern, die Kunst: Freiheit und Selbstbewusstsein. Der Weg zum Direktorenzimmer ist kurz, die Türe offen, immer wieder klopft es, werden anstehende Fragen im direkten Gespräch gelöst. Dass sich Akademie-MitarbeiterInnen nach dem gemeinsamen Mittagessen die Freiheit nehmen, ihren Chef beim Tischkicker-Match haushoch zu schlagen, ist da nur konsequent. Und sozusagen Teil dieses Systems. Deshalb läuft, bei aller Idylle des Ortes, der Akademiebetrieb so unaufgeregt. Deshalb wird auch das Problem des verschwundenen Hundeschwanzes so rasch gelöst: Der Künstler selbst hatte ihn am Vorabend mitgenommen. Und deshalb habe ich vom Innenleben dieser Einrichtung so viel Wichtiges gelernt – als Journalist, der seine eigene Zunft zunehmend als ein höchst aufgeregtes selbstreferenzielles System erlebt.

Es gibt ein weiteres wichtiges Moment, das ich von diesem Arbeitswelt-Tausch mitnehme: der bewusst menschlich-persönliche Ansatz, mit dem Kontakte aufgebaut, entwickelt und gehalten werden, institutionelle Partnerschaften wie auch die Kontakte zu den Stipendiaten. So, nur so war es möglich, dass die Akademie zu einem globalen Netzwerk von Künstlern aller Sparten geworden ist. Da mailt ein argentinischer Schauspieler und Regisseur, ehemaliger Solitude-Stipendiat, er suche nach einem Produzenten in Deutschland. Aus Indien kommt die Nachricht, dass zwei Alumni mit einem anderen ehemaligen Stipendiaten ein gemeinsames Projekt planen. Das Netz wird immer dichter. Jean-Baptiste Joly beantwortet jede Mail selbst, lässt sich dafür Zeit. "Basisarbeit" nennt er das. "Die ehemaligen Stipendiaten sind unser Kapital." Und die neuen werden vom Akademiechef in persönlichen Gesprächen mit einer Programmatik begrüßt, die sie sichtlich überrascht und beeindruckt: "Die Zeit, die sie hier verbringen, gehört ihnen und nicht uns. Wir erwarten von ihnen nichts." Welche Kreativität und Produktivität damit gefördert wird, wie viele Kunstprojekte vielfältiger Art daraus entstehen, zeigt der Jahresbericht, den ich redigieren durfte.

Hinter alldem steht etwas, was ich mir für den Journalismus wünsche: ein primär menschlicher, nicht funktionaler Umgang mit medialen Protagonisten und Informanten – und eine menschliche Investigation. Dass mein Tauschpartner derweil im journalistischen "Kontext", buchstäblich, so viel Kompetenz, schreiberisches Talent und kritisches Einschätzungsvermögen zeigte, verblüffte die Redaktion der noch jungen gleichnamigen Internet-Wochenzeitung. Nicht auszuschließen, dass sich die Akademie demnächst mit ernst zu nehmenden Abwerbungsversuchen konfrontiert sieht. Was zwar nicht im Sinne der Erfinder von "Tausche Deine Arbeitswelt" sein dürfte, aber sicherlich den hohen Wert dieses Projekts widerspiegelt. Fortsetzung folgt, das steht für mich fest. Aus einem Tauschpartner ist ein Ratgeber, Denk- und Gesprächspartner geworden, mehr noch: ein wichtiger Freund.

                                                                                                     Rainer Nübel


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