KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Alfred Hagenlocher

Der NS-Täter als Kunstfreund

Alfred Hagenlocher: Der NS-Täter als Kunstfreund
|

Datum:

Der Gestapo-Beamte Alfred Hagenlocher, 1994 mit der Staufermedaille des Landes Baden-Württemberg geehrt, schaffte es bis zuletzt, sich als Kunstfreund auszugeben. Seine Tochter Ingrid Hagenlocher-Riewe ist sich sicher: Das war nur Tarnung.

"Ohne die Gegenwart zu vergessen, wird in Meßstetten Tradition in ihrer schönsten Form bewahrt", rühmte sich bis vor einigen Jahren das dortige "Museum für Volkskunst" mit dem Namenszusatz "Sammlung Alfred Hagenlocher". Der Genannte wurde als "großer Kunstliebhaber" gewürdigt. "Der Zusatz ist künftig gestrichen", titelte 2020 der "Schwarzwälder Bote". Nach Berichten über Hagenlochers NS-Vergangenheit beschloss der Gemeinderat, den Namen nicht mehr zu nennen.

1914 geboren, trat Hagenlocher bereits mit 17 Jahren in die NSDAP und die SS ein, wo er aufgrund seiner frühen Mitgliedschaft bald Karriere machte. Als Gestapo-Beamter im Stuttgarter "Hotel Silber" war er für die Hinrichtung von neun Mitgliedern der Widerstandsgruppe Schlotterbeck verantwortlich. Nach dem Krieg wurde er im Rahmen der Entnazifizierung (Spruchkammerverfahren) zunächst als Hauptschuldiger eingestuft, wusch sich dann aber rein: durch Kunst.

Der Journalist Hermann Abmayr hat einen Film über die Begegnung von Hagenlochers Tochter Ingrid Hagenlocher-Riewe und Wilfriede Heß gedreht. Letztere ist die Tochter der ermordeten Widerstandskämpferin Getrud Lutz, die wiederum die Schwester von Friedrich Schlotterbeck war. Der Film "Sie kann ja nichts für ihren Vater" hatte jüngst im Hotel Silber Premiere. Diejenigen, die von Hagenlochers NS-Vergangenheit wissen, kennen zumeist nicht die Geschichte des "großen Kunstliebhabers" – und umgekehrt. Dazu findet am heutigen Mittwoch im Hotel Silber eine zweite Veranstaltung statt. Vorab sprach Hagenlocher-Riewe mit Kontext über ihren Vater.

Die Liebesbriefe ihres Vaters

Die 83-Jährige ist körperlich eingeschränkt, seit sie im Alter von zweieinhalb Jahren eine Kinderlähmung überstand. Sie ist auf den Rollstuhl angewiesen, geistig hellwach und will die Geschichte ihres Vaters aufarbeiten, dem es bis zuletzt gelang, seine aktive Rolle im Nationalsozialismus unter den Tisch zu kehren. Als Präsident der Hans-Thoma-Gesellschaft in Reutlingen, Gründungsdirektor der Städtischen Galerie Albstadt und zuletzt Stifter des Meßstetter Museums, rückte Hagenlocher sich in ein positives Licht, ohne Verdacht zu wecken. Dabei hat sich – das wird im Gespräch deutlich – seine politische Haltung nie groß geändert.

Ingrid Hagenlocher-Riewe hat sich die Korrespondenz ihres Vaters mit seiner damaligen Geliebten und späteren zweiten Ehefrau Elvira Schneider – für sie als Kind "Tante Ev" – aus der frühen Nachkriegszeit angesehen. Mehr als 300 Briefe schickte er Elvira, vorwiegend aus den amerikanischen Internierungslagern in Darmstadt und aus dem Hohenasperg, manchmal mehrere an einem Tag. Eigentlich Liebesbriefe, doch eine wichtige Quelle, da sie Hagenlochers Zuwendung zur Kunst aus der Innenperspektive beleuchten. "Er begründet seine Metamorphose zum Künstler mit einem Auftrag von höherer Ebene, von dem es kein Entrinnen gibt", sagt seine Tochter. Das Sendungsbewusstsein, das er mit der NS-Ideologie in sich aufgesogen hatte, sublimierte er nun ins Religiöse.

Sie habe Elvira Schneider als liebenswürdige Frau kennengelernt, offen und warmherzig, sagt Ingrid Hagenlocher-Riewe. "Mein Vater hat sie manipuliert und auf seine Ideologie eingeschworen, dass es schon beim Lesen beinahe unerträglich ist." Er nennt sie beim Kosenamen Dule und unterzeichnet mit Hug, nach einem Hug von Hagelloch, den er in mittelalterlichen Quellen ausfindig gemacht hat und dessen Wappen er übernimmt. "Er hat sie mit Briefen überschwemmt. Jede Minute ihres Tages musste angefüllt sein mit Gedanken an ihn. Bis sie in ihren Antwortbriefen seine Sprache übernimmt und manchmal im Wortlaut schreibt, was er ihr vorgibt", sagt Hagenlocher-Riewe.

Die Konversion zum Künstler im Internierungslager

In der recht ausführlichen Biografie im Findbuch des Landesarchivs, das seit 2012 einen Teilnachlass Hagenlochers besitzt, steht, er habe 1931 an der Kunstgewerbeschule in Stuttgart studiert. Diese Angabe beruht auf zwei undatierten Notizheften, die "wahrscheinlich während der Ausbildung Hagenlochers" eben dort entstanden seien. Ingrid Hagenlocher-Riewe hat sich diese beiden Notizhefte angesehen. Darin beruft sich ihr Vater immer wieder auf einen Professor Renfordt und später auf einen Arzt namens Dr. Pülm. Wilhelm Renfordt, 1889 geboren, war ein gemäßigt moderner Maler, von dem 1937 in der Aktion "Entartete Kunst" sieben Werke beschlagnahmt wurden, zugleich aber war er seit 1933 SS-Mitglied. Im Mai 1945 von den Amerikanern verhaftet, unterrichtete er in der so genannten Lageruniversität des Darmstädter Internierungslagers Kunst. Hier begann Hagenlochers Konversion zum Künstler.

"Das schlimme Lager, in dem man gut leben konnte": So bezeichnet eine Magisterarbeit das größte Internierungslager der amerikanischen Besatzungszone, in dem SS-Angehörige und führende NSDAP-Politiker durch Selbstverwaltung zur Demokratie erzogen werden sollten. Die Internierten waren gut versorgt. Nicht anders auf dem Hohenasperg, wo der besagte Dr. Pülm Hagenlocher in Anatomie und Physiognomie unterrichtete, verbunden mit rassistischen Stereotypen.

Hagenlocher schickte an Ev Esspakete mit Butter und Weißbrot. Aber, wie Ingrid Hagenlocher-Riewe sagt: "Er stellt sich als schwer krank, untergewichtig, hinter Stacheldraht vegetierend dar." Dahinter steckte die Angst vor der Spruchkammer, dem Entnazifizierungs-Gericht, und wohl auch eine bewusste Strategie: "Mein Vater arbeitete darauf hin, dass er als haftunfähig entlassen wird", sagt Hagenlocher-Riewe. Durch mehrfache Berufung zögerte er ein Urteil hinaus.

Einen Persilschein stellte ihm Hildegard Schwarz aus, eine alte Freundin der Familie, die bestätigte, dass sein Bestreben "immer nur dem Schönen und Edlen galt". Sie war Ingrid Hagenlochers Patin bei der Aufnahme in die SS-Sippengemeinschaft und hatte ihr dabei eine Botschaft hinterlassen: Es gäbe "nur ein heiligstes Menschenrecht", das zugleich eine Verpflichtung sei, nämlich dass das "Blut rein erhalten bleibt. Diese Worte unseres Führers mögen dir Leitstern sein auf deinem Lebensweg!"

Bei jeder Annexion dabei

"An die Zeit, als mein Vater zuhause war, kann ich mich nur schwach erinnern", bekennt Ingrid Hagenlocher-Riewe. Ihre Familie wohnte in einem früheren "Judenhaus" auf der Gänsheide, in das unter anderem die Künstlerin Alice Haarburger eingewiesen worden war, bevor sie deportiert und ermordet wurde. Im Herrenzimmer ihres Vaters hing ein Hitler-Porträt, es gab Devotionalien wie den an verdiente SS-Angehörige vergebenen Jul-Leuchter, aber keine Kunst. Der Vater war nicht oft zuhause. Jedes Mal, wenn die Deutschen ein anderes Land annektierten, war er dort, sagt Hagenlocher-Riewe: in der Tschechoslowakei, Österreich, Norwegen, wahrscheinlich auch in Belgien.

Und, das ist sicher, 1943 in Mogilew, heute Mahiljou in Weißrussland. "Am 16. März 1943 musste er als Führer eines Sonderkommandos nach Russland", schreibt Ingrid Hagenlochers Mutter ihrer Tochter ins Poesiealbum. "Damit ist deinem Vater ein großer Wunsch in Erfüllung gegangen." Das Sonderkommando 8 sollte angeblich Partisanen bekämpfen, erschoss Zivilisten und noch im Ghetto verbliebene Juden. Ob Hagenlocher persönlich daran teilgenommen hat, lässt sich nicht mehr nachweisen, er war jedenfalls mitverantwortlich.

Im März 1945 tauchte er in einer Hütte im Schönbuch unter, vermutlich versteckt von der nationalsozialistischen Geheimorganisation Elsa. Dabei lernte er seine spätere Gattin Elvira Schneider kennen. Von den Franzosen festgenommen und wieder freigelassen, wurde er schließlich im Januar 1946 von den Amerikanern interniert. Mit dem Ende der Besatzungszeit hörten die Spruchkammerverfahren auf. Hagenlocher war ab 1951 wieder auf freiem Fuß und betätigte sich als Künstler.

Seine Werke unterzeichnete er mit der Hagal-Rune, die auch den SS-Ehrenring zierte, neben Totenkopf, Hakenkreuz und Siegrune. Noch in den 1970er-Jahren traf er sich in einem Hotel in Freiburg mit ehemaligen SS-Kameraden, erzählt Ingrid Hagenlocher, wo er wie andere den Ehrenring trug. Auf der Toilette zog er den Ring ab und ließ ihn liegen. Als ihm das auffiel und er ihn holen wollte, war er weg. Er habe sich furchtbar aufgeregt.

Das Bild des Kunstliebhabers bekommt Risse

Auf die Spur gekommen

"Weder zum Gebäude noch zur Gestapo war Wissen vorhanden", so beschreibt der Historiker Friedemann Rincke die Lage, als er 2011 im Haus der Geschichte Baden-Württemberg seine Stelle als Kurator des "Hotel Silber" antrat. Er begann, "möglichst viel über das Personal zusammenzutragen". Dabei stieß er auch auf Hagenlocher. In dessen Wirkungsstätten Reutlingen und Albstadt hat Rincke 2020 Vorträge über Hagenlochers "dunkle Vergangenheit" gehalten. Albstadt steht die eigentliche Aufarbeitung noch bevor. In Reutlingen spricht der Kunstverein, Nachfolger der Hans-Thoma-Gesellschaft, Hagenlochers NS-Täterschaft auf seiner Homepage offen an und fügt hinzu: Der Kunstverein Reutlingen distanziere sich klar von "jeder Form von nationalsozialistischem Gedankengut und Diskriminierungen aller Art".  (dh)

Hagenlochers Laufbahn als Ausstellungsmacher begann mit Künstlern, die schon in der NS-Zeit beliebt waren. Bald zeigte er zunehmend auch verfemte Künstler und solche, die Deutschland hatten verlassen müssen wie Ernst-Ludwig Kirchner oder Hans Purrmann. In der Städtischen Galerie Albstadt, deren Gründungsdirektor Hagenlocher war, galt ein Schwerpunkt Otto Dix. Der Industrielle Walther Groz, nach dem Krieg zwölf Jahre Oberbürgermeister von Ebingen, hatte bereits in der NS-Zeit Werke von Dix gesammelt. Dazu kamen nun vermehrt seinerzeit oppositionelle Künstler:innen wie Maria Caspar-Filser, Manfred Henninger oder Max Ackermann.

Immer wasserdichter wurde damit Hagenlochers Alibi. Reutlingen ehrte ihn 1978 mit der Verdienstmedaille. Albstadt richtete zu seinen 75. und 80. Geburtstagen Symposien aus, 1994 erhielt er die Staufermedaille des Landes, eine persönliche Ehrung durch den Ministerpräsidenten des Landes. Erwin Teufel, der ihm damals diese Auszeichnung verlieh, konnte sich auf Nachfrage 2020 an nichts erinnern.

Ein überzeugter NS-Täter legt sich einen Schafspelz als Künstler und Kunstliebhaber zu: Wie konnte er mit dieser Schizophrenie leben? Im schönen Bild des Kunstfreunds werden an zwei Stellen Risse erkennbar: So kam es in Meßstetten schon bald nach Gründung des "Museums für Volkskunst" zum Konflikt. Hagenlocher durfte "sein" Museum nicht mehr betreten, offenbar wegen seines herrischen, bestimmerischen Auftretens.

Eigenartig ist auch seine eigene Kunst. Von einer "Dominanz des Nächtlichen" schrieb der Kunstkritiker Günther Wirth in der Zeitschrift "Die Kunst und das schöne Heim", sicher ohne von Hagenlochers Vorgeschichte zu ahnen. Dieser hatte sich von Alfred Kubin einiges abgeschaut, dem Zeichner der "Dämonen und Nachtgesichte". Doch seine Blätter wirken seltsam leer, findet Ingrid Hagenlocher-Riewe, unterwürfig seine Frauenfiguren.

Bei manchen Blättern beschleicht sie der Verdacht, dass ihr Vater, bewusst oder unbewusst, seine Erlebnisse in Mogilew verarbeitet: nächtliche Wälder, galoppierende Pferde. Wirken nicht die Köpfe mancher Figuren wie Totenschädel? Hagenlocher-Riewe sammelt selbst Kunst. Was bei ihr an den Wänden hängt, sei ganz anders: lebendig, farbenfroh. Nicht diese düstere Leere.


Die Veranstaltung im "Hotel Silber" am heutigen Mittwoch, 12. Juli, beginnt um 19 Uhr (Dorotheenstraße 10, Stuttgart-Mitte). Walter Sittler liest aus Hagenlochers Briefen, kommentiert von Ingrid Hagenlocher-Riewe und Friedemann Rincke. Die Teilnahme an der Veranstaltung ist kostenlos, um Anmeldung unter veranstaltungen-hs--nospam@hdgbw.de. wird gebeten. Der Film "Sie kann ja nichts für ihren Vater" von Hermann Abmayr ist dort auf DVD erhältlich.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!