Am 28. Oktober 1938 klingelt es bei Familie Helfer in der Stuttgarter Metzlerstraße 1. Polizeibeamte in Zivil stehen vor der Tür, sie suchen Max Helfer. Der 42-jährige Kaufmann ist polnischer Jude. Zumindest rechtlich gesehen. 1896 wird er in der Nähe von Kattowicz geboren, das damals noch zu Österreich-Ungarn gehört und nach dem Ersten Weltkrieg Polen zugeschlagen wird. Helfer ist damit polnischer Staatsbürger geworden, doch nach Krieg und Gefangenschaft will er nicht dauerhaft in seinen Geburtsort zurück, sondern wandert nach Deutschland aus. In Stuttgart-Obertürkheim lässt er sich nieder, heiratet hier, baut mit seinem Bruder Sigmund eine kleine Kaufhauskette mit Filialen unter anderem in Fellbach und Stuttgart-Feuerbach auf, ist bestens integriert.
Dass es nach der Machtübernahme der Nazis 1933 immer schwieriger wird für ihn und seine Familie, dass der Antisemitismus immer aggressiver wird, das versucht er anfangs auszublenden, doch die Helfers haben es schon lange zu spüren bekommen, in immer neuen Schritten der Benachteiligung, Entrechtung und Repression, der bis dato letzte ist ein erzwungener Umzug. Erst am 27. Oktober sind sie in das Häuschen auf der Stuttgarter Gänsheide gezogen, nachdem ihnen ihre vorige Wohnung in der Uhlbacherstraße in Obertürkheim vom Vermieter, einem NSDAP-Mitglied, gekündigt worden ist. Doch nun, am Tag nach dem Umzug, erreichen die Repressalien eine neue Qualität. Max Helfer wird von den Beamten verhaftet. Er steckt sich etwas Waschzeug in eine Aktentasche, von seiner Frau Pauline und seinen beiden Töchtern Sigrid und Ingeborg verabschiedet er sich mit: "Ich komme bald wieder." Es ist das letzte Mal, dass sie sich sehen.
Max Helfer wird in das Polizeigefängnis II in der Büchsenstraße gebracht, mit vielen anderen Gefangenen auf engstem Raum zusammengepfercht. Darunter auch sein Bruder Sigmund sowie der in der Blumenstraße 27 wohnende Kaufmann Moses Zanger und seine beiden ältesten Töchter Recha und Ella. Letztere, die später im israelischen Beer-Shewa unter dem Namen Ruchama Neumann lebt, erinnert sich: "Wir wussten nicht, was weiter sein wird, wir hatten keine Ahnung." Im Polizeigefängnis bleiben sie nicht lange – schon am Nachmittag werden sie zum Bahnhof, von dort in der Nacht zum 29. Oktober in verschlossenen Waggons an die polnische Grenze gebracht.
Die Nazis wollen keinen "Klumpen staatenloser Juden"
Max Helfers Geschichte hat der Journalist Hermann G. Abmayr 2006 für das Buch "Stuttgarter Stolpersteine" recherchiert und aufgeschrieben. Seine Verhaftung und Deportation ist eine von mehreren Tausend am gleichen Tag im nationalsozialistischen Deutschen Reich. Doch wie kommt es dazu? Am 6. Oktober 1938 hat die autoritäre polnische Regierung eine Verordnung erlassen, nach der die Pässe polnischer Staatsangehöriger, die im Ausland leben, ab dem 30. Oktober den Prüfvermerk eines polnischen Konsulats benötigen, andernfalls werden sie ungültig. Der Vermerk – und damit der Fortbestand der Staatsbürgerschaft – kann versagt werden, wenn die betreffende Person seit mehr als fünf Jahren im Ausland lebt. Hintergrund ist, dass die Regierung sowohl die Flucht als auch die Massenausweisung von Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus dem Deutschen Reich nach Polen verhindern will.
Das wiederum sorgt auf deutscher Seite für Unruhe. Ernst von Weizsäcker, Staatssekretär im Auswärtigen Amt (und Vater des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker), fürchtet, dass "uns im Wege der Ausbürgerung ein Klumpen von 40–50.000 staatenlosen ehemaligen polnischen Juden in den Schoß fiele". Die, um die es dabei geht, leben meist schon Jahrzehnte in Deutschland, haben keinerlei Beziehung mehr zu Polen, die Jüngeren können nicht einmal die Sprache. Am 26. Oktober erlässt Heinrich Himmler, Reichsführer der SS und Chef der deutschen Polizei, ein Aufenthaltsverbot für polnische Juden, diese müssen nun innerhalb von drei Tagen das Deutsche Reich verlassen. Am gleichen Tag wird der polnischen Regierung ein Ultimatum gestellt, sie solle Inhaber polnischer Pässe auch ohne Vermerk einreisen lassen, andernfalls werde man die polnischen Juden noch vor Inkrafttreten des Gesetzes am 30. Oktober abschieben.
Auf eine Reaktion wird nicht lange gewartet. Am 27. Oktober schon befiehlt Gestapo-Chef Reinhard Heydrich, alle polnischen Juden sofort festzunehmen und in bewachten Sonderzügen nach Polen abzuschieben. Für den Gau Württemberg-Hohenzollern unterweist Joachim Boës, Leiter der im Hotel Silber untergebrachten Gestapo-Leitstelle in Stuttgart, am Abend des 27. Oktober per Funk die Polizeidirektionen in Ulm, Friedrichshafen und Heilbronn: Bis zum nächsten Tag um 16 Uhr sollen alle Juden mit polnischen Pässen ins Stuttgarter Polizeigefängnis eingeliefert werden, und damit das klappt, seien die Maßnahmen "unter Einsatz aller Kräfte der Sicherheits- und Ordnungspolizei und unter Zurückstellung anderer Aufgaben durchzuführen", so der Befehl, und: "Wegen der Kürze der Zeit wird die Festnahme durchweg noch im Laufe der Nacht vom 27. zum 28. Oktober 1938 durchgeführt werden müssen." Mit großer Härte wird dies umgesetzt, und dass es in vielen Fällen so erschreckend reibungslos gelingt, liegt auch an der seit 1935 aufgebauten zentralen Judenkartei.
Ungewissheit und miserable hygienische Bedingungen
Zwischen 15.000 und 17.000 Menschen sind es, die im ganzen Reich verhaftet werden, im Gau Württemberg-Hohenzollern sollen es mehrere Hundert gewesen sein – genaue Zahlen liegen nur für wenige Orte vor. In Stuttgart hatten 1933 noch 225 Juden polnischer Staatsangehörigkeit gelebt, 1938 dürfte es trotz vieler Auswanderungen immer noch eine große Anzahl sein. Mütter mit Kindern unter 15 Jahren sollten vorerst ausgenommen sein, doch scheint dies nicht konsequent gehandhabt zu werden. In den geschlossenen Waggons, in denen die Verhafteten per Eisenbahn zur polnischen Grenze gebracht werden, sind die Bedingungen so schlecht, dass ein neunjähriges Mädchen aus Stuttgart stirbt.
Am 29. und 30. Oktober kommen die Züge am polnischen Grenzort Zbaszyn an, die Ausgewiesenen werden von deutschen Sicherheitskräften in Richtung Grenze getrieben. Die polnischen Grenzbeamten, völlig überrascht, halten sie mit Waffengewalt auf. Zwar kann rund die Hälfte in den kommenden Tagen einreisen, doch mehrere Tausend Menschen müssen im Niemandsland warten oder eher vegetieren. Sie irren oft im Grenzgebiet herum, in den Grenzorten, ohne Lebensmittel, Schlafplätze oder sanitäre Möglichkeiten. "Wir waren drei Nächte auf den Koffern gesessen, mit Decken, auf der Straße", erinnert sich Ruchama Neumann, die damals noch Ella Zanger heißt. "Dann kam eine polnische Familie, sie hat uns eingeladen, bei sich zu übernachten." Die Zangers nehmen an und schlafen auf Säcken in der Küche.
Später werden die Ausgewiesenen in improvisierten Internierungslagern untergebracht, in denen allerdings miserable hygienische Bedingungen herrschen, eine ungewisse Zukunft vor Augen. Erst im Januar stoppt das Deutsche Reich nach heftigen polnischen Protesten die Aktion, und Warschau will im Gegenzug die Deportierten passieren lassen. Manche leben aber noch Monate im Internierungslager – Sigmund Helfer etwa bis Mitte Juli 1939.
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