Wer in diesen Tagen die Verhandlungen der 30. Zivilkammer am Stuttgarter Landgericht (LG) verfolgt, wähnt sich eher auf einem orientalischen Basar denn in einem Gerichtssaal. Denn unter den Augen von Justitia wird gefeilscht, was das deutsche Zivilrecht hergibt. Es geht um Fußmatten und Sitzbezüge. Gehören sie zur Grundausstattung eines LKWs? Oder zählen sie zur Sonderausstattung, die extra zu bezahlen ist? Und wie verhält es sich mit dem Kfz-Brief? Ist das Zulassungsdokument im Kaufpreis inklusive? Oder sind dafür zehn Euro auf den Brutto-Listenpreis eines Sattelschleppers oder Müllwagens anzurechnen, der je nach Ausstattung mit 100 000 Euro zu Buche schlägt? Gestritten wird auch über Grundsätzliches: ist ein Feuerwehrauto eigentlich ein Lastkraftwagen? "Nein, da es nach seiner Funktion her zum Löschen und nicht zum Transport von Lasten dient", meint ein Anwalt, der in einem der Verfahren den Münchner LKW-Hersteller MAN vertritt.
2011 machte MAN das Kartell öffentlich
In den Verfahren geht es um Schadensersatz, den die Käufer mittelschwerer und schwerer LKW von Daimler, Iveco, DAF, MAN, Scania und Volvo/Renault fordern. Nach Feststellung der EU-Kommission hatten diese Hersteller zwischen 1997 und 2011 ein Kartell gebildet und so über 14 Jahre hinweg ihre Verkaufspreise für mittelschwere (Nutzlast sechs bis 16 Tonnen) und schwere Lastkraftwagen (Nutzlast über 16 Tonnen) abgesprochen. Zusätzlich haben die Hersteller auch den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten für die Einführung von Emissionstechnologien nach den Abgasnormen Euro 3 bis Euro 6 an Endkunden untereinander abgestimmt.
Deswegen hatte die EU-Kommission im Juli 2016 Rekordgeldbußen in Höhe von fast drei Milliarden Euro verhängt. Sie wurden von den Herstellern im Vergleichsweg akzeptiert. Mit rund 1,009 Milliarden Euro kassierte der Daimler-Konzern die höchste Strafe. Der Münchner Mitbewerber MAN, der das Kartell 2011 an die EU verpfiffen hatte, kam als Kronzeuge ohne Strafe davon. Bis heute behaupten die Hersteller, es habe sich bei alledem lediglich um einen "wettbewerbsunschädlichen Informationsaustausch" gehandelt.
Seitdem rollt eine Klagewelle durch Deutschland, die aufgrund der Rechtslage bei den Gerichtsständen der Kartellanten anbrandet. So auch am Stuttgarter Landgericht, wo seit 2017 entsprechende Verfahren von der 30. Zivilkammer, einer für Kartellschadensersatzklagen zuständigen Spezialkammer, abgearbeitet werden. "Aktuell sind rund 250 Klagen anhängig, die sich hauptsächlich gegen Daimler, aber auch gegen MAN und Iveco richten", erläutert eine Gerichtssprecherin.
Auf Klägerseite stehen in der Regel Unternehmen, von der Einzelfirma bis zum international tätigen Großunternehmen. Oft schließen sich aus Kostengründen mehrere Parteien zusammen, um ihre Ansprüche in nur einer Klage geltend zu machen. So begann erst vor wenigen Tagen am Münchner Landgericht der bislang größte Prozess gegen die LKW-Kartellanten: 3200 Spediteure fordern in einer Sammelklage von den Lastwagenherstellern MAN, Daimler, DAF, Volvo/Renault und Iveco insgesamt 867 Millionen Euro Schadensersatz samt Zinsen. Die Deutsche Bahn hat bereits angekündigt, ebenfalls zu klagen. Der Staatskonzern, an den 40 weitere Unternehmen ihre Forderungen abgetreten haben, verlangt Schadenersatz von rund einer halben Milliarde Euro.
Gegen MAN klagt Stuttgart alleine – und gegen Daimler gar nicht
Zu den Klägern gehört auch die öffentliche Hand, sprich Kommunen, Bundesländer und der Bund. In einem der größten Verfahren dieser Art klagen derzeit 27 Gemeinde, Städte und Zweckverbände aus Baden-Württemberg gemeinsam am Stuttgarter Landgericht. Unter anderem Reutlingen, Ostfildern, Ludwigsburg, der Landkreis Böblingen und die Stadtwerke Karlsruhe hoffen, von Daimler, MAN und Iveco zu viel bezahltes Geld erstattet zu bekommen. Insgesamt 828 LKWs sollen ihnen die Hersteller zu überteuerten Preisen verkauft haben. Der Streitwert beträgt 4,2 Millionen Euro.
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Stefan Urbat
am 19.11.2019