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Schimmelei

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Das Schwarzwälder Kaltblut ist ein baden-württembergisches Kulturgut und steht auf der Liste der gefährdeten Nutztierrassen. Die wenigen Pferde, die es noch gibt, sind vor allem braun mit heller Mähne. Aber in einem winzigen Dorf an der Schweizer Grenze lebt ein Pferd mit weißem Haar. Flora – die letzte Schwarzwälder Schimmelstute der Welt. Landvermessung Teil sieben.

Schwarzwälder Kaltblut: Flora, die Schimmelstute, mit ihren Artgenossen, die fuchsfarben sind und eine helle Mähne tragen.

Das Schwarzwälder Kaltblut ist ein baden-württembergisches Kulturgut und steht auf der Liste der gefährdeten Nutztierrassen. Die wenigen Pferde, die es noch gibt, sind vor allem braun mit heller Mähne. Aber in einem winzigen Dorf an der Schweizer Grenze lebt ein Pferd mit weißem Haar. Flora – die letzte Schwarzwälder Schimmelstute der Welt. Landvermessung Teil sieben.

Bierbronnen ist ein Ort, in dem sich der Weihnachtsmann verstecken könnte, und keiner würde ihn finden. Das Dorf liegt nicht weit von der Grenze zur Schweiz, sechzig Kilometer bis Basel, zweihundert bis Stuttgart, an einem Berghang im Schwarzwald, weit, weit draußen im Land. Hier gibt es knapp zwanzig Häuser, drei Straßen, die zwischen saftigen Wäldern und Feldern liegen, vielleicht zwei Dutzend Einwohner und ein paar Pferde, die auf den hügeligen Koppeln rundherum durch den Nebel streifen und genüsslich ein Grasbüschel nach dem anderen verspeisen.

Dort stehen Frenzi und Franzi und Frauke und noch ein paar ungestüme Fohlen mit wuscheligem Winterfell, allesamt Schwarzwälder Kaltblüter, klassisch fuchsfarben – braun mit heller Mähne und hellem Schweif. Dazwischen steht Flora. Flora ist zwei Jahre alt, rund und schwer mit kugeligem Po, breiter Brust und stämmigen Beinen, ein Prachtweib. Und sie hat weißes Fell, wogegen der Rest ihrer Rassevertreter aussieht wie die dunklen Fohlen, die um sie herumtollen. Flora ist die letzte, die allerletzte Schwarzwälder Schimmelstute der Welt.

Dabei gehört dieses kleine Pferd zu Baden-Württemberg wie der Mercedes oder der Bollenhut. Schon im Mittelalter wurden die Schwarzwälder Kaltblüter gezüchtet – vor allem für die Arbeit in den Wäldern. Die "Wälderpferde", so nannte man die robusten, starken und freundlichen Tiere. Aber als in den Fünfzigern die Technik Einzug hielt in der Landwirtschaft und auf dem bei Pferdefreunden berühmten St. Märgener Rossfest plötzlich auch Traktoren gesegnet wurden, brauchte sie keiner mehr. In den Siebzigern waren die kleinen Pferde fast ausgestorben, und wäre nicht Roy Black in den Film "Schwarzwaldfahrt aus Liebeskummer" werbewirksam und heimatverbunden mit zwei der verbliebenen Schwarzwälder vor der Kutsche am Schluchsee vorbeigetrabt, wären sie heute vielleicht vergessen.

Die Farbe Weiß ist bei den Züchtern nicht beliebt

Gerettet hat sie letztlich das Landwirtschaftsministerium, das beschloss, die Zucht zu subventionieren und die Tiere wenn schon nicht als Gebrauchspferde, so doch wenigstens als baden-württembergisches Kulturgut zu erhalten. Mittlerweile steht die Rasse sogar auf der Liste der gefährdeten einheimischen Nutztierrassen. Und weil das so ist, haben die Pferdchen es trotz allem ins 21. Jahrhundert geschafft. Und mit ihnen die weiße Flora vom Reichmannhof.

Züchter Karlheinz Reichmann hofft, dass Flora noch ein weißes Stutfohlen zur Welt bringt.

Flora ist an einem Freitag geboren, am 15. Mai 2009, Sternzeichen Stier, "mit fleißigem Schritt und fleißigem Trab" und der Angewohnheit, mit dem Hintern an der Wand im Stall zu stehen. Sie ist ein bisschen sensibler als ihre dunklen Artgenossen, sagt ihr Züchter Karlheinz Reichmann, ein freundlicher, schüchterner Mann mit grober Latzhose und einer Schiebermütze aus Breitcord auf dem Kopf. Flora ist nicht ganz einsachtundvierzig groß, entspricht also eigentlich nicht dem Standard der Schwarzwälder Zucht. Aber wen interessiert das schon, wenn er die letzte Schwarzwälder Schimmelstute vor sich stehen hat? Keinen.

Leider interessiert sich sowieso fast keiner für dieses seltene Pferd. Die Farbe, tja, die ist nicht sonderlich beliebt unter den anderen Züchtern. Reichmann ist das egal. "Wenn der Schwarzwälder ein Kulturgut ist, dann gehört auch der Schimmel dazu."

Die Hengste sind leider alle kastriert worden

Die Reichmann'sche Schimmelfamilie ist eigentlich ein Zufall. Als die Rasse darbend am Boden kroch und keiner mehr ein Kaltblut haben wollte, weil sie weder gut springen können noch besonders elegante Dressurpferde sind, fokussierten sich die Pferdezüchter aus Liebhaberei auf die dunkle Variante mit braunem Fell und hellen Mähnen. Die Reichmanns nicht.

Der Vater von Karlheinz Reichmann hatte nach dem Krieg nur noch zwei Pferde übrig. Eines davon war eine weiße Stute, die ebenfalls Flora hieß. Die bekam ein Stutfohlen namens Fortuna, die wiederum eine Famina, dann kam noch eine Flora, noch eine Fortuna und noch eine Flora, zwischendurch ein paar Hengstfohlen, die ebenfalls weiß wurden – Max, Manuel und Dirk, der heute mit 25 Jahre uralt ist für ein Pferd und dessen Fell sich mittlerweile zu kleinen weißen Locken kräuselt. Aber die Männer sind alle kastriert, weil kein Mensch seine Schwarzwälder mit einem Schimmel decken möchte.

Die drei kastrierten Schwarzwälder Schimmelhengste mit dem kleinen, dunklen Elan, dessen Vater ein andalusischer Schimmel ist.

Um nicht immer auf eine einzige Stute angewiesen zu sein, hatten Reichmann und der Schwarzwälder Pferdezuchtverband versucht, den weißen Andalusierhengst Esperado mit wallender Mähne und dunklen, feurigen Augen mit einer von Reichmanns Schimmelstuten zu kreuzen. Das klappte nur bedingt: Heraus kam Elan, ein zierlicher Dunkelbrauner, der nun zwischen seinen dicken, weißen Männerkumpels steht und ein paar Grashalme aus dem Schwarzwaldboden rupft. Einzige Hoffnung für den weißen Nachwuchs bleibt also Flora. Sonst? "Ist es vorbei mit der einzigen Schimmellinie", sagt Reichmann. Dann würde das Kulturgut eine ganze Farbe einbüßen.

Immer nur ein weißes Fohlen, dann sind alle Stuten verunglückt

Das Tragische: alle Reichmannstuten haben jeweils nur ein einziges weißes Fohlen bekommen, dann sind sie verunglückt. Die eine starb an einer Kolik, die andere stürzte einen Hang hinunter, und Karlheinz Reichmann sieht heute immer noch traurig aus, wenn er davon erzählt, wie er seine Fortuna vor einem Jahr tot auf der Weide gefunden hat.

Wenn man Karlheinz Reichmann fragt, ob er seine Flora verkaufen würde, dann bekommt die Haut um seine Augen eine Menge kleiner Lachfalten. Die Falten sagen: "Niemals." Wo käme er denn da hin, wenn er die letzte Schimmelstute ihrer Art irgendwem nach irgendwohin verkaufen würde und dann womöglich noch einem, der nicht mal im Schwarzwald lebt. Keinesfalls, sagen diese Falten.

Reichmann selbst sagt: "Ich hab noch nie drüber nachgedacht, was sie kosten könnte. Aber ich glaube, sie ist unbezahlbar." Karlheinz Reichmann streicht seinem Schimmel über den mächtigen Hals. Flora schnaubt ein bisschen Rotz durch die Nüstern an diesen nebligen Tag. Und irgendwie sieht sie aus, als würde sie denken: "Warum zum Teufel hat mir von all diesen Leuten hier keiner eine Karotte mitgebracht? Wo ich doch die letzte Schwarzwälder Schimmelstute der Welt bin."


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