Prominente Stuttgarter raten zum Durchatmen. In den Tagen nach dem Volksentscheid wagen sie einen Ausblick in die Zeit danach. Die Politik werde nichts ändern, wohl aber die Menschen, sagen die einen; langwierige Diskussionen über Stuttgart 21 sollten jetzt beendet werden, meinen die anderen.
Ein kluger Schachzug
von Jean-Baptiste Joly, Literatur- und Kunstexperte
"Une querelle d'Allemand" nennt der Franzose einen nicht enden wollenden Streit, dessen Argumente ins Absurde geraten. Nun hat der Streit ein Ende genommen, und das ist auch gut so! Die Befürworter des Projekts lachen aber vielleicht zu früh, denn es ist immer noch nicht gesagt, dass die Zukunft ihnen recht geben wird: Die Konfrontation zwischen Plänen, Kostenvoranschlägen und deren Umsetzung in die Realität könnte härter werden als die zwischen Gegnern und Befürwortern.
Auch wenn ich dem Optimismus der Bahn nie wirklich vertraut habe, konnte ich in den letzten Jahren nicht umhin, an das Schicksal von französischen Städten wie Aix-en-Provence oder Senlis zu denken, deren Bürger Mitte des 19. Jahrhunderts die Eisenbahn abgelehnt und sich dadurch von der Anbindung an die industrielle Revolution abgeseilt haben. Ein solches Schicksal wünsche ich der Stadt und dem Land nicht. Vielleicht kam gestern die bestmögliche Lösung heraus, ein anspruchsvolles Projekt, das "kritisch und konstruktiv" und ohne triumphierende Töne von der Regierung begleitet wird?
Die Durchführung des Volksentscheids war schließlich ein kluger Schachzug: Der Streit ist in der Regierung selbst beigelegt, der Ministerpräsident hat sich einen neuen Spielraum verschafft, da er keine Rücksicht mehr auf sein Wahlversprechen nehmen muss, Stuttgart 21 zu verhindern. Er hat das Ergebnis souverän angenommen und wirkte vor allem, im Gegensatz zu seinen Gegnern, nicht rechthaberisch.
Den Blick für die Menschen daneben verloren
von Peter Conradi, Architekt
Wir haben uns bei den Demonstrationen, diesen Social Events, zu wohl gefühlt und darüber den Blick für die Menschen daneben verloren. Das gilt insbesondere für die Menschen auf dem Land, um die sich die Gegner des Projekts zu spät gekümmert haben.
Für die Zukunft heißt das, dass wir von den Ritualen der Demonstrationen wegkommen beziehungsweise zumindest eine Pause einlegen müssen. Jetzt müssen sich Sachverständige in Gruppen zusammenfinden, die den Bau von Stuttgart 21 kritisch begleiten. Im Übrigen bin ich davon überzeugt, dass das Projekt scheitern wird. Aus technischen und finanziellen Gründen und am Unvermögen der Bahn.
Zu viel, worüber man sich empören muss
von Simone Eberle, Rechtsanwältin, Juristen zu Stuttgart 21
Ich werde auch weiterhin meinen Überzeugungen treu bleiben und mich auch zukünftig für das einsetzen, was mich bewegt und über was ich mich empören muss.
Dadurch, dass die Mehrheit im Land, die zur Volksabstimmung gegangen ist, das Projekt S 21 befürwortet, werden die Ungerechtigkeiten, Unzulänglichkeiten und Ungereimtheiten des Vorhabens nicht aus dem Weg geräumt.
Es gibt viel zu viel, worüber man sich empören kann und muss. Ich weiß, ich bin mit meiner Haltung nicht alleine.
Die Politik wird die Verhältnisse nicht ändern, aber die Menschen werden es. Wir alle haben eine gesellschaftliche Verantwortung, die es wahrzunehmen gilt. Ich bin dabei.
Auf die nächste Leiche warten, die da hochgeschwemmt wird
von Gangolf Stocker, Exsprecher des Aktionsbündnisses gegen S 21
Die Enttäuschung ist natürlich riesengroß. Aber es hilft auch nicht, jetzt über die ungleichen Mittel im Abstimmungswahlkampf zu jammern oder gar darüber zu spekulieren, was die Menschen wohl dachten und wie viel sie über S 21 wussten, also diejenigen, die mit Nein stimmten, und ob nicht diese Sch...plakate mit den "1,5 Mrd." und dem "Fertigbauen" und der Schuster mit seinem Brief ... Ach. Nein. Hilft alles nix.
Aber: unsere Argumente gegen Stuttgart 21 wurden dadurch ja nicht falsch, und das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit wurde dadurch auch nicht aufgehoben. Sind unsere Argumente richtig, müssen wir ja nur den Baufortgang abwarten und die nächste Leiche, die da hochgeschwemmt wird. Gerade die Geduld war eine unserer wichtigsten Stärken. Noch ist Stuttgart 21 ja nicht gebaut. Kann es vielleicht sein, dass dem Grube nun angst und bange wird, weil er das Ding nun bauen soll. Vielleicht ruft er mich demnächst an – meine Telefonnummer hat er ja – und bittet darum, alles zu tun, damit er nicht weiterbauen muss?
Ein Gutes hat ja das Abstimmungsergebnis. Der Tunnelbohrmaschinenbauer Herrenknecht bleibt in Schwanau und geht nun doch nicht in die Schweiz. So, jetzt wieder ernsthaft: wir werden beraten, wie nun der Widerstand gegen Stuttgart 21 weitergehen soll. Als Demokraten akzeptieren wir nicht nur Abstimmungsniederlagen, sondern wollen auch eine demokratische Legitimation für unser weiteres Handeln.
Niemand kann sagen, er habe nichts gewusst
von Petra von Olschowski, Rektorin der Kunstakademie Stuttgart
Konflikte schlagen Wunden. Der Konflikt um Stuttgart 21 hat auf verschiedenen Ebenen Spuren hinterlassen: im Miteinander der Menschen; im Dialog zwischen Politik und Bürgern; im Bild dieser Stadt. Dass nun jahrhundertealte prächtige Bäume fallen werden – Hunderte von ihnen –, steht als Symbol für einen schmerzhaften Prozess, der mit der Volksabstimmung nicht abgeschlossen sein wird. Die traurigen Tage stehen noch bevor.
Die Geschichte wird irgendwann zeigen, wer in welchen Punkten die richtige Einschätzung gehabt hat. Das gilt für beide Seiten. Gegner hier, Befürworter dort. Sicher ist im Moment nur, dass Widersprüche und Kostenfragen nicht nach einer Abstimmung geklärt sind. Daran, wie sich die Bahn, Land und Stadt verhalten, wird man erkennen, ob sich wirklich etwas verändert hat.
So viel aber steht jetzt schon fest: Jeder Bürger, unabhängig davon, ob und wie er abgestimmt hat, wird in den nächsten Jahren mit seiner Entscheidung konfrontiert werden. Und niemand kann sagen, er habe nichts gewusst. Es ist ein Erfolg der Bewegung, dass die Verantwortung bei jedem Wahlberechtigten liegt, der in diesem Land lebt. Die Bürger haben mehrheitlich entschieden. Sie werden aufmerksam beobachten, was weiter passiert.
Ganz, ganz tief durchschnaufen
von Peter Grohmann, Begründer des Vereins Die Anstifter
Jetzt ganz, ganz tief durchschnaufen! Weltgeist in die Birne, also: Gaishirtle, selbst gebrannt, also garantiert nicht gepanscht. Die einen wollen die Zelte im Schlossgarten abreißen, die anderen anzünden: Es gibt also doch noch Alternativen. Die Frage ist nur: Wohin mit den Wohnsitzlosen und Drogenkranken, die uns die gute Gesellschaft hinterlassen hat? Doch nicht gleich mit anzün...? Nein. Denn der Gegner an sich ist auch nicht dümmer als die Befürworterin: Beide brauchen sich wie das Christkind den Punsch oder der Kostendeckel den Gipskeuper.
Vor Weihnachten die Demokratie zu verbieten wäre voreilig. Gut Ding will Weile, bis es sich hochschaukelt zum D-Day. Bleibt die Frage: Bleiben sie oben, meine Freunde? Oben, auf den Straßen und Plätzen der Stadt, oben mit ihrem Selbstbewusstsein, oben mit ihrer neu erworbenen Kompetenz in Sachen Bürgergesellschaft, mit ihrem Engagement? Oder ziehen sie sich zurück, weil die Luft im Stuttgarter Kessel zu dick wird?
Die "besseren Kreise" haben gegen sie entschieden – und für Unsicherheit, Vergeudung von Ressourcen, Verschleuderung von Milliarden gestimmt: Nein zum pünktlichsten Bahnhof der Republik kann nur jemand sagen, der den Fahrplan nicht kennt und vor den Fakten die Ohren verschließt. Auch der Mehrheit kann mal ein Licht aufgehen, vielleicht am vierten Advent. Das Jahr wird nicht verraten.
Gefühlte Mehrheit ist nicht tatsächliche Mehrheit
von Susanne Eisenmann, Kulturbürgermeisterin der Stadt Stuttgart
Baden-Württemberg hat entschieden und bei der ersten Volksabstimmung nach 58 Jahren die langwierige Diskussion um S 21 für beendet erklärt. Und damit auch bewiesen, dass jene "gefühlte Mehrheit" der Projektgegner eben nicht mit tatsächlicher Mehrheit gleichzusetzen ist.
Der Weg der Volksabstimmung war richtig, da nur so sichtbar werden konnte, über welche Akzeptanz das Projekt bei den Bürgern wirklich verfügt. So richtig der Weg war, so klar ist auch das Ergebnis. Es lässt eben keine Spielräume mehr für Interpretationen derjenigen, die gegen S 21 gestimmt haben. Wer dieses Ergebnis nicht akzeptiert, verhält sich undemokratisch und hält sich nicht an die demokratischen Spielregeln, die stets eingefordert wurden.
Und all jene, die an der Stärke unserer demokratischen Ordnung gezweifelt haben, sind am 27. November 2011 vom Gegenteil überzeugt worden. Schon allein deshalb ist es für alle Bürgerinnen und Bürger ein hervorragendes Ergebnis!
Die große Konferenz der Tiere
von Hannes Rockenbauch, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen S 21
Wir brauchen jetzt die große Konferenz der Tiere. Keine Einzelaktionen, die in Hinterzimmern ausgeheckt werden, sondern eine offene Diskussion darüber, wie der zivile friedliche Ungehorsam fortgesetzt werden kann. Deshalb plädiere ich auch dafür, die Montagsdemos weiterzuführen. Wir werden die Bahn genau beobachten und uns zu Wort melden, wenn sie gegen Gesetze oder ihre eigenen Richtlinien verstößt. Dasselbe gilt für die S-21-Vertragspartner von Bund, Land, Region und Stadt. Und wir werden daraus lernen, wie uns eine gigantische Machtmaschine aus Politik und Geld zugesetzt hat.
Das haben wir unterschätzt. Die CDU hat nun mal 58 Jahre Erfahrung im Wahlkampf. Jede Bürgerbewegung, die mit einem solchen Apparat zu tun hat, wird es künftig schwer haben. Aber er wird unseren Widerstand nicht brechen.
Eine perfekte Geschäftsidee
von Beate Seidel, Dramaturgin
Als am 18. März 1990 die ersten demokratischen Wahlen in der noch existenten DDR stattfanden und am Ende das Wahlergebnis so eindeutig die CDU als die stärkste Partei auswies, war ich enttäuscht: Kanzler Kohls Versprechen der blühenden Landschaften hatte also im Osten funktioniert – für die einen war es ein glühender Hoffnungsstreif am Horizont, für die anderen eine perfekte Geschäftsidee. Die Folgen sind bekannt. Ich machte damals die Erfahrung, dass demokratische Mehrheitsentscheidungen nicht unbedingt mit meinen Wünschen einhergehen müssen und ich das zu akzeptieren habe.
Daran erinnerte ich mich am Sonntagabend. Der Bahnhof wird also gebaut! Oder doch nicht? Weil's ja vielleicht für Stadt und Land zu teuer wird und es der Regierung um Kretschmann gelingt, Wort zu halten und die 4,5-Milliarden-Kostengrenze, das Landessäckel betreffend, nicht zu überschreiten?
Ich bin vorsichtig geworden: Die Gewinner um Bahnchef Grube gerieren sich wie Feldherren, die eine Schlacht gewonnen haben. (Das haben sie ja auch.) Sie wollen die Verlierer zur Kasse zwingen. Bleibt die Frage, inwieweit diese sich dazu auch zwingen lassen müssen. (Es sei denn, sie stellten die gerade erst errungene Regierungsmacht zur Disposition ...) Die bekannten Spielregeln zwischen Wirtschaft und Politik, das machen jedenfalls die Gewinner des Volksentscheids deutlich, greifen. Und es hat Konsequenzen, sich ihnen zu verweigern. Konsequenzen, die man dann tragen muss.
Ein Traum
von Werner Schretzmeier, Leiter des Theaterhauses Stuttgart
Ein Traum: Die Volksabstimmung hat landesweit einen knappen, aber soliden Erfolg für die Stuttgart-21-Gegner gebracht. Stuttgart als Beispiel endete 53 zu 47 Prozent gegen die Milliardengrube. Jubel bei der Bürgerbewegung für den Kopfbahnhof. Wut bei den Befürwortern und Lust sich zu rächen. Rechtsgutachten belegen am ersten Tag nach der Volksabstimmung die Legitimität des Bauprojektes. Die siegreichen Gegner berufen sich auf die Entscheidung des baden-württembergischen Volkes. Die Vereinigung von CDUSPDFDPIHKVDAVDKAOK und so weiter bauen weiter, da die Volksabstimmung keine gültigen Verträge außer Kraft setzen kann und das Quorum knapp verpasst wurde. Die Landesregierung sitzt zwischen allen Stühlen. Eine Zerreißprobe beginnt. Gerichte entscheiden, wie die Jahre davor, zugunsten der Befürworter. Die Volksabstimmung wird zur Farce. Aus der Traum!
6 Kommentare verfügbar
Martha
am 03.12.2011Man muss sich schon vergegenwärtigen dass jetzt…