Getrunken wird überall: bei den Siegern aus Lust, bei den Verlierern aus Frust. Auch das könnte ein Fazit des Sonntagabends sein, der doch viel mehr Folgen haben wird als nur Katerstimmung. Die Kontext:Wochenzeitung hat beide Parteien des S-21-Konflikts nach der Volksabstimmung besucht.
Die Sektgläser klirren, Menschen strahlen freudetrunken. "Oben bleiben! Oben bleiben!", ruft die Gruppe an den Biertischen. Das passt so gar nicht hierher an diesem Sonntagabend im Landtag: Soeben wurden die Ergebnisse bekanntgegeben, die Mehrheit der Baden-Württemberger will, dass der Hauptbahnhof der Stadt tiefergelegt wird und die Landesregierung nicht aus der Finanzierung von Stuttgart 21 aussteigt. Doch die Gruppe hier im zweiten Stock des Landtagkastens wird nicht müde, "Oben bleiben!" zu rufen, den Slogan der Gegner des unterirdischen Projekts.
Die Damen und Herren in Anzug und Kostüm feuern ihren Anführer an, der auf eine Bierbank in ihrer Mitte gestiegen ist und sich nun für seinen Erfolg feiern lässt: Es ist Peter Hauk, der Vorsitzende der CDU-Fraktion. Und auch wenn die CDU doch immer im Schatten der Befürworter von der SPD stand, Hauk kann sich heute im Glanz des errungenen Abstimmungsergebnisses sonnen. "Die Union ist die einzige Kraft, die Rückgrat gezeigt hat in dieser Diskussion!", sagt er und lobt seine Partei. Er kenne keine zehn Abweichler, man habe sich als Volkspartei gezeigt, und das solle auch der Weg der CDU in der Zukunft sein.
Das Abstimmungsergebnis möchte er nicht parteipolitisch deuten, nicht für die CDU. Für die Grünen sei es aber eine eindeutige Niederlage gewesen. Zu diesem deutlichen Ergebnis – fast 57 Prozent sind für die Finanzierung durch das Land – habe seine Partei wesentlich beigetragen, weil es ihr gelungen sei, die schweigende Mehrheit zu mobilisieren. Exakt acht Monate vorher war seine Partei mitsamt ihrem Bulldog Stefan Mappus der Bank der Mächtigen verwiesen worden. Nun hat das Volk wieder abgestimmt, nun hat die CDU endlich wieder etwas zu feiern. Und gefeiert wird nicht nur im Landtag.
Wie Sieger aussehen
Alexander Hald hätte es sich sicher nicht träumen lassen, dass er bei den Siegern der Volksabstimmung zum gefragtesten Mann des Abends werden würde, zumindest für ein paar Minuten. Dass er sogar Wolfgang Schuster, den umjubelten Star im Stuttgarter Ratskeller, in den Schatten stellen würde. "Wolfgang! Wolfgang!", tönt es durch die altehrwürdige Lokalität, doch nachdem Hald seine Kisten öffnet, gibt es kein Halten mehr. 17 Minuten Ruhm – etwa so lange dauerte es, bis dem 34-jährigen Pro-Stuttgart-Aktivisten alle 106 T-Shirts aus den Händen gerissen waren. Die Feiernden schubsen sich wie im Basar, wenn es etwas umsonst gibt, greifen in die drei Kisten und streiften sich "ihr" T-Shirt in S, M und L über Hemden und Krawatten, über Blusen und feine Pullover. "So sehen Sieger aus", steht alsbald auf der breiten Brust vieler feiernder S-21-Befürworter, garniert mit einem ICE, einem modernen Bahnhof und einer Frau. "Wir drucken nach, wir drucken nach", beruhigt der junge Mann von der Interessengemeinschaft Bürger für Baden-Württemberg diejenigen, die leer ausgegangen waren.
"Wir haben uns so lange beschimpfen lassen müssen", sagt Hald trotzig. Nun hatte man fast den Eindruck, als würde im Ratskeller die Wiedergeburt der CDU gefeiert. Als wäre die Schmach vom 27. März vergessen, als die Christdemokraten nach 58 Jahren Herrschaft vom Volk in die Opposition geschickt wurden und den Grünen und Roten Platz machen mussten. Nun schien die Welt für Schwarz-Gelb wieder in Ordnung. Wenigstens für ein paar Stunden Siegestaumel.
Die Luft ist dick im Graf-Eberhard-Zimmer, Bier fließt reichlich, die Stimmung ist gelöst. Hier steht zwar niemand auf den Tischen, und getanzt wird auf ihnen schon gar nicht. Es stehen allerdings nur ein paar Tische im Raum, ganz an den Rand geschoben für die Älteren unter den Konservativen. Der Sekt ist schon mal kalt gestellt. Den meisten ist allerdings mehr nach Bier. Jedes Abstimmungsergebnis, das über den Bildschirm flimmert, wird flammend kommentiert. Lauter Jubel, als die Ergebnisse der einzelnen Städte einlaufen.
Freude bei der CDU über Niederlage der Grünen
Dass manche Kreise auch für den Ausstieg aus dem Milliardenprojekt gestimmt hatten, wird nur eben so zur Kenntnis genommen. "Lörrach, Lörrach, wer kennt schon Lörrach?" Der grüne S-21-Gegner und Tübinger OB Boris Palmer wird mit Pfui-Rufen bedacht, "Lügenpack" wird skandiert. Als dann das Ergebnis aus Stuttgart zu lesen ist, jubeln die Befürworter wie bei einem alles entscheidenden Ausgleichstor, der Ratskeller scheint sich für ein paar Stunden in einen Fanblock zu verwandeln. Manchmal sind Jubel und Arroganz Brüder.
Susanne Wetterich versagt sich auch in der Stunde des Triumphs Häme. Die Sprecherin des Dachverbands der S-21-Befürworter "Wir sind Stuttgart" weiß um den tiefen Graben, der sich mitten durch die Landeshauptstadt zieht. Fast 69 Prozent der Stuttgarter haben abgestimmt, der Vorsprung der Befürworter ist hauchdünn, die Stadt bleibt gespalten. "Hermann-weg-Rufe sind nicht mein Stil", sagt die frühere Sprecherin des Stuttgarter OB. Die Freude allerdings kann die Frau im roten Kostüm nicht leugnen. Um 17 Uhr war sie schon in den Ratskeller geeilt, um noch einen Platz zu ergattern. Und ihre Pläne für den weiteren Abend standen da auch schon fest: "Bei einem Glas Rotwein mit meinem Mann anstoßen." Wetterich weiß, dass nach dem Jubel die Arbeit steht. Und womöglich die Erkenntnis, dass es doch nicht S 21 war, was die CDU bei der Landtagswahl zu Fall gebracht hat.
Derweil stört es drinnen im Saal keinen, dass die Mikroanlage die Worte eher verschluckt als verstärkt. Stuttgarts OB Wolfgang Schuster wird immer noch gefeiert wie ein Fußballer, der nach langer Verletzungspause wieder aufläuft. "Ohne Ihr Engagement hätten wir das nicht geschafft", lobt Schuster seine Anhänger, erinnert – unterstützt von "Hermann-weg"-Rufen – an die Förderungspflicht durch das Land, freut sich darauf, im Schlossgarten "gemeinsam Bäume zu pflanzen und familienfreundlich zu planen", und eilt weiter in den Landtag zu weiteren Interviews. "Jetzt wird er wieder kandidieren als OB", orakeln die Menschen an den Stehtischen am Rande. Ein Gefühl von "Wir sind wieder wer" hängt in der Luft. Keinen stört es, dass das Bahnhofsprojekt wohl die 4,5-Milliarden-Schallgrenze durchbrechen wird, wie dies S-21-Sprecher Wolfgang Dietrich zuvor schon im Landtag andeutete.
Die Sieger wollen die Verlierer treffen
Gegen halb zehn ist es schon lichter geworden im Graf Eberhard. Platz für die Freunde des tiefergelegten Bahnhofs, die auf mitgebrachte Trommeln klopfen, als wollten sie eine Sonntagsdemo ins Leben rufen, und dazu den Schlachtruf singen: "So sehen Sieger aus". Einige beschließen, "mal in den Schlosspark" zu schauen. Der Stuttgarter Schlossgarten, das Symbol der Gegner, soll wohl zurückerobert werden. Aus dem Ratskeller brechen die Sieger auf, um die Verlierer dort zu treffen. Die Polizei am Bahnhof hat sich auf dieses Zusammentreffen eingestellt.
Doch dieses Zusammentreffen gibt es nicht. Denn am Hauptbahnhof hat der Abend einen anderen Verlauf genommen als erhofft. Dort haben sich die S-21-Gegner getroffen, und mit jedem neuen Ergebnis, das dort von der kleinen Bühne herab verlesen wird, wird deutlich, dass es nichts zu feiern geben wird. Grabesstimmung macht sich breit. Mit jedem neuen Ergebnis verlassen mehr Menschen den Platz. Die grünen K-21-Schals liegen ihnen wie Trauerflore auf den hängenden Schultern, und es scheint, als hätten die bunten Protestbuttons jede Farbe verloren.
Auf der Bühne spielte eine Band ein Stück von Jimi Hendrix: "There must be some way out of here", zu Deutsch: "Es muss doch einen Ausweg geben." Aber es gibt keinen Ausweg. Die harten Zahlen lassen einer Frau mit grauen Haaren Tränen über die Wangen rollen. Um halb neun ist die Veranstaltung offiziell beendet. Manche Zuschauer klatschen, manche buhen, manche schwingen ihre Rätschen. Schließlich einigen sie sich auf einen Chor: "Köpfchen zeigen, oben bleiben", und setzen sich zäh Richtung Schlossgarten in Bewegung. Übellaunige Parkschützer an dessen Eingang beobachten die eintröpfelnden Demonstranten.
Lange Gesichter allenthalben
Drinnen scheint auch einige Zeit später niemand recht zu wissen, was zu tun ist. Zelte liegen wie erschossen im Park, dazwischen huschen Gestalten umher: ein Mann mit Sonnenbrille, ein lachender Irrer, und im nächtlichen Schatten einer großen Eibe lauern fünf Polizisten in Schildkrötenformation. Auch ihr Blick wirkt ratlos. Ein Bläsertrio spielt Trauermärsche vor gerade einmal dreihundert Demonstranten.
Im Licht der Parklaternen schlurfen die Demonstranten mit traurigen Gesichtern umher. Sie fragen immerzu: "Wo geht's denn jetzt weiter? Wo ist denn noch was los?" Doch es ist nichts mehr los. Es geht nirgends mehr weiter heute Abend. Selbst die Polizei löst sich aus dem Schatten des Busches und verlässt den Park. Deutlicher hätten sie es nicht sagen können. Nicht einmal sie glauben, dass noch etwas passieren wird.
Hier und da murrt ein Protestler über die Grünen, "die Verräter". Doch verraten haben sie sich selbst, die Bürger, das Volk. Denn vielleicht braucht es mehr als ein Heer Guter-Laune-Demonstranten, das sich im Kreise Gleichgesinnter am Bauzaun trifft und gegen "die da oben" wettert, solange das Momentum stimmt. Vielleicht wäre es wichtig gewesen, auch da zu sein, wenn es traurig wird, wenn Erwartungen enttäuscht werden, wenn eine Wahl verloren geht – wie am Sonntagabend. Wenn der breite Widerstand in Stuttgart stirbt, sobald die gute Laune verpufft, dann war der Regierungswechsel im Landtag und ein Hippiecamp im Park eben alles. Dann war mehr einfach nicht drin in Stuttgart. Bleibt zu hoffen, dass es nicht so ist.
Die Polizisten hätten lieber "Tatort" geschaut
Boris Palmers Appell an die Stuttgarter, friedlich zu bleiben, klingt ob des kümmerlichen Häufchens Betrübter wie Hohn – die Versammlung löst sich allmählich auf. Zurück bleiben die Parkbewohner. Bei Altun, dem Urgestein des Protests, brennt noch Licht in der Bretterhütte. Er kocht Kaffee. Um ihn hier wegzubringen, müssen sie ihn schon umbringen, sagt er. Er ist ein alter Mann, er meint es ernst.
Auf der anderen Seite der Brücke, vor dem Landtag, liegt friedlich der See, bewacht von ein paar Polizisten. Sie hätten lieber den "Tatort" gesehen heute Abend, sagen sie. Etwas tiefer in der Stadt ist keine Trauer mehr. Die Menschen sitzen in den Kneipen wie am Samstag schon und am Montag wieder. Viele von ihnen, junge Menschen, waren nicht einmal wählen: vergessen oder schlicht kein Bock.
Nur am Palast der Republik, fast in Wurfweite zum Bahnhof, sitzt um halb eins noch ein letztes Grüppchen Protestler und trinkt sich den Abend schön. Die Stimmung ist gut – wieder. Einer Frau aus der Runde sieht man das Wahlergebnis noch an. "Die letzten Stunden habe ich einfach nur geheult", sagt die Aktivistin. Zwei Jahre lang hat sie in Vollzeit gegen den neuen Bahnhof argumentiert, ist in die entlegensten Winkel Baden-Württembergs gefahren und hat bis zuletzt an "das Ende des Irrsinns" geglaubt. Jetzt ist sie betrunken. Und wieder zuversichtlich. Irgendwann werden die Menschen einsehen, dass S 21 ein Fehler ist, da ist sie sich sicher, die Frage ist nur, wann das sein wird.
3 Kommentare verfügbar
UBraun
am 31.12.2011Nein, es ist nicht so.
Es stimmt: Alle Welt…