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Backes hat sich verrechnet

Backes hat sich verrechnet
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Stuttgart hat, wovon andere Kommunen nur träumen können: eine engagierte Stadtgesellschaft im Doppelpack. Nur fremdeln das Aktionsbündnis gegen den Tiefbahnhof und Wieland Backes' "Aufbruch Stuttgart" gehörig miteinander – möglichen Schnittmengen stehen Partikularinteressen gegenüber.

Eines ist beiden Gruppierungen gemeinsam: Sie zählen gern Beine statt Köpfe. Die Gegner von Stuttgart 21 sind geübt darin, Teilnehmerzahlen großzügig aufzurunden. Aber auch Wieland Backes, der ehemalige "Nachtcafé"-Moderator des SWR, der die alten Pläne zur Überdeckelung der Konrad-Adenauer-Straße wachküssen will, meint an diesem strahlenden Sonntag bis zu 5000 Menschen gesehen zu haben, die auf der für ein paar Stunden autofreien Kulturmeile zwischen Oper und Haus der Geschichte spazierten. Deutlich nüchterner die Polizei, die maximal 2000 registriert. Das wiederum kann Parkschützer und regelmäßige Besucher der Montagsdemos gegen S21 nicht wirklich beeindrucken. Auf deren 386. Ausgabe sprach, passend zur Stimmung im Talkessel, Sarah Händel vom Verein "Mehr Demokratie" keine 36 Stunden nach Backes' Sonntagsspaziergang über die Bedeutung der Zivilgesellschaft und fragte sich und ihre Zuhörerschaft, "warum unser Ruf nach Mitbestimmung nicht viel lauter, vielfältiger und einiger ist?"

An Vielfalt ist im Talkessel gerade kein Mangel. An Einigkeit schon. Die einen beäugen die anderen und die anderen die einen. Mit seinem Verein "Aufbruch Stuttgart" will der Vorsitzende mit der jahrzehntelangen Erfahrung als Talk-Moderator "eine Bürgerbewegung für eine Zukunft mit mehr Urbanität, Lebensqualität und Strahlkraft" in Gang bringen, für "einen mutigen Schritt von der autogerechten zur menschengerechten Stadt". Was, so allgemein formuliert, die meisten Tiefbahnhofgegner gewiss unterschreiben würden. Jedoch wollen Backes selbst und prominente MitstreiterInnen wie die bekennenden Stuttgart-21-BefürworterInnen Cornelia Ewigleben oder der frühere Staatsgalerie-Chef Christian von Holst wenig bis nichts zu tun haben mit dem lauten und so hartnäckigen Widerstand, der sich Montag für Montag auf dem Schloss- oder auf dem Arnulf-Klett-Platz artikuliert. Und vice versa sind vielen der besonders hartnäckigen S-21-GegnerInnen die "Aufbruch"-Visionen suspekt. Ausgerechnet in Stuttgart empfiehlt Backes "den großen Wurf" oder "Think big", als hätte gerade diese Geisteshaltung nicht zumindest mit zum Bahnhofs-Desaster geführt. Und der Kampf um das Stückchen Straße zwischen Charlottenplatz und Wagenburgtunnel scheint den kampferprobten MutbürgerInnen ohnehin nicht so recht zur Großer-Wurf-Rhetorik zu passen. Denn was soll auf und mit den anderen Teilen der B14 geschehen, die die Neckarstraße vom Schlossgarten oder das Bohnenviertel vom Marktplatz trennen?

Nicht nur größer, sondern auch komplexer denken

Jedenfalls war am Sonntagvormittag in dem an die abgesperrte B14 angrenzenden Karree zwischen Wilhelm- und Immenhoferstraße schon mal zu besichtigen, was konkret geschieht, wenn sich die Abkehr von der auto- hin zur menschengerechten Stadt allzu kleinräumig vollzieht. Während die einen zufrieden auf dem Rollrasen flanierten, die Straßenschneise zurückeroberten am Künstlereingang der Oper, verstopfen ein paar hundert Meter entfernt Schleichweg- und/oder Auswegsucher jede Seitenstraße. Ergo muss tatsächlich größer gedacht werden, und vor allem komplexer.

Die ungezählten Varianten zum Thema Tieferlegung der Konrad-Adenauer-Straße – die übrigens vormals in diesem Bereich Neckarstraße hieß, als sie noch einigermaßen vernünftig dimensioniert war – sind bisher immer an den Kosten gescheitert. Aber eben nur auch. Vor allem musste selbst der frühere Ministerpräsident Lothar Späth (CDU), der die Pläne weit über einen aufwändigen Prospekt hinaus vorangetrieben hatte, zur Kenntnis nehmen, dass es keine in der Bürgerschaft mehrheitsfähige, auf die Bedürfnisse der Stadt zugeschnittene Ab- und Zuführungslösung für einen Tunnel oder eine Überdeckelung gibt. Daran hat sich wenig geändert. Eher im Gegenteil: Selbst heute noch führt der Wegfall von ein paar Dutzend innerstädtischen Parkplätzen zu ungeahnten Aufwallungen.

Im Landtagsrestaurant beamte sich eine Runde älterer Herrschaften in die schöne neue Zeit der Flaniermeile, bis die Frage auftauchte, wie dann künftig die so praktisch nahe Tiefgarage zu erreichen sei. Der Teufel steckt eben im Detail. Und nicht zuletzt ist bekanntlich nicht alle Tage Sonntag. Jede und jeder prüfe sein Wahlverhalten zwischen dem eigenen PKW und dem Stuttgarter ÖPNV, der viel besser ist als sein Ruf unter unverbesserlichen AutofahrerInnen.

Das Monster im Wohnzimmer

"Es ist, als wollten Sie das Monster im Wohnzimmer nicht wahrnehmen", schreibt der Sprecher des Aktionsbündnisses gegen S21 Eisenhart von Loeper in einem offenen Brief an Backes und meint nicht das individuelle Mobilitätsverhalten, sondern Stuttgart 21. Dann stellt er eine Reihe von Fragen: "Wie soll eine Abkehr von der Autofixierung dieser Stadt gelingen, wenn durch die Verkleinerung des Bahnhofs circa 30 Prozent Schienenverkehr auf die Straße verlagert wird und eine Erweiterung der Bahnhofskapazität auf Generationen unmöglich ist? Wie sollen die Bürger für den Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel gewonnen werden, wenn S-Bahn und Stadtbahn jetzt schon an Zuverlässigkeit einbüßen und in ihrer Entwicklung langfristig behindert werden? Wie sieht die Perspektive einer 'menschengerechten Stadt' aus, wenn durch Bau, Unterhalt und Betrieb von Stuttgart 21 zusätzlich Unmengen von Klimagasen und Feinstaub emittiert werden, die jetzt schon die Gesundheit der BürgerInnen bedrohen und einen erklecklichen Anteil an den ins Haus stehenden Fahrverboten haben?"

Die Antworten stehen aus. Unmissverständlich hat der "Aufbruch" den Stuttgart-21-GegnerInnen aber zu verstehen gegeben, dass, wenn sie mitmachen wollen bei Aktionen des "überparteilichen und unabhängigen Vereins", sie dies auch in ihrem Erscheinungsbild bei der Demonstration zum Ausdruck bringen sollen. Die eine Teil-Stadtgesellschaft erwartet von der anderen, dass sie auf ihre ureigensten Symbole verzichtet. Sind damit nur Plakate und Banner gemeint oder selbst grüne Schals und K-21-Buttons?

Inhaltlich trennt die beiden Fraktionen ebenfalls einiges. Etwa, was Überlegungen angeht, <link https: www.kontextwochenzeitung.de kultur finger-weg-vom-eckensee-4581.html _blank external-link-new-window>den Eckensee mit einem temporären Ausweichquartier der Oper während deren Renovierung zu überbauen. "Wenn nur eine Interimsspielstätte in Betracht gezogen wird, ist die Nähe zum bestehenden Opernhaus ein schlagendes Argument", argumentiert Backes für den Standort am Eckensee. Die Nähe zum Großen Haus lasse "Einbrüche bei den Besucherzahlen nicht erwarten" und verlange "vom Publikum keine große geografische Umstellung". Von Loeper wiederum erinnert an den Schlossgarten: "Nachdem den BürgerInnen mit Stuttgart 21 schon große Teile des Mittleren Schlossgartens genommen wurden, ist eine weitere Großbaustelle im Oberen Schlossgarten durch Überbauung des Eckensees nicht zumutbar." Zumal dadurch auch das Stadtklima weiter negativ beeinflusst werde. Der Aktionsbündnis-Sprecher bittet deshalb nicht nur, "diese Überlegung fallen zu lassen", sondern kündigt vorsorglich "entschiedenen Widerstand" gegen den Standort am Eckensee an

Backes fühlt sich "auf dem richtigen Weg"

Stadtgesellschaft gegen Stadtgesellschaft. Versuchte Höhenflüge sind nicht von vornherein immun gegen das Abgleiten in Niederungen. Reichlich frohgemut wandelte Wieland Backes Neil Armstrongs weltberühmten Mondlandungssatz ab: "Das hier ist ein kleiner Schritt für uns, aber ein großer Schritt für Stuttgart." Ginge es auch eine Nummer kleiner, gäbe es zahlreiche Blaupausen. Zum Beispiel vielfältige Ideen zur Verknappung der Fahrspuren, Bäume zu pflanzen dies- und jenseits der hässlichen Schneise mit ihren bis zu zehn Spuren oder gar in der Mitte der B 14. "Das Stadtplanungsforum hat bereits 2007 dem Herrn Ministerpräsidenten, dem Herrn Oberbürgermeister und den Damen und Herren Stadträten vorgeschlagen, einen offenen internationalen Städtebau-Wettbewerb vom Marienplatz bis zum Neckartor auszuloben", heißt es in einer Broschüre aus dem Jahr 2011. Unter weiter: "Denk-Zeit ist immer." Das Aktionsbündnis hat dem "Aufbruch" gemeinsames Weiterdenken angeboten, etwa mit einer Veranstaltung im Rathaus. Backes will dagegen Nägel mit Köpfen machen: "Die Neugestaltung der Kulturmeile wird kommen", schreibt er in seinem Resümee "im Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein".

Peter Conradi, der langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete und Stuttgart-21-Gegner, hätte sich in beiden Milieus bewegt und wohlgefühlt. Und er hätte so manches beitragen können zur immergrünen Diskussion, etwa seinen Satz aus dem Jahr 1987, als Lothar Späth zwischen Oper und Staatsgalerie besonders groß denken wollte. "Jetzt fehlt dem Ministerpräsidenten nur noch eine reiche Mätresse", spottete der Architekt und gab eine Empfehlung, die sich heute so aktuell anhört wie eh und je: Eine Stadt könne nur vorangebracht werden, "wenn alle Beteiligten willens sind, ihre Vorhaben auch aus der Perspektive der Zweifler oder Skeptiker zu betrachten". Das gelte für Politiker genauso wie für die Bürgerschaft.


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10 Kommentare verfügbar

  • Schwa be
    am 25.09.2017
    Antworten
    Backes (und sein Bekanntheitsgrad) lässt sich m.E. bewusst zum Aufbau einer Gegenbewegung zu dem "Aktionsbündnis gegen S 21" (und für einen Kopfbahnhof auf der Basis von www.Umstieg21.de) instrumentalisieren. Würden es die Mitglieder dieses Vereins, der Vorstandsvorsitzende Backes und die übrigen…
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