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Privatsache Grexit

Privatsache Grexit
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Kommt er oder kommt er nicht, der politisch gewollte Grexit oder der versehentliche Ausstieg aus dem Euro namens Graccident? Die Unsicherheit über die Zukunft zermürbt ein ganzes Volk. Täglich gibt es neue Wasserstandsmeldungen zur finanziellen Lage. So mancher Hellene greift zur Selbsthilfe.

Taxifahrer Costas braucht gerade einmal fünf Minuten. Dann packt er aus. "15 000 Euro habe ich schon vor Wochen abgehoben und zu Hause deponiert." Der 60-Jährige aus der nordgriechischen Kreisstadt Drama orakelt am Steuer seines Mercedes: "Noch in diesem Jahr sind wir raus aus dem Euro – unsere Guthaben werden in Drachmen umgewandelt und unser gespartes Geld wird nichts mehr wert sein." Den Einwand, dass Finanzminister Yanis Varoufakis die jüngst fällige Kreditrate Anfang April pünktlich an den Internationalen Währungsfonds überwiesen hat, lässt Costas genauso wenig gelten wie die von China und Russland in Aussicht gestellten Milliardenhilfen. "Russland ist doch selber pleite", sagt er und lacht.

Wir wissen nicht, woher Costas seine Informationen über die russische oder griechische Haushaltslage hat, aber ein ihm bekannter Filialleiter der griechischen Nationalbank erteilt weitere Auskünfte – gegen Zusicherung von Anonymität. Der Bankdirektor ist in puncto Prognose über den Euro-Ausstieg zwar deutlich zurückhaltender, aber dass Kunden – "viele Kunden" – ihre Konten leer räumen, kann er bestätigen. Vielleicht nicht alle auf einen Schwung wie Taxifahrer Costas. Der Prozess der Kontenplünderung sei ein eher schleichender.

Reiche sind eine verborgene Spezies

Wer überhaupt noch Guthaben zum Leerräumen hat, kann sich ohnehin glücklich schätzen. Die Arbeitslosigkeit liegt landesweit bei 28 Prozent – hier im strukturschwachen Norden wohl noch höher. Seit dem Ausbruch der Krise vor fünf Jahren haben die Griechen angeblich fast 90 Prozent ihres Geldvermögens verloren. "Angeblich", weil niemand sagen kann, wohin dieses Geld letztlich geflossen ist. Um den Alltag zu finanzieren oder um das Geld aus Griechenland abzuziehen? Gerüchte "über die Reichen, die ihr Geld in die Schweiz gebracht haben", kursieren auch auf dem Wochenmarkt in Drama. Hier kaufen eher die weniger Betuchten ein. Es gibt auf Wühltischen Unterhosen für einen Euro oder "Markenjeans" für zehn Euro. "Die Reichen" sind eine Spezies, die in Drama offensichtlich eher im Verborgenen blühen muss.

Die größte Gruppe an Bankkunden, die noch regelmäßig und vor allem ungeschmälert ihr Geld aufs Konto überwiesen bekommt, sind die ehemaligen Gastarbeiter. Nirgendwo in Hellas ist die Quote der Auswanderer seit einem halben Jahrhundert höher als in den nordgriechischen Bezirken Serres, Drama, Kavalla. Die heutigen Rentner haben seit den 1960er-Jahren überwiegend in Deutschland malocht und finanzieren heute oft zwei weitere Generationen. Wenn diese Nachfahren heute wieder in Griechenland leben, sind die Aussichten genauso miserabel wie für die Hiergebliebenen. "Viele Kinder und Enkel dieser ehemaligen Auslandsgriechen sind von den deutschen Renten abhängig", so der Banker, "spätestens wenn diese Rentner in zehn bis 15 Jahren sterben, gehen hier die Lichter aus."

Dass die Lichter erst mal nicht ausgehen, liegt an Menschen wie Giorgos. Der ehemalige Gastronom aus Soest ("Man spricht es So-Est aus") hat seine Ersparnisse von rund 100 000 Euro in eine Fotovoltaik-Anlage im Hinterland von Drama gesteckt, die 50 Haushalte mit Strom versorgt. Doch seit ihm der Fiskus 75 Prozent seiner Einnahmen abnimmt, ist die Laune im Keller. "Einen Kredit für die Anlage muss ich auch noch abbezahlen, am Ende des Jahres mache ich Minus", sagt Giorgos. Auf die neue Regierung ist der Stromunternehmer schlecht zu sprechen. "Allein schon dieser Varoufakis, dem das Hemd aus der Hose hängt." Kein einziger Reformvorschlag von "diesem Professor aus Australien" habe Aussicht auf Erfolg. "Der verwechselt Griechenland mit seinen Universitäten. Das Problem ist: In dieser Stimmung, wo keiner weiß, was kommt, investiert auch kein Mensch." Eine Einschätzung, die auch das renommierte Wirtschaftsinstitut KEPE teilt. Der Index zur Messung der wirtschaftlichen Unsicherheit hat im vergangenen Februar den bisher höchsten Wert erreicht.

1700 Euro für den Blick auf die Akropolis

Mit Staunen registrieren die Griechen unterdessen die neuesten Versuche der Regierung, Geldquellen zu erschließen. Bislang unantastbare Besitzstände kommen auf den Prüfstand. Dabei legt sich die Links-rechts-Riege auch mit den Fernsehbetreibern an. Hinter den diversen Kanälen stehen undurchschaubare Firmengeflechte, die wiederum den großen Oligarchen "mit ihren zügellosen Aktivitäten" (Tsipras) zugerechnet werden. Die privaten Sender (das öffentliche Fernsehen ERT wurde von der Vorgängerregierung ersatzlos abgeschaltet) sollen in Zukunft Gebühren für die Nutzung des Funknetzes entrichten. Die TV-Macher keilen zurück: Gebühren werden rein vorsorglich mit den jahrzehntelang umsonst ausgestrahlten Wahlwerbespots für die politischen Parteien aufgerechnet. Ende des Streits offen. Eine Zwangsabgabe für die Sender scheint aktuell so aussichtsreich wie Entschädigung für Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht. Aber Tsipras zeigt, dass er nach der Devise "Viel Feind, viel Ehr" operiert.

Die TV-Sender überbieten sich derweil mit Home-Storys über Finanzminister Varoufakis. Der hatte das Klatschblatt "Paris Match" in seine Athener Stadtwohnung gelassen. Die Bilderstrecke mit der Gemahlin geriet zum medialen Fiasko. Der Minister musste einräumen, dass es keine gute Idee war, sich in der verheerenden Krise des Landes zwischen Designer-Möbeln ablichten zu lassen. Inzwischen will das Paar aus der Wohnung ausziehen. Die Medien berichten, dass Varoufakis die Bleibe mit Blick auf die Akropolis vermieten möchte – für 1700 Euro monatlich.

Möglicherweise dient Varoufakis dem Regierungschef aber nur als "bad cop", der die Pfeile der Gegner auf sich zieht. Die Rolle des "good cop" ist demnach für Alexis Tsipras vorgesehen, der mit gleichbleibend entspannter Miene Auswege aus der Misere sucht. Zur Not eben auch in Moskau. Der Besuch im Kreml – begleitet von den hysterischen Kommentaren aus Deutschland – hat in Griechenland das Image von Tsipras eher gestärkt. Doch was ist nun mit dem vermeintlichen Retter Putin? Milliardengebühren für eine Erdgastrasse sollen die Russen in Aussicht gestellt haben. Was sogar Wolfgang Schäuble gut findet. Die Satirezeitung "To Pontiki" ("Das Mäuschen") macht sich da ihren eigenen Reim drauf. Auf der Titelmontage steht Tsipras im Anzug neben dem Oberkörper-freien Putin, der mit Angel in der Hand dem Griechen sagt: "Wenn du schon kein Geld kriegst, können wir eigentlich zum Fischen gehen." Den Humor haben sie also noch nicht verloren.

Mit dem Maultier zum Wochenmarkt

Stromerzeuger Giorgos hofft wie viele Griechen auf Russen, Chinesen und "dass wir bald selber Erdöl in der Ägäis finden". Aber das könne eben noch dauern, und bis dahin müsse der ein oder andere Grieche vielleicht sein Auto verkaufen. "Vor 50 Jahren haben sie hier alle noch Esel gehabt, und heute fährt jeder Bauer einen dicken Pick-up mit Allradantrieb." Also zurück zum Maultier?

So weit müsse es für Taxifahrer Costas nicht unbedingt kommen. Doch auch er erinnert seinen Fahrgast daran, dass in einem Dorf in den Bergen noch vor einigen Jahren ein hochdekorierter Widerstandskämpfer aus dem Zweiten Weltkrieg jeden Tag mit seinem Pferd ins Kaffeehaus geritten kam. Dieser Mann war sich nicht zu schade, auf dem Wochenmarkt in Drama selbst geschnitzte Kochlöffel zu verkaufen. Den "blonden Hans" haben sie diesen Helden wegen seiner hellen Haare genannt. Orden bekam der Kämpfer für seinen Partisaneneinsatz gegen die bulgarischen und deutschen Besatzer. Die rächten sich an der Ehefrau, die sie vor den Augen der Dorfbewohner auspeitschten. Sie sollte das Versteck ihres Mannes verraten. Die Frau schwieg und starb viel früher als ihr Mann an den Spätfolgen der Folter. Dafür gab es keinen Orden. Die Kinder des Freiheitskämpfers suchten 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Glück in Deutschland. Als der blonde Hans gestorben war, rissen Einbrecher auf der Suche nach Goldmünzen den kompletten Holzfußboden auf. Das Haus ist heute eine Ruine – doch die Geschichten vom blonden Hans kennt heute noch jedes Kind in den Bergen oberhalb von Drama.

Stromproduzent Giorgos kennt die Geschichten auch – und hat Angst, dass sich dieses Einbruchsszenario bei ihm zu Hause wiederholt. Der 85-jährige Vater hat vor ein paar Tagen sein Konto leer geräumt und niemandem erzählt, wo das Geld jetzt liegt. Der Sohn tobt: "Wenn er stirbt oder dement wird und uns nichts sagt, ist das Geld verloren."

 

Autor Fritz Schwab empfiehlt das Boutique-Hotel Jennifer in Taxiarches etwa zehn Kilometer außerhalb von Drama in den Bergen mit grandiosem Rundumblick. Fürs Seelenheil bietet sich ein Besuch des benachbarten Klosters an.


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4 Kommentare verfügbar

  • The Brain
    am 29.04.2015
    Antworten
    Toller Artikel - mehr davon!!
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