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Liebe hinter Gittern

Liebe hinter Gittern
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Es gibt romantischere Orte für die Liebe als das Gefängnis. Aber auf viele Frauen üben Verbrecher eine ungeahnte Faszination aus. Beziehungen mit Häftlingen bieten zudem Sicherheit, sie können wenigstens nicht fremdgehen.

Triste, kahle Wände, die Möblierung auf einen einfachen Holztisch mit vier Stühlen beschränkt. Der Blick aus dem Fenster: hohe Mauern, bröckelnder Putz, an der Spitze mit undurchdringlichem Stacheldraht bewehrt. Es gibt zweifellos romantischere Orte zum Heiraten. Aber es kommt vor, genau hier in diesem Raum, in den von außen nur gelangt, wer vorher an der Pforte seinen Personalausweis abgegeben, seine Sachen in einem Spind verschlossen und mehrere Türen passiert hat, die von Wachhabenden per Fernbedienung geöffnet werden. Die strahlende Braut schön rausgeputzt und ganz in Weiß, der Bräutigam auch mal zögerlich. "Ich muss mir noch überlegen, ob ich gleich Ja sage", vertraut er der Sozialarbeiterin an. Brigitte Kanisch hat viel erlebt in ihren mehr als 30 Dienstjahren in der Freiburger Justizvollzugsanstalt (JVA): Hochzeiten und Scheidungen; eine frühere Praktikantin, die einen Exknacki geheiratet und kürzlich mit ihm Silberhochzeit gefeiert hat. Ein Häftling, der sich quer durch die Republik bis nach Hamburg karren ließ, um in Fuhlsbüttel eine Brieffreundin zu heiraten, der er nie vorher begegnet war.

Derzeit sitzen 580 Männer im Freiburger Gefängnis ein, viele lebenslänglich. Mörder, Räuber, Vergewaltiger. Auch sie haben Sehnsüchte, sind empfänglich für Traumwelten, suchen Kontakte, die "ein wenig Sonne in ihren tristen Haftalltag bringen". Zum Beispiel Andreas, 41, der gern Gitarre spielt und Texte schreibt. Oder Wilhelm, 34, der "gut zuhören" kann und "auf ein besseres, straffreies Leben" hofft. Auf Jail-mail.net suchen sie Briefkontakte zu Frauen. Manche schreiben, es käme ihnen auf die "inneren Werte" an. Gerne dürfe die Frau auch älter sein. Nach Jahrgängen sortiert und mit der Angabe, wo sie einsitzen, hat die Betreiberin der Seite, eine Erna Höhenberger, die Anzeigen aus allen Teilen der Republik ins Netz gestellt, manche mit Foto, sympathische Gesichter darunter. Warum und wie lange die Männer hinter Gittern bleiben müssen, ist den Anzeigen nicht zu entnehmen. Ihre Chancen, draußen auf empfängliche weibliche Ohren zu stoßen, stehen nicht schlecht.

Vier Stunden monatlich Nähe unter Aufsicht

Marie, geschiedene Mutter von zwei Kindern, zum Beispiel, hatte eigentlich die Nase gestrichen voll von Männern. Beim Stöbern im Internet stieß sie auf Jail-mail und darin auf Tomi. Die 34-Jährige schreibt ihm jeden Tag, manchmal zehn, manchmal 40 Seiten. Hunderte von Briefen haben sie schon gewechselt. Nach sechs Monaten kann sie sich "ein Leben ohne diese Briefe gar nicht mehr vorstellen". Denn sie hat "noch nie eine Beziehung zu einem Mann gehabt, der mir so viel von sich erzählt hat". Für sie steht fest, dass sie heiraten und nach seiner Entlassung zusammenleben werden. Ihre Kinder, behauptet sie, "lieben ihn abgöttisch". Manchmal nimmt sie sie mit zu den Besuchen im Gefängnis, wo sie ihm im Besucherraum zusammen mit Insassen und ihren Angehörigen unter den Augen des Wachpersonals vier Stunden im Monat "nahe" sein kann: alle zwei Wochen zwei Stunden Hinfahrt, zwei Stunden zurück.

Sozialarbeiterin Brigitte Kanisch hat mal einen Langzeitgefangenen erlebt, der sich "in höchster Not" an sie gewandt habe: "Er hat es nicht mehr ausgehalten, wie sich eine junge alleinerziehende Mutter an ihn geklammert hat, die er über eine Annonce kennengelernt hatte." In ihrer Wohnung hatte sie Bilder von ihm aufgehängt, ihr Sohn habe ihn schon Papa genannt. Irgendwann habe er einfach nicht mehr geantwortet. Nach fünf Jahren im Gefängis hatte er immer noch 15 Jahre Haft abzusitzen. "Beziehung ist für manche Männer nicht nur schön", weiß die Sozialarbeiterin. Manche trennen sich in der Haft von langjährigen Partnerinnen. "Kontrollfreaks macht es wahnsinnig, wenn sie sich vorstellen, ihre Frau könnte einen anderen haben, während sie hier jahrelang festsitzen."

Marie hingegen meint, im Gefängnis ihren "Traummann" gefunden zu haben. Und "ich war seine Traumfrau". Sie lässt sich auch nicht beirren, als sie erfährt, dass er im Suff eine Frau vergewaltigt hat. Obwohl sie selbst oft von ihrem früheren Ehemann vergewaltigt und vom eigenen Vater missbraucht worden ist.

Beziehungen zu Häftlingen bieten "Sicherheit"

Marie ist kein Einzelfall. Unzählige solcher Geschichten hat die aus Freiburg stammende Journalistin und frühere Arte-Redakteurin Elisabeth Pfister in ihrem Buch "Wenn Frauen Verbrecher lieben" in jahrelanger Recherche zusammengetragen. Sie hat ihren Protagonistinnen zugehört, mit viel Empathie und ohne zu werten und versucht, damit einem Rätsel auf die Spur zu kommen, das sich doch nicht restlos aufdröseln lässt. Denn "Rätsel sind wir alle: den anderen – und oft genug auch uns selbst", schreibt sie im Vorwort zu ihrem spannend zu lesenden Buch. Brigitte Kanisch, die Sozialarbeiterin aus Freiburg, wundert sich, dass "viele gebildete Frauen" unter denen sind, die sich "mit so viel Naivität auf solche Beziehungen einlassen".

Es kann eine – wenn auch paradoxe – Logik dahinterstecken. "Die Beziehung zu einem Gefangenen bietet Sicherheit. Sie ist nicht so gefährlich", sagt die Sozialpädagogin und Familientherapeutin Barbara Welle, die beim SKM Freiburg, katholischer Verein für soziale Dienste, die Straffälligenhilfe leitet. Da ist einerseits die Angst vor dem Alleinsein bei den Frauen, die meisten nicht mehr ganz jung und mit einer Reihe von Enttäuschungen im Gepäck. Aber andererseits auch die Angst vor zu viel Nähe und der nächsten Enttäuschung. Ein Gefangener hinter Schloss und Riegel ist ihnen sicher. Er kann nicht fremdgehen. "Der Gefangene ist ja erst einmal nur handlungsfähig als jemand, der schreibt. Das heißt, er kann nicht einfach zu Besuch kommen, er ist als Person noch nicht real vorhanden", erklärt Katja Grafweg, Leiterin der JVA Remscheid, im Interview mit Elisabeth Pfister. In Briefen lassen sich die romantischsten Traumgebilde fantasieren. Die Gefahr, sie an der Wirklichkeit überprüfen zu müssen, liegt in unerreichbarer Ferne. Die Frauen können sich schön und begehrt fühlen. Und vielleicht, so hoffen manche, können sie die vom rechten Weg abgekommenen Geliebten sogar wieder auf den Pfad der Tugend zurückgeleiten.

Ohnehin neigen sie dazu, die Wahrheit zu verdrängen oder die schlimmen Taten zu bagatellisieren. Erstaunlich viele der Frauen, mit denen die Journalistin gesprochen hat, wurden, wie Marie, als Kind missbraucht und haben viel Gewalt in ihrem Leben erfahren. Als erwachsene Frauen scheinen sie geradezu magisch von Gewalttätern angezogen zu werden. Möglicherweise ein unbewusster Weg, ihr Trauma zu heilen: Sie müssen sich nicht länger als das ohnmächtig ausgelieferte Opfer eines brutalen Täters fühlen. Jetzt sind sie es, die die Kontrolle haben. Der Mann ist sozial, finanziell und emotional von ihnen abhängig. Der Psychiater und Gerichtsgutachter Reinhard Haller spricht von der "Täter-Opfer-Umkehr".

Viele Frauen mögen den Charme des Verbrechens

Elisabeth Pfister gelingt es, die unterschiedlichsten Facetten in der psychischen Dynamik dieser besonderen Paarkonstellationen herauszuarbeiten. Die Faszination für das Böse könne auch ein Zeichen für die Abspaltung von Persönlichkeitsanteilen sein, die die Frauen an sich selbst ablehnen. Frau und Aggressionen, das passt nicht in die gängige Rollenzuschreibung. Also sucht sie sich einen Geliebten, der ihre Gewaltfantasien stellvertretend für sie ausgelebt hat.

Ein Kapitel für sich ist der "Charme der Psychopathen" (Haller), den die schlimmsten Verbrecher offenbar auf Frauen ausüben. Dieter Zurwehme, der "Mörder von Remagen", Thomas Holst, der Heidemörder, oder der Prostituiertenmörder Jack Unterweger konnten sich vor Frauen kaum retten, die den Kontakt zu ihnen suchten. Sie avancierten zu Stars der Verbrecherszene. Elisabeth Pfister rekapituliert ihre Geschichten ebenso wie die von Gisela Bartsch, die den vierfachen Kindermörder und Triebtäter Jürgen Bartsch im Gefängnis heiratete und einem öffentlichen Kesseltreiben ausgesetzt war. Gefährlich werden kann es auch für die Frauen selbst: Bettina N., eine "intelligente, attraktive Frau" wurde vor vier Jahren im Gefängnis von Remscheid bei einem Langzeitbesuch in der sogenannten Liebeszelle von dem Kindermörder Hans-Dieter H. zu Tode gemetzelt. Sie hatte sich von ihm trennen wollen. Brigitte Kanisch rät zur Vorsicht schon bei der Preisgabe der Adresse.

Und doch gibt es auch Geschichten wie die von Karl und Claudia, der studierten Journalistin aus gutem Hause und dem Wiederholungstäter aus desolatesten Verhältnissen, der sich von klein auf durch das Leben raubte und stahl und mit dem kein Jugendheim und keine Pflegeeltern fertig wurden. Zuletzt war er in Sicherungsverwahrung. Gegen alle Wahrscheinlichkeit ist es eine Geschichte von Schutzengeln und einem Happy End geworden. Auch Familientherapeutin Barbara Welle hat so eine Familie begleiten dürfen und ist nach Jahren noch beeindruckt, wie sie sich behutsam eine gemeinsame Welt aufgebaut hat, in der jeder dem anderen den Raum gelassen hat, den er brauchte. In der Wohnung seiner Frau bekam der entlassene Sträfling ein Zimmer für sich allein, das er zunächst so spartanisch eingerichtet habe wie seine Zelle im Gefängnis. Nach und nach sei immer mehr ein Raum zum Leben daraus geworden.

 

Buchtipp:

Elisabeth Pfister: "Wenn Frauen Verbrecher lieben". Christoph Links Verlag, Berlin 2013, 235 Seiten, 16,90 Euro.


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