KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Ausstellung über KZ-Aufseherinnen

Blaubeerenpflücken verboten

Ausstellung über KZ-Aufseherinnen: Blaubeerenpflücken verboten
|

 Fotos: Julian Rettig 

|

Datum:

Die französische Künstlerin Dominique Hurth hat jahrelang zu Frauen, die in Konzentrationslagern als Wärterinnen arbeiteten, geforscht. Deren Mittäterschaft wurde lange Zeit geleugnet und heruntergespielt. Im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart präsentiert sie nun ihre Arbeiten.

Pflichtlektüre in Schulen ist der Roman "Der Vorleser" von Bernhard Schlink. Eine Protagonistin ist Analphabetin, die KZ-Aufseherin war – so als wäre ihr aufgrund ihrer mangelnden Bildung nichts anderes übriggeblieben. Es wirkt, wie bei der späteren Aufarbeitung der Mittäterschaft von KZ-Aufseherinnen, wie eine Ausrede. Die Fantasie biegt sich ihre eigene Version der Geschichte zurecht, die mit der historischen Realität nur wenig zu tun hat.

Die französische Künstlerin Dominique Hurth hat sich jahrelang mit den Aufseherinnen des größten Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück in der Uckermark beschäftigt, angestoßen durch ihre Bekanntschaft mit einer ehemaligen Inhaftierten. In den wenigen Prozessen, die gegen NS-Frauen geführt wurden, versuchten sie sich als Opfer hinzustellen, die unfreiwillig, aber pflichtbewusst ihren Dienst taten, ohne zu verstehen, was um sie herum vorging. Das waren Schutzbehauptungen, wie Hurths Ausstellung im Württembergischen Kunstverein am Stuttgarter Schlossplatz zeigt.

"Privathandtaschen dürfen zum Außendienst nicht mitgetragen werden", steht gleich im Eingangsbereich an der Wand, in großen Blockbuchstaben. "Blumen oder Beerenpflücken während der Dienstzeit ist verboten." Und: "Im Dienst ist die Pistole und die Mütze zu tragen." Es handelt sich um Dienstanweisungen des Lagerkommandanten Max Koegel.

Die 7.000 im KZ Ravensbrück inhaftierten Französinnen kamen überwiegend aus der Résistance, viele setzten sich nach dem Krieg aktiv für die Strafverfolgung der Wärterinnen ein. Unter alliierter Besatzung fanden kurz nach Kriegsende tatsächlich in Lüneburg (September 1945) und Hamburg (März 1946) zwei Prozesse statt, in denen auch Frauen angeklagt waren. Doch in der Bundesrepublik wurde ihre Mittäterschaft lange unter den Tisch gekehrt.

Erst 1975, im dritten sogenannten Majdanek-Prozess – benannt nach dem KZ Majdanek in Ostpolen – vor dem Landgericht Düsseldorf, standen wieder einige Wärterinnen vor Gericht. Vor Pressefotografen versteckten die damals angeklagten Frauen ihre Köpfe hinter Regenschirmen. Hurth hat eines dieser Fotos in blauer Farbe groß an eine Wand tapeziert, kleinere Schwarz-Weiß-Aufnahmen und Aussagen aus dem Prozess in schwarzen Lettern auf weißem Papier sind darauf zu sehen. "Ich besaß niemals eine Waffe oder Pistole", steht da – die Aussage einer Angeklagten, in offenkundigem Widerspruch zu der zitierten Anordnung des Lagerkommandanten Koegel.

Zeugenaussagen: laut Gericht vielleicht nur geträumt

"Ich habe keine Verbrechen gesehen", beteuert eine Aufseherin. "Ich erkläre ausdrücklich, dass ich während meines Diensts als Aufseherin nur die im Lager vorgeschriebene graue Uniform getragen habe, aber keine SS-Uniform", wird eine andere zitiert. Was mehr als fragwürdig ist, denn aus einem Film von Hurth, ein Stück weiter in der Ausstellung, geht eindeutig hervor, dass die Aufseherinnen gehalten waren, selbst die SS-Runen ans Revers ihrer Uniformen anzunähen.

Viele Unterlagen, die Hurth in den Archiven gesichtet hat, dürfen bis heute nicht kopiert oder fotografiert werden. Die Künstlerin hat aus der Not eine Tugend gemacht und alles von Hand abgeschrieben, Fotos von den Prozessen der Nachkriegszeit mit Aquarellfarbe abgemalt, auch die Zitate in Blockbuchstaben von Hand aufgeschrieben. "Jeder dieser Tatbeiträge, wie auch immer er im Einzelfall geartet war, ist geeignet, den an der Tat Beteiligten als Mittäter erscheinen zu lassen", zitiert Hurth in der Ausstellung das Gericht beim Majdanek-Prozess in Düsseldorf – damals noch nicht gegendert. Und weiter: "Das Gericht hat deshalb nicht ausschließen können, dass in der Erinnerung der Zeugen Erlebtes, Gehörtes, Gelesenes und möglicherweise sogar Geträumtes zusammengeflossen sind." Am Ende hält es fest: "Bei den bereits erwähnten Zeugen und bei der Anlegung dieser strengen Maßstäbe verbleiben so erhebliche Zweifel an der Täterschaft der Angeklagten, dass eine Verurteilung nicht möglich war."

Auch Material aus Zeitungsarchiven hat die französische Künstlerin für ihre Schau herangezogen. Sie zeugen vom kritischen Blick auf das Verfahren in Düsseldorf. "Majdanek-Prozess erweist sich als 'Jammerbild deutscher Justizpraxis'", titelte etwa die Westfälische Rundschau in einem der Zeitungsausschnitte, die Hurth auf der Rückseite einer Wand zusammengetragen hat. "Majdanek-Massenmörder hinter Gitter", hatte die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) vor dem Gerichtssaal gefordert. "Perfekt praktizierte Verzögerung", kommentiert eine Zeitung den Prozess. Eine andere vermeldet sogar, eine KZ-Aufseherin kandidiere für das Europaparlament.

Medien und Zeuginnen zeigen ein anderes Bild

Im Zentrum der Ausstellung steht ein dem Gerichtssaal des Bergen-Belsen-Prozesses in Lüneburg 1945 nachempfundener Aufbau. Auf der einen Seite vermitteln Hurths Aquarelle einen Einblick hinter die Kulissen des Gerichtssaals – eines zeigt etwa einen Flur, der zu den Toiletten führt. Auf der anderen Seite hängen 36 Federzeichnungen der Ravensbrück-Insassin Violette Lecoq (1912 bis 2003), zum Teil noch im Lager selbst angefertigt, die im Hamburger Prozess 1946/47 als Beweismaterial dienten, da sie die Verhältnisse besser dokumentieren als die Fotos aus der Täterperspektive. Dazu kommen einige eindringliche, aber sehr viel später entstandene Arbeiten der Romnja Ceija Stojka, die als Kind ebenfalls in Ravensbrück inhaftiert war.

Doch im Zentrum stehen auch hier wieder die handgemalten schwarzen Lettern und Diaprojektionen von Zitaten aus den Prozessen, die keinen Urheber:innen zugeordnet werden. "Die Angeklagte kommt aus sehr primitiven Verhältnissen in Berlin, sie war Dienstmädchen", heißt es einmal – fast wie bei Schlinks fiktiver KZ-Aufseherin. Immer wieder wird versucht, die Angeklagten zu entlasten, indem die Glaubwürdigkeit der Zeuginnen in Frage gestellt wird. "In propagandistischer Weise" hätten einige der politischen Häftlinge nun ihren Aufseherinnen einen Strick drehen wollen. "Sie hatten bewusst oder unbewusst auf den Moment der Rache gewartet." Und Geschlechterstereotypen werden bemüht: Es sei zu berücksichtigen, "dass einige Aussagen eher vom Gefühl als von kühlem Verstand geleitet waren."

Alliierte Wochenschauen – Fernsehen gab es noch nicht – beschreiben die Prozesse ganz anders: "Schon die ersten Vernehmungen ergaben grauenhafte Enthüllungen", heißt es in einem Film zum Hamburger Ravensbrück-Prozess, den Hurth im WKV zeigt. Eine Zeugin sagte: "Es war die Hölle auf Erden." Aus Hurths eigenem, 96-minütigem Film geht hervor, dass eine Aufseherin sich selbst eine Peitsche aus Leder anfertigte, um die Gefangenen zu traktieren – ganz so, wie dies auch Violette Lecoq in einer Tuschezeichnung festhält.

Sie wohnten ganz behaglich

3.340 Frauen waren als Aufseherinnen in Ravensbrück tätig, die Wärterinnen sämtlicher Lager wurden dort ausgebildet. Fünf von ihnen wurden in Hamburg zum Tode verurteilt, drei Aufseherinnen der KZs Auschwitz und Bergen-Belsen in Lüneburg. Alle anderen wurden freigesprochen oder in der Bundesrepublik bald amnestiert. Im dritten Majdanek-Prozess erhielt von den sechs weiblichen Angeklagten eine Aufseherin wegen gemeinschaftlichen Mordes an mindestens 100 Personen eine lebenslange Haftstrafe, eine andere zwölf Jahre.

120.000 Frauen waren im KZ Ravensbrück inhaftiert, gezwungen Textile zu fertigen. Sie schneiderten die Häftlingskleidung für alle KZs, ebenso Uniformen für SS, Wehrmacht und KZ-Aufseherinnen. Hurth reflektiert dies auf vielfache Weise. Das Falten eines Taschentuchs wird zum Sinnbild der zunehmenden Einschränkungen für die jüdische Bevölkerung. Und Hurth zeigt Frauenuniformen, Requisiten aus Theaterdepots. SS-Chef Heinrich Himmler brachte sich persönlich bei der Gestaltung der Frauenuniformen ein: Sie sollten Autorität ausstrahlen und doch eine untergeordnete Stellung gegenüber den Männern anzeigen.

Eine 15 Meter lange Stoffbahn liegt in der Ausstellung aus, gewebt von Hurth: Es veranschaulicht das Tagespensum, das eine KZ-Zwangsarbeiterin zu leisten hatte. In der Gedenkstätte von Ravensbrück hat sie als permanente Installation den privaten Wohnraum einer Aufseherin rekonstruiert: ein Kontrast zum Leben der inhaftierten Frauen. "Erstens gestehe ich …", steht auf einem Kissen gestickt. Anhand von Fotos hat die Künstlerin die Vorhänge nachgewebt. Das deutsche Wort "Behaglichkeit" habe sie bei dieser Arbeit zum ersten Mal gehört, berichtet die Französin Hurth. In Stuttgart wird dieses rekonstruierte Wärterinnen-Heim mit Fotos gezeigt. Ein Ausstellungstext dazu formuliert, die Täterinnen lebten "in skrupelloser Gemütlichkeit".

Feldgrau, ein Farbton zwischen Grau und Grün, ist ein wiederkehrendes Element in der Schau, ob in Farbdrucken oder in den gewebten Stoffen. Aufgeschlagene Bücher und Zeitschriften zeigen, wie Wohnungen während der NS-Zeit eingerichtet waren. In Magenta-Rot folgen Collagen aus Werbeanzeigen der Nachkriegszeit. Eine Frau legt der anderen die Hand auf die Schulter: "Lass das Vergangene – vergessen sein".

Nein, die KZ-Aufseherinnen waren keine Analphabetinnen. Sie hatten im NS-Staat Karriere gemacht, was, wie Hurth feststellt, eine gewisse Schulbildung voraussetzte. Sie arbeiteten nicht unter Zwang: Es gab auch Kündigungen. Sie waren privilegiert, gehörten dem SS-Gefolge an und schikanierten die Gefangenen. Sie mussten während der Dienstzeit keine Beeren pflücken. Dafür gab es ein "Blaubeerkommando" von Häftlingsfrauen.

Zwangsarbeit für Mercedes Benz

1.100 inhaftierte Frauen aus Ravensbrück dagegen verrichteten Zwangsarbeit im Daimler-Benz-Flugmotorenwerk Ludwigsfelde, ein paar Kilometer südlich von Berlin. Sie sahen in dieser Zeit kein Tageslicht. Im September noch wurden Gebeine, vielleicht von Zwangsarbeiterinnen entdeckt. Ein 17-minütiges Video, in dem Hurth ihre eigenen Eindrücke mit Archivaufnahmen kombiniert, befasst sich mit diesem Tatort. "Hörst du, Flieger, den Klang der Motoren?", ertönt ein Lied mit dem Titel "Mercedes-Benz voran" aus dem Jahr 1941, das die "siegreichen Waffen" des Unternehmens bewirbt: "Spürst du des Motors stürmende Kraft?"

In der DDR wurden in Ludwigsfelde Motorroller und Klein-Lkw gebaut. Nach der Wende kehrte Daimler-Benz zurück. Ein Bekenntnis zum Standort Deutschland sei dies, meint ein Sprecher bei der Einweihung, auch diese Szene zeigt das Video. Es klingt fast wie eine Drohung. Das Rathaus sei noch immer in einer Baracke des Zwangsarbeiterlagers untergebracht, bedauert der Bürgermeister noch in den Aufnahmen. Mit Benz kamen aber gleich die Steuereinnahmen, und schon kurz nach der Daimler-Wiederkehr hatte Ludwigsfelde ein neues Rathaus. Einen Antrag auf Entschädigung einer Überlebenden lehnt der Automobilhersteller ab.

Bei der Begehung des Lager-Standorts wird Hurth begleitet von dem ehemaligen russischen Zwangsarbeiter Simon Guljakin und seiner schwäbischen Frau Ellen. "Da kennt mer viel erzähla, aber da musch'd a Buch schreiba", sagt Guljakin. Und fügt hinzu: "Wichtig isch: I hab's überlebt."


Die Ausstellung "Dominique Hurth. Privathandtaschen dürfen zum Außendienst nicht mitgetragen werden" im Württembergischen Kunstverein Stuttgart, Schlossplatz 2, läuft bis 25. Januar und ist dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr geöffnet.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!