Wenn Roland Emmerich an diesem Buch mitgearbeitet hätte, sähe es mit Sicherheit völlig anders aus. Unter dem Titel "Die besten Weltuntergänge" hätte sich der aus Sindelfingen stammende Popcorn-Regisseur vermutlich kindsköpfige Zerstörungsorgien ausgemalt, Alien-Invasion, gigantische Vulkanausbrüche und Erdbeben, riesige Fluten, egal, Hauptsache es kracht und splittert überall, Trümmer, Scherben, jede Menge Kleinholz, wie man es von ihm gewohnt ist.
Doch Emmerich war nicht dabei, stattdessen könnte bisweilen glatt der Eindruck entstehen, Autorin Andrea Paluch und Zeichnerin Annabelle von Sperber hätten sich von den beiden baden-württembergischen grünen Ministerinnen Theresa Schopper (Kultus) und Thekla Walker (Umwelt) inspirieren lassen. Denn diese wollen nachhaltigeres Leben durch Bildung voranbringen und schreiben in einer aktuellen Kabinettsvorlage: "Angesichts der Vielfalt der globalen Herausforderungen ist eine nachhaltige Entwicklung hin zu zukunftsfähigen, ökologisch verträglichen und sozial gerechten Lebensmodellen eine notwendige gesamtgesellschaftliche Aufgabe."
Was hat das jetzt mit Weltuntergängen zu tun? Der Untertitel des Kinderbuchs ist da präziser: "Zwölf aufregende Zukunftsbilder" umfasst der schön gestaltete Band, jeweils als doppelseitige Wimmelbilder, und diese sollen, steht auf dem Backcover, die Fantasie öffnen "für die Frage: Wie wollen wir leben?". Denn die bisherige Welt geht hier keineswegs immer krachend in einer großen Katastrophe unter. Gezeigt werden auch Möglichkeiten von rechtzeitigem Umsteuern zu besseren Welten, von Kurs-, oder besser, Systemwechseln. Nicht nur Dystopien also, sondern auch Utopien.
Sehr im Schopper/Walkerschen Sinne dürften etwa die Visionen "Zurück zur Natur", "Stadt ohne Autos" und "Alle Tiere sind frei" sein. Alle Szenarien werden in einer Text-Seitenleiste genau erläutert und so wird zum Beispiel schnell deutlich, dass die Natur-Vision wenig mit einer Rückkehr zum Leben von Naturvölkern zu tun hat. In ihr gibt es Städte und moderne Elektronik, doch alles ist auf Nachhaltigkeit, Wiederverwertbarkeit und Emissionsvermeidung ausgerichtet: Die meiste Energie kommt von der Sonne, der elektrische Strom schadet deswegen dem Klima nicht und ist im Überfluss vorhanden, "alle neuen Dinge sind aus gesunden Materialien, die kompostierbar sind und in den Naturkreislauf der Erde zurück gehen können", Plastik und Metall wird recycelt. Und was das konkret im Alltagsleben bedeuten kann, wird an Beispielen erläutert, die auch für Kinder sofort nachvollziehbar sein sollen: Da stecken in einem Eisbecher Samen seltener Wildkräuter und man soll ihn nach Gebrauch nicht in den Mülleimer, sondern in die Landschaft werfen, denn "dort löst er sich schnell auf und an der Stelle wachsen später Blumen".
Erfreulich: eine "Welt ohne Grenzen"
"Stadt ohne Autos" erklärt sich von selbst, im Grunde auch "Alle Tiere sind frei": In dieser Vision ist Fleischverzehr die absolute Ausnahme, die Folgen: "Die Menschen ernähren sich gesund und müssen selten zum Arzt oder ins Krankenhaus … auf der ganzen Welt gibt es genug Wasser für Mensch und Tier" – Clemens Tönnies dürfte damit als potentieller Käufer des Buches ausscheiden. Am radikalsten unter den positiven Visionen ist aber wohl "Eine Welt ohne Grenzen": "Boden, Wasser und Luft gehören allen Menschen … Es gibt kein Militär und keinen Krieg." Das freut vermutlich nicht nur die Kommunisten unter den Eltern. Aber ob davor die Weltrevolution stand? Das verrät das Buch nicht.
Das ist bei allen Visionen gleich: Wie es zu den dargestellten Szenarien kam, wird nicht thematisiert. Auch nicht bei den weniger positiven Visionen wie "Die Luft wird dünn", "Nach der großen Flut", "Leben im Raumschiff" oder "Zeitalter der Dürre". Aber es wird gezeigt, wie sich die Menschen an die neue Situation anpassen – und in allen Szenarien anhand einer immer wiederkehrenden Familie, bestehend aus Mutter Franziska, Vater Christian, Oma Christa, den Töchtern Lena und Sophie, dem Sohn Louis und der Hündin Bella.
Auch bei den Dystopien gibt es Abstufungen: Während sich bei dünner Luft, großer Flut und Leben im Raumschiff noch sagen ließe, da haben wir uns doch ganz gut eingerichtet, wirkt das "Zeitalter der Dürre" mit am bedrohlichsten: Die Hälfte der Menschheit und die meisten Tiere sind verdurstet, Afrika ist unbewohnt, es herrscht das Recht des Stärkeren und es gibt bewaffnete Gangs, ständig haben alle Hunger und Durst, und es gibt große Flüchtlingsströme, die an den Grenzen gewaltsam abgehalten werden. Und das Bild von Menschen auf einem hohen, mit Stacheldraht bewehrten Grenzzaun, während unten Polizisten warten, erinnert doch sehr an die Nachrichtenbilder von den nordafrikanischen spanischen Exklaven oder von der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze.
Nah an der Gegenwart ist auch "Die Virus-Pandemie", die teils wie eine Beschreibung der ersten Phase der Corona-Pandemie aussieht und sich auch so liest. Die Familien langweilen sich zuhause, Vater Christian näht Mundschutze aus Stoffresten – vorbildliche Rollenbrechung, aber Stoffmasken sind sowas von 2020. Okay, das Buch kam 2021 raus.
Kein Atomkrieg, dafür ein bisschen Quatsch
Wie eine Reminiszenz an die 1990er wirkt dagegen das Szenario "Wenn ein Sonnenstrahl tötet" – hier ist die Ozonschicht zerstört, die Menschen gehen nur noch in der Dunkelheit raus. Und was völlig fehlt, sind postatomare Visionen – ob nach einem Super-Gau oder Nuklearkrieg – die bei einem entsprechenden Kinderbuch aus den 1980ern wohl Pflicht gewesen wären. Stattdessen muss auch mal ein bisschen Quatsch sein, wie die Vision "Kinderparadies". In ihr haben die Kinder die gleichen Rechte wie Erwachsene, und "Zähne werden von selber sauber und müssen nicht geputzt werden. Verletzungen werden weggezaubert". Schön wär's. Interessanter ein anderes Detail: Es gibt keine Schulpflicht mehr. Aber alles "was keinen Spaß macht, wird in Spaß verwandelt. Deswegen wollen die Kinder unbedingt in die Schule." Mal drüber nachdenken, Frau Schopper.
2 Kommentare verfügbar
Robert
am 08.09.2022