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Roter Winkel

Hetze auf dem Rücken der NS-Verfolgten

Roter Winkel: Hetze auf dem Rücken der NS-Verfolgten
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US-Präsident Donald Trump hat seine "Stop Antifa"-Kampagne jüngst mit einem roten Winkel unterlegt, dem Symbol, mit dem die Nationalsozialisten in Konzentrationslagern politische Gefangene markierten. Wir fragen: Geht's noch? Und zeigen Gesichter derer, die das rote Dreieck tragen mussten und in ihrem Leben unermessliches Leid erfahren haben.

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Weltweit sorgte US-Präsident Trump in der vergangenen Woche für Empörung, als er via Facebook seine "Stop Antifa"-Kampagne nach den massiven Protesten gegen den Mord an George Floyd mit auf dem Kopf stehenden roten Dreiecken illustrieren ließ – Anlass für Facebook, erstmals in seiner Geschichte einen Post von Trump beziehungsweise dessen Wahlkampfteam zu sperren. Begründung: Das aus dem Nationalsozialismus stammende Symbol sei ein Verstoß gegen die Online-Regeln des Netzwerks gegen "organisierten Hass".

Erfunden wurde das rote Dreieck, roter Winkel genannt, in den Lagern als politisches Symbol von der SS. Ab Mitte der 1930er Jahre mussten Häftlinge in den Konzentrationslagern neben ihrer Haftnummer je nach Haftgrund verschiedenfarbige Winkel auf der Kleidung tragen. Die Kennzeichnung trug dazu bei, Gegensätze und Rivalitäten unter den Haftgruppen zu schüren.

Politische Häftlinge mussten einen roten Winkel tragen – eine Anleihe an die Farbsymbolik der Arbeiterparteien SPD und KPD. Tatsächlich waren vor allem in der Frühphase der NS-Herrschaft die meisten politischen KZ-Häftlinge Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen. Zu den prominentesten KZ-Häftlingen zählten der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann, der Pazifist Carl von Ossietzky und der spätere SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher. Aber auch christliche und bürgerliche Gegner*innen der Nazis wurden als politische Häftlinge in die Gefängnisse und Konzentrationslager eingewiesen – der Zentrums-Politiker und frühere württembergische Staatspräsident Eugen Bolz etwa oder sein Parteifreund Theodor Roeingh, der während der Weimarer Republik dem preußischen Abgeordnetenhaus angehört hatte und 1945 im KZ Bergen-Belsen starb; ein Schicksal, das er mit sieben ehemaligen Reichstagsabgeordneten und dem früheren Ministerpräsidenten des Freistaates Braunschweig Heinrich Jasper (SPD) teilte. Sie alle trugen den roten Winkel.

Nach Kriegsbeginn waren die meisten politischen KZ-Häftlinge Nichtdeutsche: Hunderttausende Männer und Frauen aus allen Teilen Europas wurden als Angehörige des Widerstandes gegen die deutschen Besatzer in die Konzentrationslager deportiert. Auch sie mussten – wie zahlreiche polnische und sowjetische Zwangsarbeiter*innen, die wegen Verstößen gegen die repressiven Aufenthalts- und Arbeitsbestimmungen in die KZs eingewiesen wurden – den roten Winkel tragen, ergänzt um einen Buchstaben, der auf die Nationalität hinwies. Franzosen etwa trugen einen roten Winkel mit dem Buchstaben "F", Belgier ein "B" und Polen ein "P". Sowjetische Häftlinge trugen ein "R", unabhängig davon, ob sie Russen, Weißrussen oder Ukrainer waren. Das politische Spektrum der politischen Gefangenen, die etwa drei Viertel aller KZ-Insassen stellten (andere Gruppen waren Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas sowie als "Berufsverbrecher" oder "Asoziale" Eingewiesene), war weit gefasst: Es reichte von Kommunist*innen und Anarchist*innen über Anhänger*innen der parlamentarischen Demokratie bis hin zu Monarchist*innen und Nationalist*innen. Sie alle einte die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus beziehungsweise zu den deutschen Besatzern in ihren Herkunftsländern.

Recht treffend fasste das breite Spektrum Rudolf Küstermeier zusammen. Der ehemalige Sozialist, er hatte 1933 in Berlin die Widerstandsgruppe "Roter Stoßtrupp" mitgegründet, hatte die Konzentrationslager Sachsenhausen und Bergen-Belsen überlebt und gründete später die Tageszeitung "Die Welt". Nach seiner Befreiung schrieb er über seine politischen Mithäftlinge in Bergen-Belsen: "Es gab Kriegsgefangene und ausländische Zivilarbeiter, die der Faulheit oder des Ungehorsams bezichtigt worden waren oder auch der Teilnahme an antideutschen Verschwörungen und Propagandaaktionen; […] Polen, die im Warschauer Aufstand mitgekämpft hatten, jugoslawi­sche und slowakische Partisanen. Da waren Widerstandskämpfer aus allen deutsch besetzten Gebieten, ferner deutsche Kommunisten, Sozia­listen, Pazifisten, Liberale und Gläubige jedes religiösen Bekenntnisses. Einige von ihnen waren aktive Antinazisten gewesen, einige hatten nur fremde Sender abgehört, eine kritische Meinung geäußert, sich irgend­wie 'verdächtig' gemacht."

Zu den aktiven "Antinazisten", von denen Küstermeier schrieb, gehörten Widerstandskämpfer*innen aus allen Teilen Europas. Viele von ihnen wurden in den Konzentrationslagern ermordet. Die Überlebenden kehrten 1945 in ihre Herkunftsländer zurück. Im stalinistisch regierten Osteuropa wurde ihnen die Anerkennung jedoch vielfach verwehrt. In der Sowjetunion etwa galten sie als potentielle Verräter; es war verdächtig, dass sie in deutscher Haft überlebt hatten. In Polen wiederum hatten die meisten Widerstandskämpfer*innen der Armia Krajowa angehört, der polnischen Heimatarmee, in der katholische nationalpolnische Positionen überwogen, die in Konflikt mit der kommunistischen Regierung gerieten. Aus Angst vor Repressionen durch die Machthaber in Warschau kehrten viele polnische KZ-Überlebende deshalb nicht in ihre Heimat zurück und wurden dabei durch die polnische Exilregierung in London unterstützt.

Die Mitglieder der französischen und der belgischen Résistance hatten es einfacher. In Westeuropa galten die Heimkehrer aus den Konzentrationslagern überwiegend als Helden, die dazu beigetragen hatten, ihre Länder von der deutschen Besatzungsherrschaft und vom Nationalsozialismus zu befreien. Deutlich zeigt das etwa ein Foto, das am 1. Mai 1945 in Paris aufgenommen wurde: Unter dem Jubel der Bevölkerung marschieren Männer, die erst zwei Wochen zuvor in Bergen-Belsen befreit worden waren, in KZ-Kleidung mit dem roten Winkel über die Champs-Élysées. Fast alle KZ-Überlebenden, die auf dem Foto in der ersten Reihe zu erkennen sind, wurden später hohe Generäle in der französischen Armee.

Auch Bernard d’Astorg stieg nach seiner Befreiung im französischen Militär auf. Als Mitglied der Résistance war er 1943 verhaftet und über das KZ Buchenwald in das KZ Mittelbau-Dora verschleppt worden. Im April 1945 war er in Bergen-Belsen von den Briten befreit worden – anders als sein Vater Joseph d‘Astorg, der dort an den Folgen von Hunger, Misshandlungen und Krankheiten starb. Nach einer langen Karriere als Berufsoffizier wurde General d’Astorg 1977 französischer Stadtkommandant in West-Berlin. Einige Jahre später begann er, sich in KZ-Überlebendenverbänden zu engagieren. 2017 starb er in Paris. Zuvor hatte er der Gedenkstätte Mittelbau-Dora seine erhalten gebliebene blau-grau gestreifte Häftlingsjacke übergeben, die seither in der Dauerausstellung präsentiert wird. Auf der Brustpartie trägt sie den roten Winkel und die Häftlingsnummer: 20181.

Auch viele Menschen aus Belgien und Polen wurden als politische Häftlinge in die Konzentrationslager verschleppt – die Polin Maria Dzieduszycka etwa, die 1944 von der Gestapo wegen Unterstützung der Armia Krajowa zusammen mit ihrer Schwester nach Ravensbrück und Buchenwald deportiert wurde und kurz nach der Befreiung im KZ Bergen-Belsen starb. Der Belgier Leopold Cleassens hatte hingegen Glück und überlebte, nachdem er im Alter von 20 Jahren in die KZs Herzogenbusch, Buchenwald, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen verschleppt worden war. Allerdings litt er bis zu seinem Tod im Jahr 2011 an den körperlichen und psychischen Folgen der KZ-Haft.

Nach 1945 verwandten vor allem die deutschen ehemaligen politischen Häftlinge, aber auch Überlebende aus Polen, der Sowjetunion und den westeuropäischen Staaten sowie Italien den roten Winkel als eine Art Ehrenzeichen des antifaschistischen Widerstandskampfes. Die 1945 in Regionalverbänden und 1947 deutschlandweit gebildete "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" (VVN), zu der neben den politisch Verfolgten auch viele jüdische Überlebende der Shoah zählten, führte und führt den roten Winkel ebenso in ihrem Logo wie diverse andere Verbände ehemaliger KZ-Häftlinge – eine bewusste Gegennutzung eines vormaligen Symbols der Unterdrückung. Wenn sich Überlebende zu Veranstaltungen treffen, dann tragen viele heute noch ein Halstuch, Armbinden oder Sticker mit dem roten Winkel. Und auch auf vielen frühen Denkmälern für NS-Verfolgte ist heute noch der rote Winkel zu sehen. Im Thüringer Harz-Örtchen Sülzhayn etwa erinnert auf dem Gemeindefriedhof ein 1947 von der VVN aufgestellter und mittlerweile nahezu vergessener Gedenkstein mit einem roten Winkel an 55 Häftlinge aus dem KZ Mittelbau-Dora, die noch nach ihrer Befreiung an den Folgen der Haft starben und in Sülzhayn bestattet wurden. Allerdings waren darunter nicht nur politische Häftlinge, sondern auch Juden, die mit dem roten Winkel gewissermaßen zu politischen Häftlingen umgedeutet wurden – eine Reduzierung der Erinnerung auf die politischen (und hier vor allem auf die kommunistischen) Häftlinge, wie sie für die spätere DDR typisch war.

Doch trotz der Vereinnahmung durch den staatsoffiziellen DDR-Antifaschismus und manche heutigen politischen Gruppen: Der rote Winkel steht historisch für die ganze Bandbreite der Verfolgung politischer Gegner*innen durch das NS-Regime. Bernard d’Astorg, Leopold Claessens, Maria Dzieduszycka, Heinrich Jasper, Rudolf Küstermeier, Theodor Roeing, Ernst Thälmann und ihre unzähligen Mithäftlinge aus allen Teilen Europas trugen mit ihrem Widerstand dazu bei, dass der Nationalsozialismus besiegt wurde. Sie waren Verbündete der alliierten Armeen, auch der Amerikaner.

Umso perfider ist es, wenn Donald Trump das Zeichen, mit dem die Nazis ihre politischen Gegner kennzeichneten, nutzt, um den angeblich gefährlichen "Mob" zu brandmarken, der gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstriert und den er als Feind ausgemacht hat. Er stigmatisiert damit nicht nur seine politischen Gegner*innen mit einem von der SS eingeführten Symbol, sondern offenbart auch eine geschichtsvergessene Verachtung für alle, die gegen die Nationalsozialisten gekämpft haben – letzten Endes auch die US-Soldaten, die Seite an Seite mit der Résistance gegen die Wehrmacht kämpften und die im Frühjahr 1945 Zehntausende überlebende Häftlinge mit dem roten Winkel aus den Konzentrationslagern befreiten.


Jens-Christian Wagner forscht zur Geschichte des Nationalsozialismus, insbesondere zu Zwangsarbeit und Konzentrationslagern. Seit 2014 leitet er die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und ist Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen.


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2 Kommentare verfügbar

  • Peter Nowak
    am 27.06.2020
    Antworten
    Ein sehr wichtiger Artikel. Doch politisch mißverständlich ist die Passage, dass vielen KZ-Überlebenden "im stalinistisch regierten Osteuropa" die Anerkennung verweigert wurde und sie sogar als Verräter galten. Letzteres kann historisch für gefangene Sowjetsoldaten festgestellt werden, nicht aber…
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