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Günther F.: Wir Kinder vom Österreichischen Platz

Günther F.: Wir Kinder vom Österreichischen Platz
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 Fotos: Jens Volle 

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Datum:

Der Österreichische Platz – ein grässlicher Schandfleck! Gäbe es da nicht diverse Initiativen, die Stuttgarts Un-Ort Nummer eins seit einigen Jahren beleben und bespielen. Mit bunten Aktionen, aufrüttelnden Veranstaltungen, Flohmärkten, Wohnprojekten, Installationen – kurz: mit bunten Ideen und Gedanken. Die neuesten lesen Sie hier.

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Es war wie immer, ein sonniger Tag in einer tristen Betonmetropole. Der UV-Index weit über Durchschnitt. Außer massiven Betonbrücken und Bauwerken liefert kein Baum mehr kühlenden Schatten. Die ganze Stadt scheint zu schwitzen. Wir befinden uns im Jahre 2050 nach Christus. Ganz Stuttgart ist von Hitze-Inseln und Lithium-Bombern besetzt. Ganz Stuttgart? Nein! Ein von unbeugsamen Stadtgestalten bevölkerter Platz hört nicht auf, dem Klimawandel und der Trostlosigkeit der Stadt Widerstand zu leisten.

Genau der richtige Ort, um der andauernden Hitze zu entfliehen. Ich versorge meine Haut mit Lichtschutzfaktor 80 und mache mich mit dem Fahrrad auf den Weg zum Österreichischen Platz.

Walter Wüllenweber. Foto: Martin Storz

Foto: privat

Gewinner-Gruppe: In einem viertägigen Workshop des Reallabors für nachhaltige Mobilitätskultur der Uni Stuttgart haben Studierende aller Fächer kleine Erzählungen geschrieben, die eine andere, positive Perspektive auf den Österreichischen Platz eröffnen. Gewonnen hat den Wettbewerb eine fünfköpfige Gruppe mitsamt ihrer Tutorin. Ihre Science-Fiction-Geschichte veröffentlichen wir hier. Die AutorInnen: Jan-Simon Boschen (Technologiemanagement), Steffen Kuhne (Fahrzeug- und Motorentechnik), Philipp Lukas Metzler (Nachhaltige Elektrische Energieversorgung), Annabel Stoffel, Michael Harder und die Tutorin der Gruppe Luise Sanders (alle drei Masterstudiengang Planung und Partizipation). (red)

Da erhalte ich einen unerwarteten Anstoß von einem autonom fahrenden Auto im "Shared Space" auf der Tübinger Straße. Die leise summenden Elektrofahrzeuge sind schon lange keine Seltenheit mehr und tummeln sich um die wenigen Fahrradfahrer. Auf der Fahrradstraße ist es kaum besser. Schweiß gebadet am Österreichischen Platz angekommen, fülle ich meine Trinkflasche am Brunnen auf und setze mich in der Nähe des Kiosks in eine Hängematte, um auf meine Freunde zu warten. Günther, der Kiosk-Besitzer, setzt sich zu mir. Sein weißer Bart blendet mich. Wie immer fängt Günther an zu erzählen: 

"Weißt du, als ich so alt war wie du, da sah hier noch alles ganz anders aus. Anstelle der Strandbar war hier eine Tankstelle, thronend inmitten verstopfter und stinkender Straßen. Unten auf den dunklen Parkdecks, wo wir heute auf einem idyllischen Strand sitzen, fanden die besten Raves statt. Die Hochtöner der Tonkünstler waren das einzige, das den Lärm der Stadt übertönen konnte. Ich war damals noch ein junger Student. Meine Eltern hatten große Erwartungen an mich. Das einzige, was größer war als die Erwartungen, war mein Taschengeld. Und so schlug ich mir hier am Österreichischen Platz die Nächte um die Ohren. Vor den Raves gingen wir bei Toni an der Tanke vorbei. Nach dem Bezahlen fuhr er sich immer durch seinen langen weißen Bart und ermahnte uns mit einem Augenzwinkern, anständig zu bleiben. So schlug ich mir Nacht um Nacht um die Ohren und vernachlässigte zunehmend mein Studium. Die Begeisterung meiner Eltern über meinen Lebensstil war ungefähr so groß wie die meiner Professoren über meine Leistungen. Kurzum: 5,0. Exmatrikulation. Als meine Eltern abermals Drogen bei mir fanden, eskalierte die Lage. Auf einen Schlag war ich mittellos und auf mich allein gestellt. 

Somit gab es kein Zurück mehr. Ich war gezwungen, mich in eine neue Welt zu begeben, deren Regeln ich erst noch lernen musste. In meiner Einsamkeit ging ich an den Ort, der mir schon so oft Zuflucht bot. So landete ich wieder bei Toni an der Tanke, doch diesmal auf der anderen Seite der Ladentheke. Toni bot mir an, für ihn zu arbeiten, um so mein eigenes Geld zu verdienen. In der ersten Zeit konnte ich in der Tankstelle übernachten.

Mein Einkommen würde für eine kleine Besenkammer in einer überladenen WG in einem der Wohnheime reichen. So hätte es wohl enden können, doch ich hatte noch nicht genug gelernt. Mit meinen Eltern hatte ich schnell abgeschlossen, mit den Drogen und meinem damaligen Lebensstil jedoch nicht. Schnell vermisste ich meinen alten Wohlstand. Um zu meinem dekadenten Leben zurückzukommen, musste ich mir eine neue Einnahmequelle erschließen. Auf der Suche kam ich mit dem Dealer meines Vertrauens ins Gespräch. Dieser eröffnete mir ganz neue Möglichkeiten. In einer weiteren umtriebigen Nacht kamen wir auf die Idee, die Ladentheke der Tankstelle für meine Deals zu nutzen. Der Return of Investment lag bei 400 Prozent.

Toni bekam Wind von der Sache und war ganz und gar nicht begeistert. Als er mich nach der zweiten Abmahnung wieder beim Dealen erwischte, geriet die Situation außer Kontrolle. Es kam zu einem handgreiflichen Gemenge. Als ich wieder zu mir kam, lag Toni tot auf dem Boden. Das war für mich ganz persönlich die größte Katastrophe meines Lebens. In meiner Anklage stand, dass ich Toni in meinem Rausch mit der Waffe, die er gegen Raubüberfälle unter dem Tresen aufbewahrte, erschossen hätte. Die nächsten 15 Jahre verbrachte ich in Stuttgart-Stammheim. 

In der Einsamkeit meiner Zelle, vergleichbar mit der tristen Situation unter der Paulienenbrücke, kam mir die Erkenntnis. Da merkte ich endlich, dass ich es die ganze Zeit falsch gesehen hatte: In Wirklichkeit hatte ich mein Leben nicht so in den Griff bekommen, wie ich mir dies vorstellte. Meine Unabhängigkeit musste ich wohl auf legalem Wege bestreiten. Geblendet vom neuen, hellen, umgestalteten Österreichischen Platz eröffnete ich den Kiosk Zum Toni, um die Erinnerung an meinen Retter Toni aufrecht zu erhalten. Er würde sich freuen, wie sich dieser Platz verändert hat. Heute sind dieser Ort und ich nicht mehr derselbe wie zuvor, wir sind an dieser Geschichte gewachsen!" 

Zwischenzeitlich sind meine Freunde zu uns gestoßen. Günther verschwindet wieder in seinem Kiosk. Wir sitzen noch eine Weile in den Hängekörben im Schatten der Solarkuppel und genießen unsere veganen Drinks. Der Lärm aus Günthers Geschichte ist heute nicht mehr präsent. Aus dem Verkehrsgiganten über uns wurde ein Kreisel. Die Elektroautos und das städtische Tempolimit von 30 km/h zeigen wenigstens hier ihren Zweck. Wir trinken unsere Drinks leer und bringen die Recycling-Becher wieder zu Günther, der sich mit den Worten: "Bleibt anständig, Jungs!" verabschiedet.


Info:

Weil in der Zukunft vieles automatisiert sein wird, gibt es die Story auch <link https: www.youtube.com _blank external-link>als Hörversion, gesprochen vom Computer.


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