Alex Mögelin ist der dritte Leiter der "Soko Parkplatz". Dritter Leiter, das klingt verdächtig. Allerdings kann der 41-Jährige nachvollziehbar erklären, wie es dazu kam und wie er sich im Juni 2010 eingearbeitet hat. Und wieso es sogar von Vorteil war, noch einmal, auch in einer Klausur, alle Aspekte zu drehen, zu wenden und zu durchleuchten. 5017 Spuren und 1031 Hinweise liegen auf dem Tisch. 13 davon hat der Kriminaloberrat, inzwischen in die Führung des Landeskriminalamts aufgerückt, für diesen Vor-Ort-Termin des Untersuchungsausschusses ausgewählt. Nach einer Schweigeminute vor dem Gedenkstein und der Einführung rund um ein Polizeiauto, das so geparkt ist wie damals der Wagen der beiden Opfer, kündigt der Ausschussvorsitzende Wolfgang Drexler (SPD) einen Fußmarsch von etwa zwei Kilometern an. Viele im Tross, der gut hundert Interessierte zählt, halten das für einen Scherz.
Zu Unrecht. Denn Spur 22, der Bericht eines Zeugen, der vermutlich um 14.30 Uhr einen blutverschmierten Mann in ein dunkles Auto hechten und einen anderen "Dawai, dawai!" ("Los, los!") rufen hörte, liegt im Süden Richtung Sontheimer Brücke. "Welchen vernünftigen Grund hätte es für die Täter gegeben, hierher zu fliehen?", wird später der FDP-Obmann im Ausschuss und Ex-Justizminister Ulrich Goll fragen. Es sei keiner bekannt, antwortet der Polizeibeamte.
Die Lektüre der 24 Seiten, die der Bundestagsausschuss in seinem im Juli 2013 vorgelegten Abschlussbericht dem Fall Kiesewetter widmete, hatte viele Fragen aufgeworfen. "Mögliche Ermittlungspannen" heißt eine der Kapitelüberschriften. Es wäre auch Aufgabe der vom baden-württembergischen Innenminister Reinhold Gall (SPD) eingesetzten EG Umfeld gewesen, sich detailliert mit den dort aufgeführten Spuren und dem Tadel zu befassen, der nicht nur zwischen den Zeilen herauszulesen ist. Stattdessen listet die im Januar 2014 vorgelegte, gut 200 Seiten starke Stellungnahme Einzelheiten vor allem kursorisch auf. Spekulationen über Pannen, über angeblich unterdrückte Hinweise und unausgewertet gebliebene Spuren waberten deshalb immer weiter.
In Heilbronn, vor Ort, verlieren sie deutlich an Gewicht. Er sei überrascht, sagt SPD-Obmann Nik Sakellariou in seinem Resümee der inzwischen 18. Sitzung des Ausschusses, wie unterschiedlich die Eindrücke "nach Aktenstudium und Inaugenscheinnahme" sein können. "Die Entfernungen abzugehen war für uns sehr wichtig", so Drexler.
An der Kreuzung am südöstlichen Ende der Theresienwiese hält die Polizei den Verkehr an. Die Abgeordneten, die Journalisten und Zuschauer überqueren die Straße an der Stelle, an der die Zeugin Liselotte W. durch ihr offenes Schiebedach zwei Schüsse gehört und gedacht hatte, das Frühlingsfest werde eröffnet. "Dann habe sie jedoch bemerkt, dass dieses noch nicht begonnen hatte, und hielt an einer Ampel", hieß es im Abschlussbericht des Bundestags. Und weiter: "Die Zeugin habe dort einen Mann mit Blutantragungen in ein Auto steigen sehen, welches sie zunächst als dunkel, später als hell beschrieben habe."
Diese Spur brachte es zu einiger Berühmtheit, weil ganz und gar unerklärlich schien, warum die Behörden dieser Aussage nicht intensiver nachgegangen waren. Jetzt wird deutlich, dass es so nicht gewesen sein kann: Der Tatort ist zu weit entfernt von der Ampel. Entweder hat die Zeugin die Schüsse gehört oder einen blutverschmierten Mann gesehen. Und zudem: "Nicht jeder, der eine blutverschmierte Person gesehen haben will, hat auch eine gesehen", schöpft Mögelin in vielen Jahren Erfahrung. Bestimmte Aussagen zum Thema Blut konnten zur Gänze entschärft werden: "Ein Mann hatte Nasenbluten, ein anderer hatte sich bei der Oma verletzt."
Der Ausschuss hat im Zusammenhang mit dem Fall Florian Heilig, der in Stuttgart auf dem Wasen-Gelände in seinem Auto verbrannte, schon einige Erfahrung mit mangelhafter Polizeikompetenz gesammelt. Mögelin macht mit souveränem Auftreten einiges wieder wett. Er erläutert die umfangreichen Zeit-/Wegberechnungen, er stellt die nahezu minutenscharf erhobenen Lücken in den Zeugenaussagen dar ("Wir haben das Problem, dass alles, was dazwischenliegt, Spekulation ist"), er gibt einen Einblick in die Herangehensweise. Das Fazit: Es gibt "keine korrespondierenden Hinweise". Im Klartext: Die Zeugenaussagen passen entweder nicht zueinander oder nicht zu den Fakten. Und er schildert, wie die Auswahl des Tatorts analysiert wurde: "Wenn Polizei angegriffen werden sollte, war dieser Platz sehr gut geeignet." Hingegen hätte es bei "persönlichen Motiven", wenn es den Tätern also konkret um diese beiden Polizisten gegangen wäre, "geeignetere Tatorte" gegeben.
Der Beamte verweist nicht nur auf den erhöhten Fahrradweg direkt am Neckar, wo jetzt der Gedenkstein steht, sondern vor allem auf das nahe gelegene Stellwerk der Bahn mit einem Blick auf das Gelände wie aus dem dritten Stock eines Hauses. Natürlich habe die Polizei 2007 "umfangreich ermittelt", alle in Frage kommenden Bahnmitarbeiter hätten in den entscheidenden Minuten am 25. April, kurz vor oder kurz nach 14 Uhr, nicht aus dem Fenster in Richtung Theresienwiese geschaut. Aber allein darin, dass sie diese Möglichkeit in Kauf nahmen, sieht Drexler einen Beleg für deren "kaltblütige Risikoabschätzung".
Zudem war dem schwerst verletzten Polizisten Martin Arnold, dem Kollegen von Michèle Kiesewetter, die Dienstwaffe mit großem Energieaufwand aus dem Holster gerissen worden. "Der Täter wollte die Waffe so sehr", sagt Mögelin, "dass der Kollege aus dem Wagen gezogen wurde." Auch Handschellen und Taschenlampen hätten die Täter mitgenommen. Von den Zeugen und Zeuginnen, die zum fraglichen Zeitraum Meldungen machten, hat niemand von Menschen mit Rucksäcken oder Taschen berichtet.
Der Auschussvorsitzende Drexler enthält sich zwar jeder Bewertung, sieht aber in den jetzt gewonnenen Informationen eine wichtige Basis für die Zeugenvernehmungen zu Heilbronn, die noch vor Pfingsten beginnen sollen. Sakellariou wird deutlicher: "Ich bin sicher, dass der Berliner Ausschuss Aussagen anders gewichtet hätte, wäre er ebenfalls vor Ort gewesen." Jetzt ergäbe sich "ein stimmigeres Bild".
Er jedenfalls hätte den Sachverständigen, die zum Auftakt der Ausschussarbeit im Landtag auftraten und Zweifel an der Polizei-These äußerten, Kiesewetter seien die zufälligen Opfer zweier Täter geworden, "ganz andere Fragen gestellt, wäre ich da schon vor Ort so ausführlich über die Lage unterrichtet gewesen". Am 22. Mai werden noch einmal Zeugen zur Vorbereitung der Arbeit rund um den Fall Kiesewetter gehört. Nach Pfingsten will Drexler den Komplex Ku-Klux-Klan im Land und die möglichen Verbindungen zum NSU aufrufen.
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4 Kommentare verfügbar
Barolo
am 10.05.2015Da sind andere Online Medien weit investigativer z.B.
http://friedensblick.de/16327/aliens-gnadenloser-machtkampf-um-den-nsu-untersuchungsausschuss-baden-wuerttemberg-ausgebrochen/
Warum nicht mehr Mut?
Oder ist das gegen die Linie der TAZ?
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