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Cem Özdemir

"Es macht mich wütend"

Cem Özdemir: "Es macht mich wütend"
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Seit Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu verhaften ließ, demonstrieren in der Türkei Hunderttausende. Cem Özdemir (Grüne) gehört zu den profiliertesten Kennern und Kritikern der Ära Erdoğan. Im Kontext-Interview hofft der "anatolische Schwabe", wie er sich selbst nennt, auf deutliche Worte aus dem Westen.

Die massiven Demonstrationen scheinen zu zeigen, dass die Türkei am Scheideweg steht. Wie beurteilen Sie die Lage, Herr Özdemir?

Erdoğan hat Angst vor der nächsten Präsidentschaftswahl – selbst wenn die Wahlen unfair sind. Er fürchtet sich vor starken Konkurrenten wie Ekrem İmamoğlu, die für eine pluralistische Gesellschaft stehen. Erdoğan hat mit Selahattin Demirtaş, dem Vorsitzenden der HDP, schon einmal einen Konkurrenten quasi aus dem Weg geräumt. Demirtaş sitzt seit 2016 ohne nachvollziehbaren Grund im Gefängnis. Das gilt auch für Osman Kavala, einen Kulturmäzen, dessen einziges Vergehen, in Anführungszeichen, darin bestand, sich für die Vielfalt in der Türkei einzusetzen und Demirtaş zu unterstützen. Mich ärgert, dass darüber kaum jemand spricht. Erdoğan weiß natürlich, dass der Westen das Nato-Mitglied Türkei braucht. Aber das darf doch nicht bedeuten, dass wir wegsehen.

Das ist ein hartes Urteil. Woran machen Sie das fest?

Wir dürfen uns nicht blenden lassen. Kurzfristig hat Erdoğan einen Dialogprozess mit dem inhaftierten PKK-Gründer Abdullah Öcalan eingeleitet. Das wird von manchen als Öffnungsprozess interpretiert. Öcalan hat wie jeder andere auch ein verfassungsmäßiges Verfahren unter fairen Bedingungen verdient. Aber wir sollten nicht vergessen, dass Öcalan nicht gerade ein pazifistischer Freiheitskämpfer war. Viele Tote säumen seinen Weg, darunter auch Kurden, die seinen Weg nicht gehen wollten. Leute wie Demirtaş hingegen setzen sich ernsthaft und friedlich in der Kurdenfrage ein. In der öffentlichen Wahrnehmung kommen sie zu kurz.

Was für die Demonstrierenden gerade nicht gilt. Zehntausende Menschen sind auf der Straße, trotz Demonstrationsverbot und hohem persönlichem Risiko. Und über Sie wird auch berichtet. Viele Menschen, die sich für die Türkei interessieren, fühlen sich an 2013 erinnert. Da hatte der geplante, später durchgezogene Umbau des Gezi-Parks in Istanbul wochenlange landesweite Proteste ausgelöst. Die sind auch als Ausdruck eines starken Willens in der Zivilgesellschaft gewertet worden, sich für mehr Demokratie einzusetzen. Wo liegen die Unterschiede zur aktuellen Entwicklung? Den Gezi-Park-Demonstrationen war kein Erfolg beschieden.

Die Demonstrierenden im Gezi-Park kamen zunächst aus der Subkultur. Viele haben mit ihnen sympathisiert, es war aber keine Massenbewegung im ganzen Land. Das könnte nun anders werden. İmamoğlu ist wiedergewählter Bürgermeister von Istanbul. Seine Partei war bei den Kommunalwahlen landesweit stärkste Kraft. Für Erdoğan gilt: Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei. Das darf in seinen Augen niemand anderes als er selbst. Hinzu kommt wie gesagt, dass İmamoğlu ein ernstzunehmender Konkurrent bei den nächsten Präsidentschaftswahlen ist.

Was kann der Westen tun?

Die weltpolitische Lage ist extrem fragil und komplex. Ich bin nicht weltfremd, ich bin Realist. Europa muss geostrategische Interessen vertreten, wir müssen auch mit autokratischen Regimen reden und verhandeln. Aber wir dürfen nicht blind und taub werden. Der türkischen Regierung steht eine zunehmend kritische Zivilgesellschaft gegenüber. Diese können und müssen wir stärken. Wichtig ist auch, dass Medien tatsächlich frei berichten können. Auch das können und müssen wir einfordern. Immerhin möchte die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden, viele Menschen dort richten ihre Antennen gen Westen. Auch sie erwarten, dass wir Klartext sprechen.

Dass die Nato und die EU Erdoğan brauchen, ist aber eine Tatsache.

Deswegen ist die Türkei Gesprächspartnerin, wir müssen in wichtigen Themenfeldern zusammenarbeiten. Man steht politisch immer wieder vor Zielkonflikten, gerade auf der internationalen Ebene. Es braucht eine robuste Sprache und Haltung. In Europa neigen wir allerdings dazu, zu vergessen, dass andere auch uns brauchen. Wir sind ein wichtiger Absatzmarkt für die Türkei, es gibt eine enge wirtschaftliche Verflechtung. Wir sollten nicht so tun, als seien wir Bittsteller.

Ein Außenminister Cem Özdemir hätte sich da die Kritik gefallen lassen müssen, nicht diplomatisch genug zu sein.

Die Zwänge dieses Amtes habe ich nicht. Aber man sollte nicht vergessen, was Diplomatie bedeutet, nämlich die effektive Wahrnehmung außenpolitischer Interessen. Und wir haben nicht nur ein Interesse an einer engen Partnerschaft mit der Türkei, sondern auch ein Interesse an Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Naivität im Umgang mit Autokratien können wir uns wahrlich nicht mehr leisten.

Sie wollen Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden. In der türkischen Community in Deutschland, gerade auch in Baden-Württemberg, hat Erdoğan sehr viele Anhänger und seine Kritiker sind keineswegs beliebt. Kann eine Stimmung entstehen, die den Landtagswahlkampf belastet?

Viele Türkeistämmige in Deutschland kümmert natürlich, was in der Türkei passiert. Doch auch wenn Erdoğans Partei hierzulande viele Unterstützer hat, ist die Gruppe der Türkeistämmigen in Deutschland recht vielfältig. Ich kann nur immer wieder appellieren, sich politisch dort zu engagieren, wo der Lebensmittelpunkt ist. Es gibt so viele Erfolgsgeschichten. Die entscheidende Frage sollte sein: Wo fallen die Entscheidungen, die wichtig sind für meine Familie, für die Zukunft meiner Kinder? Und das ist hier, ob in der Gemeinde, in Stuttgart, Berlin oder Brüssel.

Heißt das, dass die deutsche Staatsbürgerschaft dem Doppelpass vorzuziehen ist?

Ich habe nur einen Pass und bin glücklich damit. Auch beim Doppelpass gilt: Die Menschen müssen Voraussetzungen erfüllen, niemand bekommt den Pass geschenkt. Und ein Doppelpass kann gerade der ersten Generation von Einwanderern die Tür in ihr neues Heimatland öffnen. Nach der dritten oder vierten Generation stellt sich durchaus die Frage, wie sinnvoll und berechtigt die weitere Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes ihrer Vorfahren ist. Aber wir können als Staat und Gesellschaft auch etwas dafür tun, dass diese Nachkommen von Migranten sich stark mit Deutschland identifizieren. Es ist jedenfalls nicht klug, wenn jemand wie ich, der in Deutschland geboren ist, als Ausländer in seinem Land auf die Welt kommt. Die Botschaft sollte von Anfang an immer sein: Hier gehörst du dazu, mache mit, engagiere dich – und zwar nach den Regeln und Pflichten, die hier gelten, die du demokratisch mitgestalten kannst.

Die Ampel hat das Staatsbürgerschaftsrecht reformiert und Einbürgerungen erleichtert. Zum Beispiel für Menschen, die erst ein paar Jahre in Deutschland sind, für sich selber sorgen und auch hier bleiben wollen. Erreicht das überhaupt türkische Mitbürger, die zum Teil schon sehr lange hier leben?

Wenn nicht, könnten wir sie aktiv fragen: Wollt ihr Bürger unseres großartigen Landes werden, das auch eures und das eurer Kinder geworden ist? Und wenn nicht, warum? Man kann das Bekenntnis zum Staat nicht erzwingen, aber man kann es einfordern oder zumindest ein Nachdenken darüber in Gang setzen. So etwas kann auch auf Ebene einer Gemeinde passieren. Im Verein. Überall, wo wir uns begegnen. Wir können so die Zugehörigkeit zu unserer Demokratie stärken. Deren Zukunft ist nicht selbstverständlich, und sie kann auch nicht staatlich verordnet werden – das müssen wir alle selbst in die Hand nehmen.

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6 Kommentare verfügbar

  • Gerald Wissler
    am 31.03.2025
    Antworten
    "1492 war letztlich der Startschuss, mit allen mörderischen Begleiterscheinungen für nicht geringe Teile der „entdeckten“ eroberten Welt außerhalb Europas."

    Sie sollten mal Ihre eurozentrische Sicht auf die Welt überdenken.
    Die Eroberungen der Araber (das ganze christliche Nordafrika, Spanien,…
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