KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Streikrecht

Genug ist nicht genug

Streikrecht: Genug ist nicht genug
|

Datum:

Dass Claus Weselsky und seine GDL benutzt werden, um das Streikrecht in Frage zu stellen, verwundert nicht. CDU, FDP und Arbeitgeberverbände sind sofort dabei. Neu ist, dass jetzt auch die Grünen meinen, es werde zu viel gestreikt.

Die Frage führt aufs Glatteis: Wie es zu bewerten sei, will ein Journalist auf der Pressekonferenz der baden-württembergischen Landesregierung wissen, dass "die GDL die Bahn und die Bahnreisenden in ihrer Faust hält". Ausgerechnet Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne), der seit vielen Jahren schlechte Erfahrungen mit der Deutschen Bahn macht, lässt sich davon zu der Behauptung verleiten, dass die Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) nicht kompromissbereit sei. Dass jeder neue Ausstand damit begründet wird, die eigenen Forderungen nicht zur Gänze durchgesetzt zu haben. "Ich glaube, es ist genug", meint der zum linken Spektrum der Grünen zählende Ex-Studienrat.

Parteifreund Robert Habeck geht noch weiter. Zu weit eigentlich für einen Bundeswirtschaftsminister, der von Amts wegen Perspektiven und Interessen beider Tarifparteien im Blick behalten soll. Deutschland könne sich gegenwärtig nicht leisten, dass "ein bisschen zu viel für immer weniger Arbeit gestreikt wird", sagt er. Er läuft auch nicht Gefahr, durch besondere Detailkenntnisse aufzufallen. Dabei zeigt gerade diese massive Auseinandersetzung bei der Bahn, wie sehr sie vonnöten wären.

"Äußerst giftiger Beipackzettel"

So ist die Ansicht weit verbreitet, die beiden sogenannten Moderatoren Daniel Günther, Ministerpräsident in Schleswig-Holstein, und der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maizière (beide CDU) hätten einen mehr als akzeptablen Kompromiss im Streit zwischen GDL und DB präsentiert. Er umfasst 22 Punkte. Viele wichtige Vorschläge zur Entgelterhöhung oder der Laufzeit von mindestens zweieinhalb Jahren, zu den Urlaubswahlmodellen oder zur Belastung an Wochenenden entziehen sich einer oberflächlichen Beurteilung. Schon in der Überschrift ist jedoch eine leicht fassliche Botschaft versteckt. Sie richtet sich nicht an die DB, sondern an die "AGV MOVE", den Arbeitgeberverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister. Mit 28 der 50 darin organisierten Eisenbahnunternehmen hat die Gewerkschaft die 35 Stunden ab 2028 bereits vereinbart. Diese Tarifverträge werden aber nur gültig, wenn auch die Bahn dabei mitmacht.

Außerdem hat die Bahn, wie Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) kritisiert, "dem Ganzen nach Abschluss der Moderation einen äußerst giftigen Beipackzettel beigefügt". Der einstige Gewerkschafter bringt Erfahrungen als Schlichter mit und die Bereitschaft, sich in die Details zu knien: "Die Beschäftigten sollen sich die Arbeitszeitverkürzung mit Verschlechterungen bei ihrem Urlaubsanspruch oder mit einem Schichtsystem bei Cargo erkaufen, was selbst ich als Zumutung empfinde." Die Bahn habe nach Moderationsende das Verhandlungsergebnis verändert und noch an anderer Stelle Vertrauen gebrochen, etwa durch den Bruch des Stillhalteabkommens. Die sogenannte "Pause in der öffentlichen Kommunikation" wurde vom Arbeitgeber Bahn nicht eingehalten.

Geschichtsvergessen ist, wenn jetzt in interessierten Kreisen wie vom Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, nach Veränderungen von Tarif- und Streikrecht gerufen wird – "für die Bahn und andere Bereiche". Denn die sogenannten Spartengewerkschaften wie die GDL beträchtlich zu stärken, war ausdrücklich gewünscht worden von seinesgleichen. Es gehöre eben auch zur Wahrheit, erinnert sich Franz-Josef Möllenberg, früher Chef der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG), bei einem Deutschlandfunk-Streitgespräch, "dass immer dann, wenn solche Spartengewerkschaften sich gegründet haben oder stärker geworden sind, wenn es gegen die DGB-Gewerkschaften ging, das mit Beifall belohnt worden ist, so nach dem Motto, da tut sich endlich mal Konkurrenz auf und da wird das Tarifkartell – böses Wort – endlich mal durchbrochen". Die Entwicklung zeige aber: "Jetzt haben wir den Salat."

Eine Entwicklung, für die Weichen in den Neunzigern gestellt wurden, als aus dem verschuldeten Staatsbetrieb ein privatrechtlicher Konzern und aus Bahnbeamt:innen, die bekanntlich gar nicht streiken dürfen, Zugbegleiter:innen wurden. Für die Unternehmensstrategie in den Folgejahren steht eine Zahl: 2010 zählte die DB weltweit 865 Tochtergesellschaften und Beteiligungen, inzwischen sind es etwa halb so viele. Das Jahr 2010 markiert zudem einen Paradigmenwechsel, angestoßen durch das Bundesarbeitsgericht: Aus der über Jahrzehnte in der Rechtsprechung bestätigten Tarifeinheit und dem Grundsatz, dass in einem Betrieb nur ein einziger Tarifvertrag anzuwenden ist, wurde auf Betreiben des Bundesarbeitsgerichts Tarifpluralität. Die Große Koalition reagierte mit dem umstrittenen Tarifeinheitsgesetz (TEG), das vom Bundesverfassungsgericht 2017 allerdings als weitgehend verfassungskonform bestätigt wurde, mit der Einschränkung, dass die Interessen von "Angehörigen kleinerer Berufsgruppen" nicht ausreichend berücksichtigt worden seien.

Neun Millionen Boni für die Bahn-Chefs

Weil gerade die Tarifkonflikte bei der Bahn für "großes Aufsehen und viel Ärger" sorgen, befasste sich die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) 2022 mit dem TEG. In drei Streikwellen seien damals "Züge stillgestanden, Lieferketten kurzfristig unterbrochen worden und Reisende mussten auf andere Transportmittel umsteigen". Der Konflikt bei der Bahn zeige zwar sehr deutlich die Verfassungskonformität des TEG, das aber "bislang keinen funktionsfähigen Rahmen" darstelle. Denn: "Die Grundidee des TEG besteht darin, die negativen Folgen der Gewerkschaftskonkurrenz abzubauen und Anreize für Kooperation aufzubauen." Insofern sei "das Gebot der Stunde wohl darin zu sehen, Prozesse und Maßnahmen zu suchen, die vertrauensbildend wirken, um eine neue, nachhaltige Kooperationskultur aufzubauen".

Die aktuelle Konfrontation spricht dafür, dass seither die Zeit nicht genutzt wurde. Von Vertrauensbildung kann kaum die Rede sein. Die grünen Minister Hermann oder Habeck sind noch zurückhaltend im Vergleich zu den Forderungen anderer. In der Union zieht der Vorschlag Kreise, dass mehrtägige Streiks im Bereich der kritischen Infrastruktur erst stattfinden dürften, wenn Schlichtungsverfahren gescheitert sind. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) beklagt, wie Steuermillionen vergeudet werden. Ein Argument, das ihm übrigens bei den saftigen Einkommenssprüngen unter Bahn-Vorständler:innen vor zwei Jahren von vier auf ganze neun Millionen Euro nicht eingefallen ist. Der CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz bescheinigt der GDL eine "übermäßige Inanspruchnahme des grundgesetzlich verbrieften Streikrechts". Es müsse darüber nachgedacht werden, "wie wir solche Streikexzesse künftig vermeiden". Der Faktencheck belegt dagegen, wie Deutschland noch immer am unteren Ende der europäischen Statistik liegt.

Und Populisten spucken Gift und Galle

Jan Fleischhauer, früher "Spiegel"-Redakteur, heute verlässlich rechtsaußen, rät der Bahn, mit jedem Streiktag das Gehaltsangebot um ein Prozent zu senken und die Arbeitszeit um eine Stunde zu erhöhen ("Sollen Weselsky und seine Leute doch streiken, bis sie grün im Gesicht werden"). Nikolaus Blome, ebenfalls einer der publizistischen Populisten, fragt rhetorisch, ob das noch Streik sei oder schon "eine Art Krieg". Jedenfalls wolle Weselsky "keinen Kompromiss, aus Prinzip, aus Wut, aus Rache, egal, genug ist genug". Ein Jungliberaler aus NRW namens Benedikt Becker empfiehlt sogar, das Streikrecht gleich ganz abzuschaffen, weil es keinen Platz in einer freiheitlichen Gesellschaft habe: "Wer mit seinen Arbeitsbedingungen unzufrieden ist, sollte sich wie ein mündiger Bürger verhalten, genügend Optionen abseits des Streiks hat er, abseits von Verhandlungen, Kündigungen, Jobwechseln und Weiterbildungen ist im Bürgergeld-Deutschland nun wirklich niemand gezwungen, arbeiten zu gehen." Wem das alles nicht reiche, "wer gegen eigens unterschriebene Verträge auf die Straße gehen will und das für ein Menschenrecht hält, dem kann man nur raten, die kindliche Trotzphase hinter sich zu lassen und Eigenverantwortung zu übernehmen".

Selbst solche Radikalisierung zieht ihre Kreise. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai findet, über eine generelle Einschränkung des Streikrechts in sensiblen Bereichen müsse jetzt gesprochen und "die maßlose Streikgier unterbunden" werden. Natürlich wollen weder Hermann noch Habeck solche Fantasien unterstützen – dennoch lenken sie Wasser auf die Mühlen der Falschen. Zum Beispiel jener, die nach der Verhältnismäßigkeit schreien und damit noch ein ganz anderes Signal in eine gefährliche Richtung stellen. Denn gerade die Verhältnismäßigkeit von GDL-Streiks, solchen von Verdi oder der Pilotenvereinigung Cockpit, wird regelmäßig von Gerichten bestätigt. Sogar aktuell hat die DB in zwei Instanzen einen Stopp nicht durchsetzen können. Wer unbeeindruckt nachkartet, rückt solche Urteile in ein schiefes Licht. Plumpes Justiz-Bashing verbietet sich aber, und komplizierte Fragen absichtlich und einseitig zu vereinfachen ebenfalls.

Gerade vernunftbegabten Grünen bietet sich als unkomplizierter Ausweg ein Telefonat mit einem Parteifreund. Frank Bsirske war 18 Jahre lang Verdi-Vorsitzender, zuvor war der Dezernent in Hannover, seit 2021 sitzt er im Bundestag und formuliert glasklar: "Es kann nicht sein, dass die recht bekommen, die sagen, der Missbrauch des Streikrechts beginnt damit, dass es gebraucht wird."

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


4 Kommentare verfügbar

  • bedellus
    am 21.03.2024
    Antworten
    ja - ich verstehe gut, warum man DIE gruenen nicht mag. das mehr als aergerliche besteht darin, dass das dann eben auch den voellig falschen als argumentationsbasis dient.
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!